Moderne Sklaverei
Während die Welt den Internationalen Tag der Arbeit feiert, sind Millionen von Menschen in Zwangsverhältnissen gefangen. Hoffnung für die "Irregolari" in Italien?
Ob auf Kaffee-Plantagen, auf Schrimps-Kuttern, in der Textilwirtschaft, im Bergbau, im Bau oder in der Fleischverarbeitung, Berichte über Sklaverei und Ausbeutung in den Lieferketten für die Produktion von Waren für die Industrieländer haben sich in den letzten Jahren auf erschreckende Weise normalisiert. Die moderne Sklaverei hat viele Gesichter und ist weit davon entfernt lediglich ein Relikt aus der vorkapitalistischen Zeit zu sein. Un(ter)bezahlte, unfreie Arbeit, die Ausbeutung von Lohnabhängigen ist Teil eines Wirtschaftens, das Arbeitskraft nach Preis, Leistung und Profit modelliert.
Auch der Tag der Arbeit bietet sich nicht mehr als Forum an, Arbeitsrechte für Stigmatisierte zu fordern. Wie viele Menschen heute in irgendeiner Form moderner Sklaverei leben, ist nicht exakt bekannt. Die letzten Schätzungen stammen aus dem Jahr 2016. Als Richtzahl gelten laut Global Slavery Index von 2018 40 Millionen Menschen. Davon befanden sich 24,9 Millionen in Zwangsarbeit, d.h. sie arbeiten gegen ihren Willen und unter Gewaltandrohung, Einschüchterung oder Nötigung, und 15,4 Millionen befinden sich in Zwangsehen.
Etwa 10 Millionen aller Sklaven weltweit machen Kinder aus. Weltweit sind schätzungsweise 152 Millionen Kinder im Alter zwischen 5 und 17 Jahren Opfer von Kinderarbeit und fast die Hälfte arbeitet unter gefährlichen Bedingungen, heißt es in dem Bericht.
"Wir glauben, dass die Schätzung von 40,3 Millionen die bisher zuverlässigsten Daten sind, obwohl wir sie für eine konservative Schätzung halten, da es Millionen von Menschen gibt, die wir in Konfliktgebieten oder auf Flüchtlingsrouten nicht erreichen konnten, ebenso an Orten, an denen wir nicht sicher sein konnten, dass die gesammelten Daten zuverlässig sind, wie z.B. in den Golfstaaten, wo uns der Zugang zu den Communities von Wanderarbeitern verhindert wird", sagte Michaëlle de Cock, von der ILO, der Internationalen Arbeitsorganisation der Vereinten Nationen.
Die ILO warnt davor, dass Zahlen aufgrund des Mangels an Informationen aus Schlüsselregionen in Afrika und Asien verzerrt sind. Besonders problematisch sind diese in den arabischen Staaten. Dort wurden bisher nur zwei nationale Erhebungen durchgeführt, von denen keine in den Ländern des Golf-Kooperationsrates (GCC) durchgeführt wurde, trotz des Vorkommens von Zwangsarbeit, über das dort aus verschiedenen Quellen in Bereichen wie Hausarbeit und Bauwesen berichtet wird.
Formen der Sklaverei
Sklaverei nimmt viele Formen an: Eine Person gilt heute als versklavt, wenn sie gezwungen wird, gegen ihren Willen zu arbeiten, wenn sie sich im Besitz oder unter der Kontrolle eines Ausbeuters oder "Arbeitgebers" befindet, wenn ihre Bewegungsfreiheit eingeschränkt ist oder wenn sie entmenschlicht, als Ware behandelt oder als Eigentum ge- und verkauft wird, so die Definition der Anti-Slavery International.
Von den 24,9 Millionen Menschen, die in Zwangsarbeit gefangen sind, arbeitet die Mehrheit (16 Millionen) in der Privatwirtschaft. Sklaven säubern Häuser und Wohnungen, stellen die Kleidung her, pflücken Obst und Gemüse, schippern die Meere nach den Garnelen ab, graben nach den Mineralien, die in Smartphones, Make-up und Elektroautos verwendet werden und arbeiten an Baujobs, um riesige Infrastrukturprojekte aufzubauen. Weitere 4,8 Millionen Menschen, die in Zwangsarbeit arbeiten, werden schätzungsweise sexuell ausgebeutet.
Doch Sklaverei, als Begriff antiquiriert, lebt als Phänomen in verschiedenen Formen von Ausbeutungsverhältnissen fort, in der die Hilflosigkeit und Notsituation jener ausgenutzt wird, die keine legalen Arbeitsverhältnisse eingehen dürfen. In Europa heißen sie "Illegale Einwanderer", in den USA "undocumented farmworkers". Ungezählt sind die Millionen, die zu miserablen Bedingungen in rechtsfreien Kontexten arbeiten, um zu überleben, auch wenn ihre Tätigkeit nicht in die Kategorie der "Zwangsarbeit" der ILO fällt. Eine Analyse der nationalen Schätzungen im Global Slavery Index bestätigt, dass "die moderne Sklaverei ein Verbrechen ist, das alle Länder weltweit betrifft, einschließlich - vielleicht überraschend - der hoch entwickelten Länder."
Arbeitsverträge für die "Irregolari"?
In Italien trägt das wirtschaftliche System, in dem Migranten leben, auf Italienisch den Namen "caporalato": eine illegale Form der Vermittlung von Schwarzarbeitern (vgl. Obstpflücker, Näherinnen und Software-Ingenieure). Die Arbeitskraftvermittler, Caporali, lesen "Irregolari" auf, Flüchtlinge ohne Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen, fahren sie auf die Felder und streichen Vermittlungsgebühren ein. Das Caporalato ist auf dem gesamten italienischen Territorium verbreitet, insbesondere im Obst- und Gemüsesektor des Südens und beim Bau des Nordens.
Der gewerkschaftsnahe Thinktank Osservatorio Placido Rizzotto schätzt den Umfang des Geschäfts in einer letztes Jahr erschienenen Studie auf 4,8 Milliarden Euro jährlich, etwa 16 % der Wertschöpfung des Agrarsektors. Die Bedingungen von Arbeitnehmern, die in der Landwirtschaft ausgebeutet werden: kein Schutz und kein Recht, das durch Verträge und Gesetze garantiert wird; ein Durchschnittslohn zwischen 20 und 30 Euro pro Tag, bei bis zu 12 Stunden Schwerstarbeit, für 25-26 Tage im Monat.
Aktuell wird in Italien daran gearbeitet, die Irregolari ins wirtschaftliche Leben einzugliedern. "Wir arbeiten an einem Plan zur Legalisierung dieser Ausländer", sagte Landwirtschaftsministerin Teresa Bellanova nun im April. "Schätzungen zufolge gibt es 600.000 irreguläre Arbeitnehmer, die häufig ausgebeutet werden und in Italien für das Verbrechen arbeiten, das wir als Caporalato bezeichnen, was für mich Mafia bedeutet. Entweder ist es der Staat, der das Leben dieser Menschen übernimmt, oder es ist es organisiertes Verbrechen."
Der Agrarverband Coldiretti geht davon aus, dass wegen des Reiseverbots im Zuge der Covid-19-Krise viele einheimische Saisonarbeiter fehlen. 1,1 Millionen Personen sind in der italienischen Landwirtschaft beschäftigt, 350.000 sind Saisonarbeiter.
"In unserem Land gibt es über 346.000 Arbeiter aus 155 verschiedenen Ländern. Mit über 30 Millionen Arbeitstagen machen sie 26,2% des gesamten Arbeitsbedarfs auf dem italienischen Land aus. Unsere Landwirtschaft ist daher auch ein großartiges Labor für Integration", so Bellanova. "Einwanderer sind keine Feinde, wir brauchen sie."