Morales gegen die Macht

Boliviens Regierung will der indigenen Mehrheit mehr Rechte geben. Doch die Oberschicht wehrt sich

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Geht es nach der Opposition in Bolivien, hat die Regierung von Präsident Evo Morales keine Option. Die sozialistische Staatsführung soll von ihrem Projekt einer Verfassungsreform Abstand nehmen. Kommt sie der Forderung nicht nach, drohen ihre Widersacher mit der Sezession mehrerer Regionen im Osten des Landes. Der Konflikt droht jederzeit zu eskalieren.

Die Spaltung wurde am vergangenen Samstag offensichtlich. Während Präsident Evo Morales in La Paz vor zehntausenden Anhängern die neue Verfassung des Landes feierte, gingen im Osten des Andenstaates seine Gegner auf die Straße. In vier der insgesamt neun Departements riefen die Gouverneure eine „De-facto-Autonomie“ aus. Die Reform von Verfassung und Staat wollen sie um keinen Preis akzeptieren. Statt dessen arbeiteten die mächtigen Lokalregierungen in den Landesteilen Tarija, Santa Cruz, Pando und Beni in aller Eile „Autonomiestatute“ aus, über die sie nun abstimmen lassen wollen. Zwar berufen sich die Oppositionellen auf Verfassung und Recht, doch ihr Vorgehen strapaziert das Souveränitätsprinzip bis zum Äußersten. Zudem ist seit Amtsantritt von Evo Morales im Januar 2006 klar, dass seine politischen Gegner das Reformprojekt auf keinen Fall akzeptieren werden.

Über ein Jahr hinweg hat die stärkste Oppositionspartei Podemos die Arbeit der verfassungsgebenden Versammlung boykottiert (In schlechter Verfassung). Sie nutzte die Mehrheitsregelung konsequent, um über ein Jahr hinweg jede Entscheidung zu verhindern. Zunächst wurden Formfragen vorgeschoben, dann rückten die Oppositionellen die Debatte um eine Verlegung der Hauptstadt von La Paz in die alte Kapitale Sucre in den Vordergrund (Bolivien: Hauptstadt-Streit dient als Blockade für neue Verfassung).

Als der Streit eskalierte, zogen sich die Gegner der regierenden „Bewegung zum Sozialismus" vor wenigen Wochen aus dem Verfassungskonvent zurück. Die verbleibenden 167 (der insgesamt 225) Mitglieder verabschiedeten daraufhin den neuen Verfassungstext. Die mangelnde Legitimation soll durch einen Volksentscheid im kommenden Jahr ausgeglichen werden. Doch auch dagegen stellt sich die Fronde zu Morales quer (Konflikte in Bolivien gehen nach Verabschiedung der Verfassung weiter). Im Konsens scheint der Konflikt kaum mehr zu lösen.

Feiern und Gegenfeiern

Das einzige Ziel der Opposition sei gewesen, die verfassungsgebende Versammlung zum Scheitern zu bringen, erklärte Morales bei den Feiern der neuen Verfassung vom Balkon des Regierungssitzes „Palacio Quemado“ aus. Es sei unvorstellbar, wie im 21. Jahrhundert „einige Familien und einige Gruppen, die zum Glück nicht in der Mehrheit sind“, Mitglieder des Verfassungskonvents angriffen und sich vehement gegen den angestrebten sozialen Wandel stellten. Seine Widersacher in der Versammlung forderte er auf, ihr Gehalt an den Staat zurück zu zahlen:

Sie haben die verfassungsgebende Versammlung verlassen, also haben sie ihr Gehalt bezogen, ohne dafür zu arbeiten. Wenn sie einen Rest an Moral besitzen, dann sollten sie dieses Geld an den Staat zurückzahlen, denn hier sollte arbeiten, wer Geld erhält.

Evo Morales

Die Opposition in den abtrünnigen Provinzen versuche mit ihren Autonomiebestrebungen das Land zu spalten. So sollte in den dissidenten Departements eigene Polizeieinheiten aufgebaut werden. „Einige Separatisten“, so Morales, „haben auch zur Armee Kontakt aufgenommen“, um Hilfe zu erbitten. Doch die Streitkräfte würden einem solchen Aufruf zum Staatsstreich nicht nachkommen. Wie viel Gewissheit und wie viel Hoffnung in dieser Einschätzung liegt, ist derzeit schwer einzuschätzen.

Im gegnerischen Lager zeigen solche Stellungnahmen wenig Wirkung. Unbeeindruckt von den Warnungen aus La Paz feierten die Anhänger der Opposition in den östlichen Provinzen ihre "Autonomiestatute". In Santa Cruz nahm ihr Wortführer, Gouverneur Rubén Costas, ein entsprechendes Dokument mit 155 Artikeln entgegen. Sie waren zuvor von Mitgliedern der so genannten Bürgerkomitees verfasst worden.

Die Gruppierungen hatten sich in einer "Provisorischen Autonomieversammlung" zusammengeschlossen, ohne dass sie sich einer Wahl hätten stellen müssen. Es sind als Gremien, die, anders als die Mitglieder der zuvor boykottierten verfassungsgebenden Versammlung, im Grunde keine Legitimität besitzen. Trotzdem wollen die Regierungskritiker mit ihren Statuten ähnlich umgehen, wie die Regierung mit der neuen Verfassung: Sie sollen in Referenden zur Abstimmung gestellt werden (Bolivien: Morales geht in die Offensive). Schon jetzt machten die Organisatoren in Santa Cruz, Tarija, Pando und Beni aber klar, dass sie diese Volksabstimmungen selber organisieren und durchführen wollen.

Soziale und ethnische Spaltung

Der Konflikt in Bolivien ist derart verfahren, weil er nicht nur zwischen den klassischen politischen Lagern, sondern vor allem auch entlang ethnischer und sozialer Trennlinien verläuft. Während sich die Regierung im westlichen Andenhochland auf die dort ansässige indigene Bevölkerungsmehrheit stützt, stammt die gesellschaftliche Elite im östlichen Tiefland zu einem bedeutenden Teil von europäischen Einwanderern ab. Kein Wunder also, dass es dort in den vergangenen Wochen wiederholt zu rassistisch motivierten Angriffen auf indigene Einwohner (mit dunkler Hautfarbe) kam. Am Wochenende wurden in Santa Cruz bei Zusammenstößen beider Lager 32 Menschen zum Teil schwer verletzt. Solche Auseinandersetzungen könnten ein Vorgeschmack auf größere Konflikt bieten.

Zum anderen stehen konkrete soziale Interessen im Vordergrund. Denn in der östlichen Region, die wegen der sichelförmigen Anordnung der vier abtrünnigen Departements als "Halbmond" bezeichnet werden, konzentrieren sich viele der natürlichen Ressourcen, vor allem Erdgas und Erdöl. Der Kampf um Veränderung oder Beibehaltung der administrativen Ordnung des Landes ist also vor allem ein Kampf um die Kontrolle dieser Reichtümer. Denn mit der reformierten Verfassung würde die von den östlichen Departements zuletzt forcierte Privatisierung nicht nur verboten. Die Einkünfte aus dem Geschäft würden auch in gleichen Teilen an alle Landesteile vergeben.

Die Privilegien der Oligarchie würden auch durch andere Regelungen angegriffen. So soll die Immunität für Parlamentsmitglieder aufgehoben werden. Schon nach der Wahl Morales' im Januar war es zu einem Konflikt gekommen, als der neue Präsident das Gehalt der Mandatsträger auf den Durchschnittslohn senkte. Viele Oppositionsabgeordnete beklagten daraufhin in völlig übertriebener Wese, nicht mehr genug Nahrung für ihre Familien kaufen zu können. Zu spät erst merkten sie, dass sie damit der Forderung des Regierungslagers nach sozialen Reformen indirekt beipflichteten.

So geht es in der novellierten Konstitution weiter: Die 36 indigenen Gruppen werden offiziell anerkennt, ihre Idiome werden zu Amtssprachen aufgewertet, ausländische Militärpräsenz wird verboten, Großgrundbesitz an soziale Kriterien gebunden. In der ersten Hälfte des kommenden Jahres sollen alle Bolivianer in einem Referendum über die Neuerungen entscheiden. Dann wird sich zeigen, ob der Konflikt entschärft werden kann. Andere Möglichkeiten bleiben der Regierung dann kaum mehr.