Bolivien: Hauptstadt-Streit dient als Blockade für neue Verfassung

Prügel der Parlamentarier im Kongress und Krawalle zwischen Demonstranten und Polizei auf der Straße

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Die Opposition gegen Evo Morales hat erfolgreich einen neuen Nebenkriegsschauplatz eröffnet, um die Verfassungsgebende Versammlung erneut zu blockieren. Die Frist zur Ausarbeitung der neuen Verfassung zur "Neugründung Boliviens" war gerade erst bis Dezember verlängert worden, doch mit Krawallen hat die bolivianische Rechte eine Aussetzung der Sitzungen erreicht. Populistisch wird vorgeschoben, dass Sucre den vollen Hauptstadtstatus erhält und die Exekutive und Jurisdiktion vom Regierungssitz in La Paz dorthin verlegt werde. So kam es am Mittwoch (Ortszeit) in Sucre zu Straßenschlachten zwischen Polizei und Anhängern der Opposition, die Jagd auf Teilnehmer des Konvents machen, und in La Paz gingen im Kongress die Parlamentarier mit Fäusten und Fußtritten aufeinander los .

Vordergründiger Anlass für die gewalttätigen Proteste in der Hauptstadt Sucre war die Tatsache, dass die dort tagende Verfassungsgebende Versammlung letzte Woche einen Antrag mit absoluter Mehrheit abgelehnt hat, die Diskussion über die Hauptstadt auf ihre Tagesordnung zu setzen. Gefordert wird, auch den Regierungssitz vom nördlicher gelegenen und indigen geprägten La Paz ins reichere und südliche Sucre zu verlegen. Dort hat noch der Oberste Gerichtshof seinen Sitz, die Regierung und Exekutive befinden sich aber in der Großstadt La Paz. Diese Teilung besteht seit 1899, denn in der Andenstadt leben 1,7 Millionen Menschen, während es in Sucre nur 250.000 sind.

So ist nachvollziehbar, dass es der Verfassungskonvent ablehnte, sich mit der Frage zu befassen. Derlei Fragen würden nicht durch eine Verfassung definiert, weshalb sich das Parlament damit beschäftigen solle. Neben den Vertretern von Evo Morales "Bewegung zum Sozialismus" (MAS) stimmten auch weniger aggressive Oppositionspolitiker gegen das Vorhaben. Vorgetragen wird das Anliegen von den Vertretern aus dem Departement Chuquisaca, in dem Sucre liegt. Die Lokalpolitiker erhoffen sich eine weitere Stärkung des relativ reichen Departements. Gestützt wird die Forderung auch von mehreren Dutzend der 255 Mitglieder des Verfassungskonvents, die aus den vier reichen Provinzen im Südosten des Landes stammen. Die von der Opposition regierten Departements Santa Cruz, Tarija, Beni und Pando haben bisher alles getan, um Veränderungen am Status Quo zu blockieren (Opposition lehnt sich gegen Regierung in Bolivien auf). Nachdem Morales ihre Blockadefront aufbrechen konnte und Autonomieregelungen in Aussicht stellte, änderten diese kurzzeitig ihr Verhalten und versuchten die Verfassungsgebende Versammlung von innen zu blockieren. Das Aufspringen auf den Zug um die Hauptstadtfrage ist die Rückkehr zur alten Blockadepolitik, um die Ausarbeitung der neuen Magna Charta zu verhindern (In schlechter Verfassung).

Das Vorgehen der Opposition wird zunehmend aggressiver. Letztlich führten die Krawalle am Mittwoch dazu, dass die Sitzungen des Verfassungskonvents erneut ausgesetzt werden mussten. Weil die Sicherheit der indigenen Mitglieder in Sucre offenbar nicht gewährleistet werden kann, wird überlegt, auch sie nach La Paz zu verlegen, damit die Opposition ihr Ziel verfehlt, eine Verabschiedung der Verfassung bis Dezember unmöglich zu machen. Die soll vor allem die Rechte der indigenen Bevölkerung stärken und die Landreform und die Nationalisierung der Bodenschätze des Landes absichern, damit die Gewinne endlich einem der ärmsten Länder Lateinamerikas zu gute kommen.

Krawalle in Sucre

Gegen die demokratische Umgestaltung des Landes begehrt die Opposition auf. Regierungskritische Gruppen belagerten am Mittwoch das Gran-Mariscal-Theater in Sucre, um die Sitzung des Verfassungskonvents zu verhindern. Als Teilnehmer versuchten, in den Saal zu gelangen, kam es zu gewaltsamen Übergriffen. Sowohl die Nachrichtenagentur Bolpress als auch das unabhängige und alternative Nachrichtenportal Indymedia sprechen von einer rassistischen Menschenjagd, die sich vor allem gegen die indigenen Teilnehmer des Verfassungskonvents richtete. Ignacio Mendoza von der MAS wurde von einem Mob verfolgt, der ihm auch in Privathäuser nachsetzten und diese zum Teil plünderte. Den Vorgang hat die Nachrichtenagentur Efe auf Bildern dokumentiert.

Berichtet wird auch von Angriffen der Opposition auf Büros von indigenen und sozialer Organisationen, die der Regierung von Morales nahe stehen. Die Büros wurden zum Teil zerstört, die Insassen flüchteten. Die Regierung macht Studenten aus dem Departement Santa Cruz als Drahtzieher für die Krawalle verantwortlich. Sie verfüge über Fotos und Videoaufnahmen, um ihre Anklagen zu stützen. Hinter den Angriffen stehe die "Unión Juvenil Cruceñista", deren Mitglieder nach Sucre gekommen seien, um die "Vandalenakte" durchzuführen. Das so genannte Bürgerkomitee aus Santa Cruz habe das Komitee in Sucre instruiert, eine Welle von Konflikten loszutreten, um zu einer Aussetzung des Verfassungskonvents zu kommen. Das ist zunächst gelungen, die Präsidentin Silvia Lazarte hat die Versammlungen ausgesetzt, solange die Sicherheit der Teilnehmer nicht gewährleistet ist.

Etwa 300 Personen versuchen zudem, mit einem Hungerstreik den Druck zu verstärken. Die Bürgerkomitees spitzten die Lage derweil weiter zu und setzten der Regierung und dem Verfassungskonvent ein Ultimatum. Sollte die Versammlung ihren Beschluss zur Hauptstadtfrage nicht rückgängig machen, werde ab Freitag regional gestreikt und der Konvent erneut boykottiert. Nach Angaben von Nachrichtenagenturen beteiligen sich am Streik in Sucre am Freitag Banken, Märkte und die öffentlichen Verkehrsmittel. Ob es aber um einen Streik der Beschäftigten handelt oder um eine Schließung von Seiten der Direktionen, ist unklar. Der Boykott, gepaart mit einem Streik und einer Blockade, hat zum Ziel, die Verfassungsgebende Versammlung durch ein fehlendes Quorum arbeitsunfähig zu machen.

Saalschlacht im Parlament

Alles spricht dafür, dass es sich um ein geplantes und koordiniertes Vorgehen handelt. Denn ähnliches zeigte sich auch im Parlament in La Paz. Gleichzeitig zu den Krawallen in Sucre versuchte im Kongress die Opposition ihre Positionen ebenfalls mit dubiosen Mitteln gegen die Mehrheit durchzusetzen. Sie versuchten eine Abstimmung zu verhindern, was zu einer Saalschlacht führte, bei der einige Abgeordnete leicht verletzt wurden. Es ging um die Entscheidung, ob der Kongress ein Verfahren gegen vier Verfassungsrichter wegen Amtsmissbrauch einleitet.

Denn die Richter hatten das Dekret von Morales teilweise zurückgenommen, um freie Stellen am Obersten Gerichtshof zu besetzen. Mit der Ernennung per Dekret sollten die das Verfahren gegen den Ex-Regierungschef Gonzalo Sánchez de Lozada vorantreiben, der für ein Massaker in El Alto verantwortlich gemacht wird. Etwa 100 Menschen wurden im Oktober 2003 ermordet, als die Sicherheitskräfte mit äußerster Brutalität gegen die streikende und demonstrierende Bevölkerung vorgingen. Die drittgrößte Stadt des Landes hatte sich zum Aufstandsherd entwickelt (Krise in Bolivien vertagt). Die Bevölkerung protestierte gegen die Privatisierungspolitik, die zum Ausverkauf des Landes führte und von der damaligen konservativen Regierung durchgezogen wurde. Die Protestwelle hatte kurz zuvor zum Sturz der Regierung unter Carlos Mesa geführt), auf ihr konnte Morales dann zu seinem grandiosen Wahlsieg 2005 reiten.

Doch, wie im Rahmen der Verfassungsänderung, versuchen die alten Kräfte auch eine Reform im Justizsektor und die Bestrafung der Verbrechen der Vorgängerregierungen zu verhindern. Die Ernennung hatten die Verfassungsrichter auf 60 Tage begrenzt, womit ein solches Verfahren unmöglich wurde. Deshalb sollte im Kongress am Dienstag darüber entschieden werden, ein Verfahren wegen Amtsmissbrauch gegen diese Verfassungsrichter einzuleiten, was zu ihrer temporären Suspendierung führte. Das suchte die Opposition mit Krawall zu verhindern.

Allerdings zog sich die Mehrheit der Parlamentarier wegen der Angriffe in ein anderes Gebäude zurück und beschloss den Antrag mit 61 von 68 Stimmen positiv. Die Opposition erklärte, dass damit das Verfassungsgericht ausgehebelt werde. Hätte sie ein Interesse am Funktionieren der Institutionen, könnten bis zur endgültigen Entscheidung Vertreter gewählt werden. Doch daran hat sie offenbar kein Interesse, sondern versucht vielmehr zu zeigen, dass sich das Land ins Chaos entwickelt, wozu vor allem sie beiträgt. Die Minderheit hielt deshalb auch eine Parlamentssitzung ab, worin vor allem die Abgeordneten der Partei Podemos die Einstellung des Verfahrens gegen die Verfassungsrichter beschlossen. Natürlich geschah dies ohne das Wissen der Parlamentspräsidentschaft.

In diese koordinierte Strategie ist auch die US-Botschaft verwickelt. Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet jetzt der US-Botschafter in Bolivien vor dem steigenden "Anbau von Koka und dem Drogenhandel" warnte. Dabei vermischt Philip Goldberg wissentlich zwei Sachen. Morales, der selbst Koka-Bauer war, toleriert den Konsum der Koka-Blätter, der in dem Land Tradition hat, aus dem auch Tee und andere Produkte hergestellt werden, geht aber gleichzeitig gegen Handel und Produktion von Kokain vor. Für den Präsidenten, der weiter Vorsitzender einer Organisation von Koka-Bauern ist, stellt der Anbau von Koka-Pflanzen an sich kein Problem dar, weshalb die Anbaufläche von 12.000 Hektar auf 20.000 Hektar erhöht werden soll.

Das wirft der US-Botschafter bewusst durcheinander und setzt Koka-Anbau und Drogenhandel gleich, um die Regierung Morales zu diskreditieren. Washington erklärt, die Produktion des Primärguts Koka-Pflanze ziehe einen Anstieg der Produktion der Droge Kokain nach sich: "Das Problem des Drogenhandels wird immer größer", sagte deshalb Goldberg. Kurz vor den Äußerungen des Botschafters hatte die bolivianische Polizei am Montag zudem gerade ein paraguayisches Flugzeug in Santa Cruz durchsucht, in dem 123 Kilogramm Kokain sichergestellt wurden. Bolivien weist die Vorwürfe zurück und hat den Botschafter inzwischen einbestellt.

Bolivien steht nun bis Dezember eine heiße Phase bevor. Denn die Organisationen, die Morales Regierung tragen, kündigen angesichts der Angriffe auf die Reformen Widerstand an. Gedroht wird zum Beispiel damit, Sucre komplett einkesseln. Immer wieder waren diese Blockaden von Städten ein effektives Mittel zur Durchsetzung politischer Positionen. So wurde 2005 verhindert, dass Hurmando Vaca Diez als Nachfolger von Carlos Mesa das Präsidentenamt antritt. Zu rechnen ist auch mit Massenmobilisierungen für Präsident Evo Morales und für die Ausarbeitung der Verfassung. Sie ist das Herzstück zur Reform des Landes, wie sie die große Mehrheit fordert.