Krise in Bolivien vertagt
Die Opposition ist stark und fordert weiterhin die Verstaatlichung des lukrativen Energiesektors
Nach dem Rücktritt von Präsident Carlos Mesa und der Vereidigung des Übergangspräsidenten Eduardo Rodríguez ist die schwere Krise in Bolivien nur entschärft. Auch mit der Aussetzung der Besetzung von Anlagen der Ölmultis BP und Repsol ist die wichtigste Frage nur aufgeschoben und nicht aufgehoben. Zentraler Inhalt der seit zwei Jahren andauernden Proteste ist der Ausverkauf der Energiereserven. Die Wiederverstaatlichung des privatisierten Energiesektors wird gefordert.
Am Mittwoch (Ortszeit Bolivien) hat der neue Präsident Eduardo Rodríguez seine Übergangsregierung vorgestellt. Der Akt im Regierungspalast in der Hauptstadt La Paz war begleitet von dem Wiederaufflammen neuer Proteste. In seiner Regierung, die bis zu den vorgezogenen Neuwahlen im Amt ist, befinden sich zwei Minister der früheren Regierung. Die drei wichtigen Ministerien für Ökonomische Entwicklung, Nachhaltige Entwicklung und das Ministerium für Landwirtschaft blieben noch unbesetzt. Neubesetzt wurde auch die Führung der Streitkräfte. Rodríguez will die „demokratische Ordnung sichern“ und einen Wahlprozess einleiten, damit die „Bevölkerung an den Urnen eine Vertretung bestimmt, die ihre Forderungen vertritt“, sagte er im Rahmen der Vereidigung.
Er versucht die Volksbewegung zu beruhigen, denn die zentrale Frage der Proteste, die Wiederverstaatlichung des Energiesektors, bleibt weiter offen. Rodríguez hat sich inzwischen auch mit Vertretern der Bewegung in El Alto getroffen. Die Stadt nahe am Regierungssitz in La Paz bot in den letzten Wochen die Bühne für zahlreiche Proteste. Dabei bekam der Interimspräsident das Selbstbewusstsein zu spüren, dass die Bewegung in den letzen zwei Jahren mit dem Sturz von zwei Regierungen gewonnen hat. „Wir bitten Sie nicht, sondern wir fordern die Wiederverstaatlichung der natürlichen Ressourcen wie Gas, Wasser und Land“, sagte Gualberto Choque. Er ist Führer der starken Organisation Tupac Katari. Sie vertritt einen großen Teil der indigenen Landbevölkerung, die in Bolivien noch immer die Mehrheit der Bevölkerung stellt. So ist nur logisch, wenn die fordert, dass sich dies auch im Parlament wieder spiegelt. 50 Prozent der Sitze sollen diesem Teil der Bevölkerung vorbehalten sein, forderte Choque, denn bisher beherrsche die weiße Oberschicht die Politik.
Angesichts der Stärke der Bewegung versucht der Übergangspräsident Zeit zu gewinnen. Er will die Frage der Verstaatlichung auf die Zeit nach den Neuwahlen verschieben. Doch die Kritik daran wächst, dass er noch immer keinen Wahltermin bestimmt hat. So ist zu erwarten, dass die Proteste wieder stärker werden. Denn schließlich hatte die Volksbewegung nach der Ernennung von Rodríguez als Vertrauensvorschuss nur eine „Waffenruhe“ erklärt. Die hatte auch damit zu tun, das viele Menschen ausgebrannt waren.
Denn ereignisreiche Tage lagen hinter ihnen, als am vergangenen Donnerstag in der historischen Hauptstadt Sucre die Übergangsregierung eingesetzt werden konnte. Zuvor war die Lage eskaliert, als der frühere Präsident Carlos Mesa stürzte (Mit dem Rücken zur Wand). Evo Morales, Führer der größten Oppositionspartei Bewegung zum Sozialismus (MAS) hatte vor einem Putsch gewarnt, weil ein Bündnis aus rechten Parteien und Teilen des Militärs den Senatspräsidenten Hormando Vaca Díez als Staatschef einsetzen wollten. Das Militär hatte angekündigt, es würde die „Ordnung“ auch mit Waffengewalt verteidigen. Weil Barrikaden und Demonstrationen eine Parlamentssitzung in La Paz verhinderten, berief Díez die Versammlung in Sucre ein.
Doch vielen in Bolivien war klar, was Díez als Präsident bedeutet hätte: Eine Politik der eisernen Faust. Er wollte mit Unterstützung des Militärs aufräumen. „Das Land blutet aus, wir müssen handeln“, hatte er erklärt. Das erinnerte viele mit Schrecken an das Jahr 2003, als der damalige Präsident Gonzalo Sánchez de Lozada auf Demonstranten schießen ließ. Mehr als 60 Tote waren die Folge, bevor aus dem Amt gejagt wurde.
Um ein solches Szenario zu verhindern, blies die gesamte Opposition zum Marsch auf Sucre. Als das Militär auf Bergarbeiter schoss, kam es zu Straßenschlachten, bei denen ein Bergmann getötet und vier weitere verletzt wurden. Angesichts der massiven Gegenwehr gab Díez im Tausch für die Aufhebung der Blockaden auf. Nur fünf Minuten hatte die Parlamentssitzung gedauert, in welcher der Rücktritt von Mesa angenommen und mit Rodríguez der bisherige Präsident des Obersten Gerichtshofs zum neuen Staatschef ernannt wurde.
Wie 2003 stürzte erneut eine Regierung über ihre neoliberale Politik, die auf den Ausverkauf des Reichtums des Landes setzt. Und darüber könnte auch die Interimsregierung stürzen. Zwar wurden die Besetzungen der Anlagen der Energiekonzerne British Petroleum (BP) und der spanischen Repsol-YPF wieder aufgehoben, als der MAS-Chef Morales nach der Einsetzung von Rodríguez zum Rückzug blies. Doch sollte sich an der Frage der Verstaatlichung nicht bald etwas tun, werden es die Energiemultis sein, die sofort ins Blickfeld der Volksbewegung geraten.
Dass der neue Ölminister Jaime Eduardo Dunn heißt, wird die Bewegung ebenfalls nicht beruhigen. Der machte mehr oder weniger offen klar, dass er nicht an eine Wiederverstaatlichung denkt. „Wir garantieren nichts“, erklärte er nach seiner Vereidigung. Die Zeitung El Diario macht darauf aufmerksam, dass Dunn ja ausgerechnet einer von denjenigen ist, die an der Privatisierung beteiligt waren. Unter der Regierung von Hugo Banzer Suárez war er Leiter der staatlichen Ölgesellschaft YPFB und unterschrieb die Verträge über das geteilte Risiko. Damit, und über die Gesetze 1.689 und 1.731, wurde die staatliche Ölgesellschaft zerschlagen. Er habe auch an der Privatisierung der Raffinerien und anderer Anlagen teilgenommen.
Von dieser Privatisierung profitierte ein alter Bekannter, der des Öfteren im Schlaglicht von Staatskrisen auftaucht. Der spanische Ölmulti Repsol-YPF, der aus der Übernahme der argentinischen YPF durch die spanische Repsol entstand, war schon bei der Krise in Argentinien heftig angegriffen worden (Argentiniens Regierung im Konflikt mit Ölmultis). In Bolivien hatten sich die Proteste vor allem an einem umstrittenen Gasprojekt entwickelt, das vom Konsortium Pacific LNG vorangetrieben wird. Bis 2036 sollen die Verträge laufen, bis die Gasreserven, die zweitgrößten in Südamerika, faktisch aufgebraucht wären. Auch von den geschätzten 480 Millionen Barrel Öl bliebe dann nichts mehr übrig. Wegen der „wilden Ausbeutung“ und der „Umweltschäden“ bliebe das ohnehin arme Land aber auf den entstandenen sozialen Kosten sitzen, während die Konzerne reich würden, führen die Kritiker schon vor zwei Jahren an. Repsol machte im ersten Quartal 2005 fast eine Milliarde Euro Nettogewinn, fast 40 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum.
Zu alle dem kommen Ressentiments gegen Chile. Denn das Gas aus dem umstrittenen neuen Projekt, das im nächsten Jahr starten sollte, wird zunächst dorthin geliefert. Bevor es dann vor allem in die USA geht, soll es in einer Anlage an der Pazifikküste verflüssigt werden. Die liegt auf einem Gebiet, das Bolivien seit dem Salpeterkrieg von 1879/80 für sich beansprucht.