Mordanschlag in Solingen: Kein rechter Terror?
Vier Tote durch Brandstiftung. Opfer mit Migrationshintergrund und offene Fragen. Heißt die Devise der Behörden: Bloß kein politisches Motiv?
"Adalet, Adalet", skandierten viele der knapp 700 Menschen auf der Trauerkundgebung in Solingen. Mit dem türkischen Wort für Gerechtigkeit erinnerten sie an die vier Menschen, die am Morgen des 25. März bei einem Brand in einem Mehrfamilienhaus in der Stadt gestorben sind. Es handelt sich um eine Familie mit ihren zwei Kindern, die vor einiger Zeit von Bulgarien nach Deutschland gezogen war.
Sie wurden Opfer eines Brandanschlags, wie es in der Presseerklärung von Polizei und Staatsanwaltschaft Wuppertal heißt:
Da im Treppenhaus des betroffenen Gebäudes Reste von Brandbeschleuniger festgestellt wurden, muss von einer vorsätzlichen Brandstiftung ausgegangen werden. Es wird unter anderem wegen Mordes und versuchten Mordes ermittelt. Eine eingerichtete Mordkommission (MK Grün) ermittelt ergebnisoffen.Einen Tatverdacht gegen eine konkrete Person liegt bislang nicht vor. Anhaltspunkte für ein fremdenfeindliches Motiv gibt es aktuell nicht.
Aus der Presseerklärung von Polizei und Staatsanwaltschaft Wuppertal
Der letzte Satz sorgte bei den Menschen für Kritik, die sich nach dem Brandanschlag an Trauerkundgebungen in Solingen beteiligten. Schon der Begriff "fremdenfeindlich" ist nicht passend. Aber es sollte verstärkt nach rassistischen Hintergründen gesucht werden, wenn Migrantinnen und Migranten bei einer Brandstiftung ums Leben kommen.
Schon einmal Solingen: Fünf Tote vor mehr als 30 Jahren
Das ist auch eine Lehre aus den letzten Jahrzehnten in Deutschland. Besonders in den Jahren nach der Wiedervereinigung schnellte die Zahl der Brandstiftungen in vielen Teilen der Republik in die Höhe, in der Regel waren die Täter Neonazis. Bei einem dieser Brandanschläge kamen am 30. Mai 1993 – ebenfalls in Solingen – fünf Menschen ums Leben.
Ihre Namen sind Gürsün İnce, Hatice Genç, Gülüstan Öztürk, Hülya Genç und Saime Genç. Mevlüde Genç, eine der Überlebenden, rief bis zu ihrem Tod zu Versöhnung und Toleranz auf. Im vergangenen Jahr war zum 30. Jahrestag des Anschlags auch der Bundespräsident an Ort und Stelle. Eine engagierte Zivilgesellschaft sorgte dafür, dass das rassistische Verbrechen nicht vergessen wird.
Verurteilte aus der rechten Szene bestreiten heute die Tat
Doch auch drei der vier Männer aus dem rechten Milieu, die zu langjährigen Haftstrafen verurteilt waren, haben sich Briefen geäußert und die Tat bestritten. Sie inszenierten sich als die eigentlichen Opfer.
Wenn nun 31 Jahre später erneut in Solingen bei einer Brandstiftung Migranten sterben, ist höchste Aufmerksamkeit geboten. Natürlich ist noch nicht bewiesen, dass die Brandstiftung einen rechten Hintergrund hat. Aber genau deshalb sollte besonders intensiv auch in diese Richtung ermittelt werden.
Ein vorübergehend festgenommener Mann musste wieder freigelassen, weil er ein Alibi hatte. In der Presse wurde bereits behauptet, damit wäre die Brandstiftung als Beziehungstat einzustufen gewesen, ein rassistisches Motiv also ausgeschlossen.
Bloß kein politischer Hintergrund, bloß kein rassistisches Motiv?
Da kann schnell das Gefühl aufkommen, dass die größte Sorge der Behörden nicht die traurige Tatsache ist, dass vier Menschen bei dem Brand ums Leben kamen, sondern dass die Tat einen politischen Hintergrund haben könnte.
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Das kennen wir von den Brandanschlägen der 1990er-Jahre. Da wurden zunächst immer unpolitische Zusammenhänge konstruiert. Nach einem Brandanschlag auf eine Unterkunft für Asylsuchende 1996 in Lübeck wurde zunächst einer der Bewohner, Safwan Eid, angeklagt, aber freigesprochen. Nachdem konsequent in die falsche Richtung ermittelt worden war, konnte für diesen Brandanschlag bis heute niemand verurteilt werden.
Opfer als Verdächtige: Erinnerungen an die Mordserie des NSU
Auch Erinnerungen an die Mordtaten des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) werden bei dieser Gelegenheit wach. Fast immer wurden zunächst die Opfer als Täter verdächtigt und von der Polizei auch so behandelt.
Damals gingen die Freude der Opfer und Menschen aus der betroffenen migrantischen Community schon einige Jahre vor Bekanntwerden NSU in Kassel und Dortmund auf die Straße und forderten nach neun offensichtlich rassistisch motivierten Morden: "Kein zehntes Opfer". Außerhalb der migrantischen Szene blieb die Beteiligung äußerst gering.
Nach der Selbstenttarnung des NSU haben viele Menschen bedauert, nicht früher auf das migrantische Wissen gehört zu haben. Nie wieder, so hieß es damals, soll nach solchen Anschlägen die Stimme der Opfer vergessen werden. Doch nach dem Brand in Solingen kann man sagen, dass die Vorsätze nicht in die Praxis umgesetzt wurden.
Betroffene fast unter sich: Keine Lehren aus dem NSU-Terror?
Wie vor Jahren blieb auch im Fall von Solingen die migrantische Community weitgehend unter sich. Da lohnt sich schon zu fragen: Wo sind nach den großen Manifestationen gegen Rechts, die in den letzten Wochen stattgefunden haben, die Menschen, die sich in Solingen mit den Opfern eines Brandanschlags solidarisieren?
Rassistische Meinungsmache: Wenn aus Worten Taten werden
Die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes / Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) fordert in eine schnelle Aufklärung. Dort heißt es:
Trotz aller gegenteiligen Erkenntnisse aus den letzten 34 Jahren wissen Behörden und Politik immer noch vor Beginn der Ermittlungen, dass rassistische Motive von Schlägern, Messerangreifern und Brandstiftern, denen Menschen mit vermutetem Migrationshintergrund zum Opfer fallen, nicht erkennbar sind.
VVN-BdA
Allerdings bleibe die rassistische Meinungsmache – vom AfD-Stichwort "Remigration" bis zur Ankündigung von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) "im großen Stil abzuschieben" – nicht ohne Wirkung.
Daraus erwachse eine reale Gefahr für nichtweiße Menschen: "Denn die Vergangenheit hat gezeigt: Aus Worten werden Taten".