Moskau: MH17-Abschlussbericht "fundamental falsch"
Der niederländische Chefermittler erklärt, die Rakete sei aus Separatistengebiet abgefeuert worden, das Weiße Haus und der ukrainische Präsident behaupten dies auch
Der Abschlussbericht der Niederländischen Flugsicherheitsbehörde (OVV) stellte fest, dass MH17 von einer Buk-Rakete abgeschossen wurde. Aber es war nicht der Auftrag der Ermittler, die Schuldigen auszumachen (Nach dem niederländischen Abschlussbericht wurde MH17 mit einer 9M38M1-Buk-Rakete abgeschossen). Im Bericht werden zwar Vermutungen darüber vorgelegt, aus welchem Gebiet die Buk-Rakete abgefeuert wurde, aber man enthielt sich jeder Spekulation, um dem strafrechtlichen Bericht des Gemeinsamen Ermittlungsteam (JIT) nicht vorzugreifen. Angeblich wurden auch aus diesem Grund keine Aufnahmen der Teile gezeigt, die an der Absturzstelle gefunden wurden und von einer Buk-Rakete stammen sollen. Warum dies den JIT-Bericht beeinträchtigen könnte, erschließt sich freilich nicht, zumal beide Untersuchungen eigentlich voneinander unabhängig sein sollen.
In einer Erklärung des JIT, an dem neben den Niederlanden die Ukraine, Australien, Malaysia und Belgien beteiligt sind, heißt es, dass die eigenen Untersuchungen in dieselbe Richtung wie der OVV-Abschlussbericht wiesen, nämlich dass MH17 höchstwahrscheinlich von der Buk-Rakete abgeschossen wurde. Man müsse aber überzeugend ausschließen, dass es sich um eine andere Rakete handelte oder MH17 aus der Luft abgeschossen wurde. Auch was das Abschussgebiet anbelangt, weise alles in dieselbe Richtung. Es seien "persons of interest" gefunden wurden, die für die Untersuchung wichtig seien. Offenbar aber haben die Ermittler weiterhin Schwierigkeiten, Zeugen zu finden und sie in einer sicheren Umgebung ihre Aussagen machen zu lassen. Die vielleicht wichtigste Aussage der Erklärung ist die, dass die Untersuchung sich noch ins Jahr 2016 erstrecken werde, was auch heißt, dass es noch lange dauern dürfte, bis Ergebnisse vorliegen.
Der niederländischen Zeitung Volkskrant sagte der Chef-Ermittler Tjibbe Joustra jedoch gestern nach der Vorstellung des Berichts, dass die Rakete vermutlich aus dem von den Separatisten kontrolliertem Gebiet gekommen sei. Während ukrainische Experten, so der Bericht, die Abschussstelle gar auf ein kleines Gebiet von 2,5 Quadratkilometer einschränken wollen, verwies Joustra allerdings auf die Berechnungen des OVV, nach denen ein Gebiet von 320 Quadratkilometer in Frage kommt: "Die Grenzen fluktuierten ein wenig, aber es war ein Gebiet, das von prorussischen Rebellen kontrollierte wurde." Die Aussage würde zwar auch die strafrechtliche Untersuchung beeinflussen. Vielleicht fügte Joustra deswegen noch hinzu, dass es nicht die Aufgabe der OVV-Ermittlung war, den Abschussort zu bestimmen. Wenn man dies wirklich machen wollte, müsste man auch Bodenproben nehmen.
Ungeachtet der Zurückhaltung im Abschlussbericht preschte man im Weißen Haus aber vor und veröffentlichte ein Statement von Ned Price, dem Sprecher des Nationalen Sicherheitsrats. Er erklärte, der Bericht sei ein "wichtiger Meilenstein", um die Täter zur Verantwortung ziehen zu können. Man unterstütze die Arbeit des Gemeinsamen Ermittlungsteams. Die USA würden alle Bemühungen, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, "voll unterstützen". Und er fügt hinzu: "Unsere Beurteilung ist unverändert: MH17 wurde von einer Boden-Luft-Rakete zum Absturz gebracht, die von einem von Separatisten kontrollierten Gebiet in der Ostukraine abgeschossen wurde."
Wenig verwunderlich ist hingegen die Behauptung des ukrainischen Präsidenten Poroschenko, dass MH17 von einem "russischen Buk-Raketensystem" abgefeuert worden sei. Zudem vermied er, die Separatisten auch nur zu erwähnen, um direkt auf die Russen zu zeigen: "Die Rakete wurde von einem Gebiet abgefeuert, das von Russen besetzt war. Die niederländischen Ermittler konnten die Namen der Kriminellen nicht aufdecken. Das sollte von einem internationalen Tribunal gemacht werden." Eigentlich wäre dafür das JIT zuständig, an dem auch ukrainische Ermittler beteiligt sind. Moskau hatte die Einrichtung eines Tribunals im UN-Sicherheitsrat mit dem Verweis blockiert, dass erst einmal das JIT seinen Bericht vorlegen solle.
"Es sieht so aus, als habe sich das Ermittlerteam Beweise herausgepickt"
Schon kurz vor Veröffentlichung des Berichts hatte sich der russische Rüstungskonzern Almaz-Antay, der Hersteller des Buk-Systems, mit Kritik gemeldet. Man habe zwei Sprengversuche mit unterschiedlichen Buk-Raketen an Flugzeugen durchgeführt und sei zu dem Ergebnis gekommen, dass es sich um eine alte, in Russland schon ausgemusterte Rakete des Typs 9M38 gehandelt habe. Es könne keine 9M38M1 gewesen sein, wie im Abschlussbericht behauptet, da keine Einschusslöcher gefunden worden seien, die die dafür typische Schmetterlingsform hätten. Der Abschussort würde in der Nähe von Sarotschenskoje liegen, nicht bei Snizhne. Der Konzern äußerte sich aber nicht dazu, wer das Gebiet damals kontrolliert hatte.
Nach dem Auftakt durch Almaz-Antay war schon zu erwarten gewesen, dass auch seitens der russischen Regierung Einwände gegen den Bericht erhoben werden. Sie fielen dann auch massiv aus. Die russische Luftfahrtbehörde Rosaviazija griff denn auch die Ergebnisse des Rüstungskonzerns auf. Rosaviazija-Vizechef Oleg Stortschewoj erklärte heute auf einer Pressekonferenz, dass es dann, wenn es sich um eine Buk-Rakete gehandelt haben sollte, diese vom Dorf Sarotschenskoje aus abgefeuert worden sei, das seiner Zeit vom ukrainischen Militär kontrolliert worden sei. Das hätten Berechnungen ergeben.
Ganz allgemein wird der Bericht scharf kritisiert: "Ich kann mit Verantwortung sagen, dass die russische Kommission kategorisch nicht mit den Schlussfolgerungen des Berichts übereinstimmt. Diese sind fundamental falsch. … Es sieht so aus, als habe sich das Ermittlerteam Beweise herausgepickt. Der Bericht enthält nicht genügend Fakten, die die Vertrauenswürdigkeit der Untersuchung bestätigen."
Russland lehne keine Vermutungen ab, sagte er, aber man müsse "weitere Untersuchungen durchführen, um festzustellen, womit die Maschine wirklich abgeschossen wurde", so Stortschewoj. Moskau habe keinen Druck auf die Untersuchung ausgeübt, sei aber von ihr ausgeschlossen worden. Nach den vorgelegten Teilen der Rakete bestreitet die russische Flugbehörde mit Hinweis auf die Form und chemische Zusammensetzung deren "Authentizität". Informationen über den Fund der Buk-Teile seien den Russen nicht vermittelt worden, Kommentare von russischer Seite habe man nicht entgegengenommen. Die im OVV-Bericht vorgestellte Flugbahn der Rakete sei nicht korrekt. Man habe zwar die Daten von Almaz-Antey über den Abschussort genutzt, "aber sie sind aus dem Kontext genommen worden", so Stortschewoj.