Münchner Filmfest 1996 - Ein Nachruf

Fernsehen oder Kino?

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Wozu europäische Filmwochen, Filmfestivals und Filmfeste? Um so wie in Cannes der Branche Gelegenheit zu geben, sich selbst zu feiern, oder, um dem Publikum wie auf den großen Festivals in Berlin und Venedig eine Palette von Kinofilmen mit allerlei spaßigen Randereignissen zu bieten? Hat ein Filmfest wie in München, das Jahr für Jahr mehr einem Marketingtreffen der nationalen Fernsehindustrie als einem Fest rund um den Film gleicht, überhaupt noch etwas für ein Kinopublikum zu bieten?

Immerhin bietet auch das Münchner Filmfest einen Überblick über die Tendenzen der uns bestimmenden Filmmärkte Europa und USA und die Möglichkeit, die heimische Filmindustrie innerhalb eines internationalen Programms in ein Forum zu hieven. Die nationalen und internationalen Filmindustrien haben sich die Märkte untereinander schon seit langem einigermaßen klar zwischen Kinoproduktion und Fernsehproduktion aufgeteilt. In Europa wie in den USA ist aber spätestens seit den 80zigern eine Tendenz zur Vermischung dieser kommerziellen Filmmärkte zu beobachten - was in Europa auch aufgrund der gekürzten staatlichen Fördermittel nötig geworden ist. Mischproduktionen von Fernseh- und Kinoproduktionen gewährleisten größere Projekte, umgekehrt profitieren die Fernsehanstalten vom Image, der nationalen bzw. europäischen Kinokunst hilfreich unter die Arme gegriffen zu haben. Zuweilen kommen recht passable Ergebnisse bei Kooperationen zwischen Fernsehanstalten und Kinoproduzenten heraus (z.B. bei den Co-Produktionen der BBC), meistens wird man aber den Eindruck nicht los, daß die entstandenen Filme formal wie inhaltlich eine Kinoleinwand nicht ausfüllen können. Paradebeispiele dieser Art kommen vor allem aus Deutschland und wurden auf dem diesjährigen Münchner Filmfest einmal mehr erschöpfend vorgestellt. Die Erzeugnisse sind teilweise schon in den Kinos zu besichtigen. "Workaholic", der zu recht viel geschmähte Emanzipationserguß rund um eine Yuppiefrau (gibt's denn so etwas noch?) von Sharon von Weitersheim ist eine Co-Produktion von tele münchen und dem ORF. Weitere als Kinoproduktionen konzipierte deutsche Beiträge wie "Bandagistenglück" von Maria Teresa Camoglio (Luna Film/ZDF), "Blindes Vertrauen" (Telefilm Saar) von Martin Enlen u.a., offenbarten ähnliche Schwächen in der Story und deren Umsetzung. Die dokumentarisch angelegten deutschen Beiträge wie "Der Traum von Kabul" (Co-Produktion SFB), "Todas - Am Rande des Paradieses" (Clemens Kuby Filmproduktion) sowie das Kriegsberichterstatterporträt "Warshots" von Heiner Stadler (Produktion: Arte, BR, WDR, SDR) sind durchwegs sehenswert, wohl weil es reine Fernsehproduktionen sind, deren Macher schon im Vorfeld nicht den Anspruch auf Kinoweihen erhoben haben. Das Münchner Filmfest hat sich inzwischen in die Reihe der größeren europäischen Filmfestivals eingereiht und spiegelt auf seine eigene exemplarische Weise den Zustand des deutschen wie auch des europäischen Films wider. Tatsache ist, daß das europäische Kino auf die Kooperation mit den Fernsehanstalten angewiesen ist, daß dabei deren Interessen jedoch zusehends überwiegen, geht in jedem gesehenen Fall auf Kosten des Endergebnisses. Die Leitung des Münchner Filmfests unterstützte mit seiner Programmauswahl diese Entwicklung und entfernt sich zusehends von der ursprünglichen Intention, ein attraktives Publikumsfestival zu organisieren. Der für jedes gelungene Filmfest wichtige kosmopolitische Glamour mußte wie immer zweckgebunden engagiert werden, was natürlich die Frage aufwirft, ob keine internationale Prominenz freiwillig zugegen sein wollte. Gäste beim diesjährigen Filmfest waren u.a. Robert Wise, dem die diesjährige Werkschau gewidmet war, der unvermeidliche Volker Schlöndorff hielt eine seiner unvermeidlichen Reden anläßlich der feierlichen Aufführung von Wise's "West Side Story" aus dem Jahr 1961. Weiterhin war Ron Bass anwesend, der u.a. das Drehbuch zu "Rain Man" mit Dustin Hoffman und Tom Cruise schrieb. Neben zahlreichen Regisseuren deren Gesichter und Namen einem noch nicht allzuviel sagen, waren als geladene Schauspielerinnen die britisch unterkühlte Tilda Swinton (Orlando, Female Perversions) und Asiensuperstar Anoja Weerasinghe ("Surabidena- Die Leihmutter") aus Sri Lanka anwesend, um dem Filmfest ein wenig mehr Glanz zu verleihen. Die Dominanz der Fernsehanstalten war neben der besagten Beteiligung an europäischen Kinofilmen, in den diversen Randveranstaltungen (mit beliebten Showgrößen aus dem Fernsehen), Preisen (erstmals dieses Jahr: TV-Movie Adward) und einer eigens eingerichteten Reihe (erstmals dieses Jahr: Top Televisions) unübersehbar. Das Gesamtprogramm umfaßte an die 300 Filme, wobei die Palette neben dem erwähnten Schwerpunkt "Top Televisions" von "Großen Premieren" zu "Neuen deutschen Filmen", "Kinderfilmen", "Internationalen Filmen", Dokumentarfilmen", "Independents" bis hin zu "High Hopes: Internationale Entdeckungen" reichte. Man wurde den Eindruck nicht los, daß alles, was zur Verfügung stand, flugs in das Münchner Spektakel integriert wurde, um dem Ganzen durch Masse mehr Größe zu verleihen. Die vollkommen mißglückte Reihe "Animationsfilme" ist nur ein Beispiel sinnloser Lücken- bzw. Kassenfüllerei wie sie in fast allen Filmreihen betrieben wurde. Allseits bekannte Animationen aus der Fernsehtrickkiste wurden zusammengesetzt und als "Animations-Special" vorgeführt. Durch Masse und Flitterglamour von fehlender Publikumsattraktivität und vom eigentlichen Anliegen, München als deutsche Fernsehproduktionszentrale zu etablieren, abzulenken, ist letztlich als bleibender Eindruck geblieben. Weniger wäre bei diesem Filmfest generell mehr gewesen, aber das ist eine Frage des Geschmacks und über den läßt sich bekanntlich in München angesichts fehlender Veranstaltungen mit internationalem Charakter nicht streiten.

Einmal mehr die Ausnahme - Britischer Film

Trainspotting, Persuasion, Secrets and Lies, Different for Girls

Von allen europäischen Filmen stachen die britischen Beiträge beim diesjährigen Filmfest am positivsten hervor. Scharfe Charakterzeichnung, Gegenwartsbezogenheit, und das Gefühl für europäische Themen wurde bei ihnen am besten in eigenwilligen Geschichten transportiert.

Trainspotting

"Trainspotting" von Danny Boyle wurde auch auf dem Münchner Filmfest gezeigt. Das erfolgreichste britische Kinoexponat nach "Vier Hochzeiten und ein Todesfall" ist auf dem Kontinent und der britischen Insel heftig umstritten. Hip ist er allemal und nicht nur deshalb sehenswert. "Wähle das Leben", empfehlen Werbefachleute, und preisen dazu in einem Atemzug all die konsumierbaren Güter an. Mark Renton hat sein eigenes Leben und schert sich um den Lohn für ein richtig gelebtes Leben herzlich wenig. Mark Renton ist sein eigener Junkie. Irgendwann startet Renton seinen x-ten Entzug (man nehme: Tomatensuppe in Dosen, Vanilleeis, Vitaminpillen, ein verschlossenes Zimmer, Mutters Valium..), der einmal mehr von seinem x-ten letzten Schuß unterbrochen wird. Das könnte ein Junkieleben lang so weiter gehen, bis dieses eine letzte Mal der Stoff zu hart war und Renton sich aus gerichtlichen Bewährungsgründen und Verdruß über die Junkie- und Sauffreunde für ein anderes Leben in London entscheidet. Dort lebt er kurzfristig mit einem Job, einer Bude und regelmäßigem Bierkonsum, letztendlich wird er aber von seiner Vergangenheit und seinen Kumpels wieder eingeholt.

Trainspotting

In der Clubszene wie auch in diversen Chefetagen ist Heroin schon längst wieder ein Thema geworden. H ist hip - nicht nur in den schäbigen Vierteln von Edinburgh bzw. Glasgow in denen Trainspotting gedreht wurde. Die Junkiegeneration, die außerhalb der Segnungen der 80er Jahre ihren schweren Spät -70er Traum träumte, mit den Traumheroen Bowie, Lou Reed, Brian Eno und Iggy Pop, wurde von einer User-Generation abgelöst, deren Motive nicht mehr von sozialer Resignation allein bestimmt sind. Es gibt zig Gründe für eine Droge und ebenso viele es sein zu lassen. Auch mit Heroin fängt man einfach nur an. Weder verherrlicht Trainspotting Heroin und das dazugehörige Leben - wie es in der Diskussion rund um Trainspotting behauptet wird - noch verfällt der Film in eine weinerliche Sozialstudie. Die Energie bezieht Trainspotting weniger aus der Darstellung von Junkies und Heroin, als vielmehr aus der Porträtierung einer europäischen Generation und eines spezifisch europäischen Lebensgefühls. Eine große Geste der kleinen Junkies an einen großgewordenen ehemaligen Kleinen ist es, wenn Edinburghs berühmtester Sprößling Sean Connery beinahe ebensooft zitiert wird, wie die Nadel die sich die Freunde in die Blutbahn stechen. "Die Zeiten ändern sich", sagt das viel zu junge Mädchen, das sich Renton in einem Club zwecks Körpersaftaustausch aufgegabelt hat, "die Musik ist anderes, die Leute sind anders, Männer und Frauen sind nicht mehr die Männer und Frauen wie wir sie einmal gekannt haben - wahrscheinlich sind wir in 1000 Jahren alle nur noch Wichser". Trainspotter - das sind übrigens Leute, deren Hobby es ist Zügen nachzusehen. Trainspotting ist wohl in England eine ähnlich populäre Form der Freizeitgestaltung wie hierzulande.

Secrets and Lies

Andere britische Beiträge auf dem diesjährigen Münchner Filmfest waren u.a. "Persuasion" - eine weitere Verfilmung eines Jane Austens Roman nach "Sense und Sensibility" mit Emma Thompson, mit einer Geschichte rund um die Beziehungen in der feineren Gesellschaft im England des frühen 19. Jahrhunderts. Regisseur Roger Michell aus Südafrika bemühte sich die Story in den Vordergrund zu transportieren, und jenseits des Kostümsujets ein zurückhaltendes, stilles Kaleidoskop menschlicher Beziehungen und deren Zwischentöne zu entwerfen. Trotzdem ist es eben diese Zurückhaltung, die den Film streckenweise steif und antiquiert erscheinen läßt. "Secrets and Lies" von Mike Leigh und "Different for Girls" von Richard Spence führen beide exemplarisch die besondere Fähigkeit der britischer Filmemacher vor, einen intensiven Blick auf die Gegenwart und die sich verändernden Beziehungsstrukturen zu werfen. "Secrets and Lies", ein großer Puplikumserfolg auf dem Filmfest, handelt von Hortense, einem schwarzen Mädchen, das sich auf die Suche nach der Mutter begibt, die zu ihrer Überraschung weiß ist. "Different for Girls" ist eine Geschichte über die alte/neue Liebe zwischen Paul und Kim, einem postoperativen Transsexuellen.

Italien und Frankreich

Die anderen europäischen Beiträge aus Italien und Frankreich entsprachen den Vorstellungen ihrer Filmindustrien, die sich auf eine landestypische "Filmästethik" eingeschworen zu haben scheinen. Diese großen Publikumsfilme aus Italien und Frankreich enttäuschen zusehends und werfen angesichts deren Neigung, sich zusehends in die Vergangenheit zu flüchten, die Frage nach den jeweiligen nationalen Befindlichkeiten auf.

Un Divan a New York, A Toute Vitesse, Beaumarchais- L'Insolent, Ridicule, Celluloide, Der Mann der die Sterne macht,

Chantal Akermanns' "Un Divan a New York" , eine französische Produktion mit belgisch/deutscher Beteiligung war der Versuch einer Komödie nach franzöischen Rezept a la "Mann trifft Frau aus anderen Verhältnissen", die sich zum Leidwesen ihrer interessant gepaarten Schauspieler (William Hurt und Juliette Binoche) vollkommen in der frankophilen Geschlechterbanalität verlor. Diese Produktion war aber neben der Reihe "Junges französisches Kino" mit Filmen wie z.B. "A Toute Vitesse", von Regiedebütant Gael Morel, einem berauschend intensiven Film, einer der wenigen groß angekündigten französischen Beiträge, deren Handlung in der Gegenwart angesiedelt ist. Auffällig viele französische Beiträge wenden sich von der Gegenwart ab, um statt dessen französische Vergangenheiten zu glorifizieren. Beaumarchais, L'Insolent ist so ein Beitrag. Pierre-August Caron de Beaumarchais schrieb am Vorabend der Französischen Revolution den Barbier von Sevilla und Figaros Hochzeit und trug mit diesen allseits beliebten Theaterstücken seinen Teil zum bis dato beliebtesten französischen Aufstand bei. Dabei klebt der Film aber an der Figur des Beaumarchais fest, der in marktschreierischer Manier als typischer Franzose in allen seinen Rollen dargestellt wird: Hansdampf, Grandsigneur, Liebhaber, Gourmet, Poet, Welt- und Lebemann usw.. Ein derartiges Konzept, das bei Klassikern wie Cyrano de Bergerac noch gut aufgehen kann, weil die Geschichte auf einem gut skizzierten gebrochenen Hauptcharakter aufbaut, wirkt bei Beaumarchais L'Insolent wie ein Tourismusfilm für Frankophile. So wollen Franzosen gerne Franzosen schmackhaft machen, voll des unausweichlichen Esprit bis zum weich werden. Im gleichen Jahrhundert spielt "Ridicule", ein Film von Patrice Leconte ("Der Mann der Friseuse", "Das Parfum von Yvonne"). Und auch hier läßt sich einmal mehr die Schwäche dieser Form französischen Kinos erkennen. Auch Ridicule mangelt es an einer stimmigen Geschichte mit ausgebauten Charakteren, die Dynamik erstickt schon im Ansatz unter den diversen Unterröcken der kostümierten Damen. Während die Franzosen zumeist auf die älteren Vergangenheiten zurückgreifen, bleiben die Italiener bei ihrer schon seit zig Jahren bewährten Epoche: Der Nachkriegszeit, dem goldenen Zeitalter des italienischen Films. Italienische Hommagen dieser Art sind "Celluloide" (Regie: Carlo Lizzani), in dem die Geschichte von Roberto Rossellini und seinem Werk "Rom, offene Stadt (Citta' Aperta") mit viel Schwung und noch mehr Sentimentalität erzählt wird, sowie "Der Mann der die Sterne macht" (Giuseppe Tornatore). Zweiterer ist bereits in den Kinos angelaufen. Es stellt sich die Frage, wie lange sich dieser italienische Stil noch fortsetzen kann, ohne endgültig von innen auszuhöhlen.

Sexprobleme aus den USA

Aus den Vereinigten Staaten kamen sowohl von der Indepent-Seite als auch von den großen Studios bemerkenswert viele Filme, die eine speziell amerikanische Sichtweise auf das Thema Frauen bzw. Girlies präsentierten. Schwierigkeiten in den Grundaussagen stellten sich dabei ebenso ein, wie bei Beiträgen, die sich abseits der großen amerikanischen Filmindustrie mit Themen aus der sogenannten sexuellen Subkultur auseinandersetzen.

Dogs: The Raise and Fall of an All-Girl Bookie Joint, Girls Town, Walking and Talking, Female Perversions, Frisk

"Dogs: The Raise and Fall of an All-Girl Bookie Joint" (Eve Annenberg) ist die Geschichte einer New Yorker Frauen-WG, die mit einer guten Idee an's große Geld will. Anspruch auf realitätszugewandte Radikalität wird dabei nicht erhoben, das Ganze versteht sich als unkomplizierte, sexy Komödie mit ein paar Szenen in denen ein nackter gepiercter Bauch und eine kesse Lippe riskiert wird. Das dicke Ende kommt so oder so: Zum Schluß warten wieder ein paar amerikanische Goldjungs (edel, hilfreich), welche die unartigen Mädels trotz allem was gewesen ist doch noch lieb haben. Haben unartige Frauen wirklich ein derartiges Ende verdient? Die ähnlich groß angekündigten Filme "Girls Town" von Jim McKay mit Nachwuchsstar Lili Taylor, als auch "Walking and Talking" (Nicole Holofcener) sind von gleicher insgesamt enttäuschend seichter Machart.

Ein sozusagen akademischer Frauenfilmbeitrag war "Female Perversions" von Susan Streitfeld. Tilda Swinton alias Eve verkörpert eine Anwältin, die ihr Leben erfolgreich auf die sie umgebende Männerwelt abgestimmt hat. Privat ist sie mit einem Geschäftsmann liiert und geht zuweilen ihren lesbischen Neigungen nach. Am Wendepunkt ihrer Karriere, kurz vor ihrer möglichen Beförderung zur Richterin, wird sie verstärkt von masochistischen Phantasien und ihrer Vergangenheit in der Gestalt der kleptomanischen Schwester Madelyn (Amy Madigan) als einem Alter Ego eingeholt. Soweit so gut. In diesen Film sind aber noch einige faule Eier mehr gelegt worden, die veranschaulichen sollen, warum Eve ein derart von Neurosen geplagtes Weib ist. Denn wisse: Spätestens dann wenn Frauen ihre ungeborenen Eier vergraben, weißt du, daß die Urmutter regiert. Eve weiß noch nichts von der Urmutter und deshalb trägt Eve noch gerne Pussy-Cat Rouge auf ihren - soll man sagen "natürlich" - verhärteten Lippen und ihre masochistischen Phantasien entspringen dem Wunsch für ihre Macht über die Männer die sie - im natürlich aufreizendem Outfit - aburteilen läßt, bestraft zu werden. Sie schämt sich - natürlich - für ihre Stärke, weil ihr Vater diese Stärke nie anerkennen wollte. Weiterhin hat ihr Vater einst die Mutter geschlagen, als diese mit ihren Reizen provozierte - was Klein-Eve natürlich mit ansah und bleibende in ihr Schäden hinterließ. Ihr falsch gelebtes Leben, das im Widerspruch zum angeblich ewig-gültigen Urmutterprinzip steht (es wird an die derzeit in akademischen Frauenkreisen kursierende Urmutter-Theorie angeknüpft), mißhagt ihr zusehends heftiger, als sie ihrer kleptomanischen Schwester begegnet, die eigentlich nur deshalb klaut, weil sie - was sonst - einen Penis haben will. In der Konfrontation mit dieser Schwester, die irgendwo in der Wüste in einer Frauen-WG lebt, in der die Frauen verzückt die Hüften kreisen lassen oder sich wahlweise in den Busen schneiden, wird sie sich ihrer kranken Weiblichkeit bewußt. Die Katharsis kann beginnen. Überraschenderweise stammt der Film von einer Frau - das Ganze hätte auch von einem Prediger stammen können, der die weibliche Weltbevölkerung vor drohender Nervendegenerierung durch Masturbation und Homosexualität warnen will. Man wird den Eindruck nicht los, daß einem hier etwas durch und durch amerikanisch-puritanisches als Aufklärungsfilm für die moderne Frau angedreht wird. Weder überzeugen die Basis der Geschichte, die kein Vorurteil, keine Eindimensionalität, keine noch so an den Haaren herbeigezogene Deutung ausläßt, um die "Perversionen" ihrer Protagonistinnen zu erklären, noch die Schauspieler, die zwar in manchen Szenen Klarheit transportieren können, die aber dann gemeinsam mit dem Film auf's Kläglichste untergehen. Was sich unter all den vergrabenen Eiern, dem ewig-traurigen, ewig-schmutzigen Gesicht der umhergeisternden sogenannten Urmutter verbirgt, bleibt ein Rätsel. Trotzdem dämmert es einem, was der Film mitteilen will: Daß eine gesunde, neurosenfreie Frau nur eines will: eine urgesunde, wenn möglich uramerikansche Familie gründen - natürlich!

Neben "Female Perversions" ist "Frisk" von Todd Verow aus der Reihe "Off Limits" hervorzuheben. Ähnlich wie in dem Streifen von Susan Streitfeld wird auch in Frisk außerordentlich mißglückt in den sogenannten Randbereichen der Sexualität und ihren Deutungsmöglichkeiten umherhantiert, was in beiden Fällen in kreuzbiederen Aussagen gipfelt. "Frisk" handelt vom Homosexuellen Dennis, der von Gewalt faziniert ist und sich seit seiner Pubertät an "Snuff"- Bildern stimuliert. Eines Abends gabelt er mit ein paar Anderen einen jungen Mann auf um sich mit ein wenig zu tödlich zu amüsieren. Ähnlich wie Female Perversions kann sich in Frisk der Regisseur nicht von der Pädagogisierung ablösen. Sexualität wird in beiden Werken als körperliche und geistige Gefahr interpretiert. In Female Perversions wird der Körper der Frau als ein gänzlich von Sexualität durchdrungener Körper analysiert, qualifiziert und disqualifiziert und bringt ihn so in guter alter Manier in organisatorische Verbindung mit dem Gesellschaftskörper (dessen Fruchtbarkeit er regeln und gewährleisten muß), mit dem Raum der Familie (den er als substantielles und funktionelles Teil mittragen muß) und mit dem Leben der Kinder (das er hervorbringt und das er dank einer die ganze Erziehung währenden biologisch-moralischen Verantwortlichkeit schützen muß). Die Frau wird in Female Perversions als zweckentfremdet, abartig, "pervers" dargestellt. Ihr Problem muß mittels Urmutterthese, mittels akademischer "Pädagogik" gelöst werden. Die Lesbierin ist nicht selbstverständlich, sondern sie wird als hysterischer Charakter an ihrer Umgebung stilisiert - dekadent, pathologisch ihrer Bestimmung entfremdet: Dem Muttertier das sie als weiblicher Körper (nicht als Person) zu werden hat. Frisk spielt mit den üblichen Grenzen des Obszönen und Verbotenen und transportiert doch nur die üblichen Klischees weiter. Es scheint als läßt sich Sexualität nur definieren im Kontext von Verboten und deren Überschreitung, als sei die amerikanische Auffassung davon mehr durch das Fazinosum kultureller Schranken als durch erfahrbare und mitteilbare Bedürfnisse bestimmt. Das soziale Abenteuer, das psychische Bild der Sexualität erscheint als bedeutender als die in sich "triviale" konkrete Sexualität. Entsprechend richtet sich die Ideologie der Obszönität nicht auf eine sexuelle Utopie, sondern auf den Wert der "Grenzüberschreitung" an sich. Die rebellischen Impulse in Bezug auf die Sexualität, die jede Gesellschaftsform in der einen oder anderen Weise kennt, sind die Kehrseiten der sexuellen Gebote; sie zu verletzen ist ein rein sozialer Akt, der ebenso eifernd und ernst betrieben wird, wie umgekehrt der Versuch, für die Verdrängung der Sexualität moralische, religiöse oder politische Rechtfertigungen zu finden.

Alles über Cyberspace

Erwähnenswert unter den Dokumentarfilme ist in diesem Jahr neben den obligaten Natur- und Ethnobeiträgen, vor allem ein Film, der rund um das Thema Cyperspace kreist: "Synthetic Pleasures" von Iara Lee.

Synthetic Pleasures von Iara Lee wird vom Verleih als Cyper-Roadmovie für :"nerds and nerdettes, ravers, technophobics, hackers, fringe scientists, cognitive enhancer users, housewives, video game players, virtual reality fanatics, epistemologists, ontologists, freaks, transhumanists, philosophers, cyberanthropologists, experimentalists, cryonicists, immortalists, nanotechnologists, extropians, high tech hippies, social scientists, computer animators, futurists, transexualists, sportists, space colonizators, plastic surgeons, biogeneticists, body manipulators, robot lovers, net surfers, neuroscientists and pornographers", angekündigt. Diesem kruden Mißverständnis von "alles cyber" sitzt der Film von Iara Lee auch in nahezu jedem Moment auf. Formal geht die Regisseurin in Synthetic Pleasures der Frage nach, welche kulturellen Impulse sich im Kontext virtuelle Welten/Cyperraum bündeln. Von der virtuellen Freizeitindustrie führt der Film hin zu Computerspielen, Cybersex, plastischer Chirurgie, Genmanipulation, Biotechnologie, der Suche nach dem technischen Triumph über Tod und Verfall und mündet in Reflexionen über eine mögliche Zukunft mit den neuen Technologien. Mit dabei sind: Die Maus vom Mars, Captain Kirk, Hightech-Nomaden und - Pioniere, Silicon Valley-Propheten und -Millionäre, Cyborgs, Zwitter und diverse Hightech-Leichen die auf ihre Wiederauferstehung in einer fernen besseren Zukunft harren. Das alles ist in rascher Bildabfolge zusammengeschnitten und entbehrt in den Aussagen auch nicht des üblichen kulturellen Unbehagens über die Macht der Technologie. Politische und gesellschaftliche Zusammenhänge und Auswirkungen konkreter zu beschreiben wird jedoch vermieden. Synthetic Pleasures beschränkt sich auf den postmodernen Hype, auf die "Typen des Cyperspace" und die exotische Attraktivität von Hackerslang und Futuristischen Visionen. Der Film reiht sich damit in die Sphalanx derjenigen, die von der nahenden Sternstunde künden, ab der alle im Cyberspace zusammen frei und gleich sein werden. Die lebenden Personen in Synthetic Pleasures sind den Toten, die sich konservieren lassen, um einmal bei der Erfüllung aller Versprechen erweckt zu werden, ausgesprochen ähnlich, vor allem aber die sie umgebenden Szenarien. Allein die Hoffnung auf eine synthetische Zukunft verleitet dazu, das Hier und Jetzt der realen Körper als von geringer Wichtigkeit anzusehen.

Internet-Adressen zu einigen der Filme:

www.caipirinha.com/
www.kinoweb.de/
chat.carleton.ca/~jmain/trainspotting/
www.miramax.com/movies/trainspo.html
www.transatlanticent.com/femperv.html