Mullahs, die Überlebenskünstler

Wohin driftet die Islamische Republik Iran? Können die Reformer die Wende schaffen?

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Die Islamische Republik Iran hat nach dem blutigen Sieg der Mullahs in internen Machtkämpfen (1981) etliche schwere innere und äußere Krisen überlebt. Kein Land, das gerade aus einer Revolution hervorgegangen ist, kann den gleichzeitigen Verlust seines Präsidenten und Premierministers unbeschadet überleben. Irans Präsident und Premier fielen 1981 einem Bombenanschlag zum Opfer. Ein Monat zuvor starben der Oberste Richter des Obersten Gerichtshofes Ayatollah Mohammad Husseini Beheschti und etliche Kabinettsminister und Parlamentarier ebenfalls bei einem Bombenattentat auf das Hauptquartier der Islamisch-Republikanischer Partei (IRP). Der heutige Religionsführer Ayatollah Seyed Ali Khamenei und der damalige Parlamentspräsident Ali Akbar Haschemi Rafsandschani Bahremani entgingen nur knapp den jeweils auf sie verübten Anschlägen.

Die Mullahs haben ebenfalls den 8-jährigen Krieg gegen den Irak überstanden. Im Krieg gegen den Irak war der Iran international isoliert, während sich Saddams Irak über großzügige Finanzspritzen aus den Golfstaaten und Waffen (aus dem Westen und Osten) erfreuen konnte. Die internationale Isolation im Zuge des Mykonos-Anschlages (1992) und das 1997 darauf folgende „Mykonos-Urteil“, zusätzlich zu einseitigen und weiter verschärften US-Sanktionen haben den Gottesstaat ebenfalls nicht erschüttern können. Gegen Ende der Rafsandschani-Regierung (1997) waren fast alle Botschafter der EU-Staaten und einiger anderer westlichen Staaten aus Teheran zurückbeordert worden.

Die Studentenrevolte von 1999 war der bisher größte innere Aufstand. Die Revolte wurde niedergeschlagen, die Hauptverantwortlichen dafür bekamen zur Schmach des gedemütigten Volkes Minister- und hohe Staatsposten im Kabinett Ahmadinedschads. Religionsführer Khamenei glaubte offenbar, sie könnten mit diesem Volk, das sich nicht auflehnen würde, alles anstellen.

Gefährlichste Herausforderung für das System der Velayat-e Faqih

Doch die „Bewegung vom 22. Khordad“ (12. Juni) ist von einer völlig anderen Natur. Diesmal hat der Religionsführer Ayatollah Ali Khamenei nicht ein paar Studenten vor sich. Die Wahl wurde vom ehemaligen präsumtiven Khomeini-Nachfolger Großayatollah Hussein Ali Montazeri, den zwei Ex-Präsidenten Rafsandschani und Khatami, dem Lieblinspolitiker Khomeinis, Ex-Premier Mousavi, von zwei Ex-Parlamentpräsidenten Ali Akbar Nateq Nuri und Mehdi Karubi, zwei ehemaligen Generalstaatsanwälten Großayatollah Yusef Sanei und Hodschatolislam Mousavi-Khoeiniha und einem Ex-Kommandeur der Revolutionswächter Mohsen Rezai angefochten.

Letzterer hat allerdings seine Beschwerde zurückgezogen. Sein Sprecher ließ jedoch die Äußerungen des Sprechers des Wächterrates zurückweisen und gab zu verstehen, dass Rezai immer noch das Wahlergebnis als höchst zweifelhaft betrachte und dass er nur wegen der nationalen Interessen und der Sicherheit des Landes seine Beschwerde zurückgenommen habe.

Wahlbetrug mehr als ersichtlich

Von Josef Stalin stammt die Aussage, „es ist nicht so wichtig, wie das Volk wählt. Wichtig ist, wer zählt.“ Am Beispiel des Wahlergebnisses von Mehdi Karubi kann man deutlich die Dimensionen des Wahlbetruges erahnen. Der Geistliche, der „Scheich der Reform“, hatte bei den Präsidentschaftswahlen 2008 5.070.114 Stimmen (17,24%) auf sich vereinigen können und verpasste knapp den Einzug in die Stichwahl. Stattdessen zog Mahmoud Ahmadinedschad als zweiter nach Rafsandschani in die zweite Runde ein. Karubi hat die Auszählung schon damals heftig kritisiert. Seine Äußerung, „Ich habe mich nur ein paar Stunden schlafen gelegt. als ich aufwachte, war das Ergebnis ein anderes als zuvor,“ wurde berühmt.

Rafsandschani wollte seine Beschwerde nur vor „Gott einreichen“. In der Nacht zum 12. Juni 2009 wollte Karubi „keine einzige Stunde die Augen zumachen“. Der Scheich war sich anscheinend der Dimensionen der Dreistigkeit des Gegners nicht bewusst. 2005 waren ca. 20 Mio. Iraner, zumeist benachteiligte Gruppen und vom Scheitern des Reformpräsidenten Khatami enttäuschte Jugendliche, Frauen und Intellektuelle, den Wahlurnen ferngeblieben. Das „Büro zur Festigung der Einheit“, die einzige offizielle, extrem regimekritische Studentenorganisation, die 2005 die Wahlen boykottiert hatte, unterstützte diesmal Mehdi Karubi (siehe "Ahmadinedschad muss weg"). Bei etwa 3,3 Millionen Studenten und ca. 1,3 Millionen jungen Hochschulabsolventen, deren Großteil nicht gerade regimefreundlich ist, hätte Karubi diesmal mehr Stimmen haben sollen als 2005.

Doch der Reformscheich ist mit 333.635 Stimmen (0.85%) unter vier Kandidaten nur Fünfter geworden. Die ungültigen Stimmen bilden mit 409.389 (1.04%) die viert stärkste Partei. Der Scheich sollte anscheinend für seinen energischen Tabu brechenden Wahlkampf und sein Versprechen kurz vor der Wahl, den Bahai-Anhängern ihre staatsbürgerlichen Rechte zuzugestehen, sollte er Präsident werden, gedemütigt werden.

Wie geht es weiter? Kann die Oppositionsführung die politische Wende herbeiführen?

Doch die „Bewegung vom 22 Khordad“ (12. Juni) hat einen tiefen Riss im Regimeapparat entstehen lassen. Im konservativ dominierten Parlament wird der konservative Parlamentspräsident Ali Laridschani heftig gerügt. Laridschani hatte für die Berufung einer „Wahrheitskommission“ plädiert. Laridschani hatte ebenfalls den „Rat zur Feststellung der Interessen des Systems“ (Feststellungsrat), dem Rafsandschani vorsteht, als Schlichter zur Sprache gebracht, was von Regierungssprecher Gholamhossein Elham zurückgewiesen wurde.

Die Ahmadinedschad nahestehende Fraktion im Parlament droht nun mit dem Misstrauenvotum gegen das Präsidium. Der pragmatische Konservative, der Teheraner Bürgermeister, bemängelte die brutale Vorgehensweise gegen die Demonstranten und forderte, die Rechte und Beschwerden von sichtlich soviel unzufriedenen Menschen ernst zu nehmen.

Unterdessen unterstützt weiterhin die reformorientierte „Gemeinschaft der kämpferischen Geistlichen“ Mousavi und veröffentlicht öffentliche Beistandsbriefe. Sehr ungewöhnlich scharf ist die jüngste Position vom Generalstaatsanwalt der 80er Jahre Ayatollah Mousavi Tabrizi. Auf die Frage des Interviewers, der selber Ahmadinedschad nahesteht, weshalb die Opposition nicht den Weg des Gesetzes geht, antwortete er:

Das Gesetz ist genau das. Das Volk kommt, demonstriert und bekommt so sein Recht. Der Wächterrat ist nicht unparteiisch.

Mousavi Tabrizi, der heute Generalsekretär der „Vereinigung der Forscher und Dozenten der theologischen Hochschule in Qom“ ist und zugleich Generalsekretär des „Hauses der Parteien (ein Sammelbecken aus reformistischen Parteien und Organisationen), fährt fort:

Der Schah bezeichnete uns und die Demonstranten als Unruhestifter und Staatsverräter. Sie sagten, dass wir von außerhalb der Grenzen gekommen sind.

Hier unterbricht der Reporter und fragt ihn, ob man das Tyrannenregime des Schah mit dem islamischen Regime vergleichen könne. Mousavi Tabrizi antwortet:

Natürlich kann man das. Waren sie (das Schahregime) keine Menschen? Es war deshalb eine Tyrannei, weil es solche Dinge (Stigmatisierung der Opposition als Unruhestifter bzw. Agent des Auslands) erzählte. Wenn der Schah das nicht getan und die Rechte des Volkes respektiert hätte, wäre er doch kein Tyrann gewesen. Es macht überhaupt keinen Unterschied, wer es ist. Wer die Rechte des Volkes missachtet, er ist Tyrann.

Der schiitische Klerus außerhalb der Führungselite hat jedoch derzeit wenig auszurichten.
Wie auch immer der Aufstand vom 12. Juni ausgehen mag, die Islamische Republik wird nie mehr das sein, was sie vor dem 12. Juni war.

Mousavi in einer nicht gewollten und nicht vorausgeahnten Rolle

Das System der Velayat-e Faqih hatte mit einer derartigen Popularität und politischen Genialität Mousavis nicht gerechnet. Nur deshalb konnte er die Ausleseprozedur des Wächterrates überstehen. Was kann ein Ex-Premier, ein Ingenieur, der 20 Jahre lang in politische Abstinenz versunken war und sich mit Kunstausstellungen beschäftigt hatte, ausrichten? Der Ingenieur, der für die mindestens 70 % der Iraner, die nach der Revolution auf die Welt gekommen sind, ein Unbekannter war, ist heute Irans beliebtester und mutigster Politiker.

Mousavi hatte vor allem die breite Unterstützung der benachteiligten Gruppen (Jugendlichen, Frauen, ethnisch-religiösen Minderheiten) ob seines Wahlprogramms hinter sich (siehe "Ahmadinedschad muss weg"). Der Iran hat ca. 73 Millionen Einwohner. 70% davon sind unter 30 Jahre alt, von den 46,2 Mio. Wahlberechtigten sind dies 46%. Niemand im Iran kann bei einer halbwegs freien Wahl ohne die Unterstützung der Jugend Präsident werden. Nur vor diesem Hintergrund, d.h. der Fehlkalkulation der Oppositionsstärke ist der Wahlbetrug zu verstehen. Mousavi ist in eine Rolle geschlüpft, die er weder vorausahnte noch wollte. Er wächst in der engen Beziehung zu der Schar seiner Anhänger aus sich heraus.

Dramatische Aussichten

Aus Teheran kommen Meldungen, die die Erfolgschancen der Opposition nicht gerade hoch einschätzen lassen. Die Berichte deuten sowohl auf die Suche nach politischen Lösungsmöglichkeiten als auch auf den Einsatz der eisernen Faust gegen die Opposition (siehe Iran: Der Aufstand wird in Verhandlungszimmern fortgesetzt) hin. Das Präsidium der Kommission für Nationale Sicherheit des Parlaments verhandelte am Mittwoch mit den drei Kandidaten, Mousavi, Karubi und Rezai. Die Tatsache, dass die ersten beiden anschließend nicht festgenommen worden sind, spricht dafür, dass das Regime das Potenzial der beiden noch hoch einschätzt und zumindest eine Verhaftung zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht für sinnvoll hält.

Dabei ist von den hochrangigen Beratern der beiden kaum noch jemand auf freiem Fuß. Mousavi selbst steht zuverlässigen Quellen zufolge rund um die Uhr unter Observation und könnte jederzeit verhaftet werden. Eine Verhaftung Mousavis und Karubis würde die Erfolgschancen der grünen Bewegung immens zurückwerfen.

Einiges spricht eher für ein iranisches Tiananmen, sollte die Oppositionsführung nicht einknicken. Die größte Sorge der Opposition war das nun erfolgte Eingreifen der gefürchteten Sepah-e Pasdaran (Revolutionswächter). Sepah patrouilliert seit Montag mit ihrer 10. Spezialdivision in den Straßen von Teheran. Die Division Seyed Al-Schohada unter dem Kommando vom Brigadegeneral Ali Fazli untersteht der Sarallah-Kommandozentrale, die für die „Sicherheit“ Teherans zuständig ist. Der Kommandeur des Sarallah-Befehlsstandes gehört zu den drei wichtigsten Sepah-Kommandeuren. Sarallah-Kommandeur war bis September 2007 Generalmajor Mohammad Ali (Aziz) Dschafari, der heute Oberbefehlshaber der Sepah ist.

Noch hat die Sepah die meiste „Drecksarbeit“ der Basidsch-Miliz, ebenfalls für ihre Skrupellosigkeit gefürchtet, und der Polizei überlassen. Spezialeinheiten stehen sogar in den Gassen und Straßen, um Massenaufmärsche in Richtung Stadtzentrum zu verhindern. Immer intensiver greifen jedoch die Spezialeinheiten der Sepah ein. Es sind dennoch weitere Protestaktionen verabredet und Mousavis und Karubis Botschaften, die zum Durchhalten ermutigen, werden emsig via Internet weitergeleitet.

Was macht Rafsandschani?

In Teheran warten viele sehnsüchtig auf den Auftritt des Überlebenskünstlers der Republik. Der gewiefte Politiker hat sich seit der Verkündung des Wahlergebnisses auffällig zurückgehalten. Wenn er ruhig ist, ist das meistens ein Zeichen dafür, dass er emsig arbeitet. Laut nun nicht mehr aktuellsten Berichten des in Dubai stationierten Fernsehsenders „Al-Arabiya“ beraten die beiden Ex-Präsidenten Rafsandschani und Khatami, die bei der Wahl Mousavi unterstützten, mit den führenden Geistlichen, auch denjenigen im Expertenrat, um die Weichen für die Abwahl von Khamenei als religiösem Führer zu stellen.

Rafsandschani steht dem Expertenrat vor, der für die Wahl- und Abwahl des Religionsführers zuständig ist. Laut Verfassung muss eine Kommission aus dem Expertenrat, bestehend aus elf ordentlichen und vier Ersatzmitgliedern einen Antrag stellen und bearbeiten. Zwei Drittel der Kommissionsmitglieder und das Präsidium des Rates müssen dem Antrag zustimmen, damit er dem Expertenrat vorgelegt würde. Wenn er dann mit absoluter Mehrheit angenommen würde, wäre Khamenei abgewählt.

Doch so einfach sind die Verhältnisse im Gottesstaat nicht. Der Expertenrat, aktuell mit 88 Mitgliedern besetzt, ist tatsächlich das wichtigste Organ der Verfassung, da es über das Schicksal der höchsten staatlichen Instanz entscheidet. Die Möglichkeit einer Abwahl Khameneis durch den Expertenrat darf jedoch nicht überschätzt werden. Das Organ, bestehend aus alten Geistlichen, kennt nicht die geringste Tradition der Kritik am Religionsführer, von einer Abwahldebatte ganz zu schweigen. Insofern hat er sich bisher als Papiertiger erwiesen. Hinzu kommt, dass sich die Sepah und die mächtige zivile Bande um Khamenei nicht von ein paar greisen Geistlichen überrumpeln lassen werden. Zuviel steht für sie auf dem Spiel und zuviel haben diese Gruppen, die seit Ahmadinedschads Amtsantritt zuvor unvorstellbare politische und ökonomische Privilegien erlangt haben, zu verlieren.

Man kann Rafsandschanis Affront gegenüber Khamenei ernst nehmen. Denn er hat längst vor der Wahl das Thema „Velayat-e Foqaha/Schoray-e Rahbari“ (Rat der Rechtsgelehrten) statt Herrschaft des Rechtsgelehrten (eines einzigen Faqih) zur Debatte gestellt. Rafsandschani hat etliche erfolgreiche „Putschversuche“ in seiner Akte. Der Sturz der religiös-liberalen Regierung von Premier Mehdi Bazargan (November 1979), die Absetzung des religiös-liberalen Präsidenten Abol Hassan Bani-Sadr (Juni 1981) und einige unrühmliche Ereignisse der 80er sind eng mit seinem Namen verbunden. Bazargan hatte ihm einmal gesagt, wer andere ausschaltet, wird selber irgendwann annulliert. Irans neuzeitliche Geschichte enthält viele Beispiele dafür. Rafsandschani erntet im Grunde genommen das, was er selber in den 80er Jahren gesät hatte. Dennoch, wenn er heute die Iraner vom erdrückenden System der Velayat-e Faqih unter Khamenei befreit, könnte er alles vergessen machen.

Zu den möglichen, eher unwahrscheinlichen, Szenarien würde auch das Bauernopfer zählen, das Ahmadinedschad gezwungen würde, „freiwillig“ zurückzutreten. Auch in diesem Fall hätte das iranische Volk einen grandiosen Sieg errungen. Ayatollah Khamenei denkt jedoch nicht dran: „Wir werden keinen Millimeter vom Gesetz abrücken, unser Gesetz, das Gesetz unseres Landes, das Gesetz der Islamischen Republik“.

Wenn das Regime auch diese Krise überlebt, wird die doppelte Schmach für das Volk zurück bleiben, das um sein klares Votum betrogen wurde, von einem Regime, das die 85 %ige Wahlbeteiligung als Zeichen seiner hohen Legitimität nach außen verkaufen wollte. „Es tut weh“, wie ein Iraner im Internet schrieb. Die pragmatischen Konservativen werden ebenfalls darüber zu debattieren haben, dass es so, mit polizeilich-militärischer Arroganz und Gewalt, nicht weiter gehen kann.