Multikultureller Doppelpass auf der Fanmeile

WM: "Urlaub auf Deutschland" und Pause vom Rassismus?

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Alles ist offen. Jürgen Klinsmann hat sein Hemd schon mal aufgeknöpft, seine Gesichtsmuskulatur hat sich wieder entkrampft, und auch Ronaldinho hat den Mund stets auf und lächelt, auch wenn es manchmal nichts zu lachen gibt. Deutschland ist im Fußball-Fieber, so viel schwarz-rot-gold war nie, aus No-go-Areas-Debatten (vgl. Besondere Vorsicht im Osten) sind Fanmeilen-Hysterien geworden, Politik gibt es derzeit nur im Nebenzimmer, der neue Außenminister heißt Franz Beckenbauer. Was ist passiert? Alle rücken zusammen, keiner schnallt den Gürtel enger, Fensterscheiben werden herunter gekurbelt, Hosen und Blusen geöffnet. Jetzt geht die Post ab, Deutschland öffnet sich. Aber für wen?

Die Welt ist zu Gast bei Freunden. Und bis auf ein paar Zwischenfälle, als am Tage des Spiels Deutschland gegen Polen etwa 120 Hooligans in der Dortmunder Innenstadt für Lärm und Krawalle sorgten, ist bislang eigentlich nichts Schlimmes passiert. Deutschland wirkt gemütlich, ein wenig übereuphorisiert, ein kleiner Ausnahmezustand.

Vielleicht ist Fußball der Beitrag zur Multikulturalität des Sommers

Gemessen an Zahlen ist er das tatsächlich. In der deutschen Elf hat mittlerweile jeder vierte Spieler einen Migrationshintergrund, und blickt man in die deutsche Bundesliga, liegt der Anteil ausländischer Spieler heute bei 43 Prozent, zum Vergleich: Im ersten Bundesligajahr 1963/64 gab es erst fünf ausländische Spieler.

Eine Kehrtwende in der Fußballpolitik war das berüchtigte Bosman-Urteil aus dem Jahre 1995, durch jene Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs, durch die die bis dahin gültigen Transferregelungen, dann aber auch die Ausländerbeschränkungen in den Mannschaftssportarten für nichtig erklärt wurden. Das heißt: Ausländische Spieler können nun in nahezu unbegrenzter Anzahl in den Bundesligen eingesetzt werden.

Da wächst was zusammen. Doch die Aushebelungen von Spielerbeschränkungen gelten nur für die erste und zweite Liga, da Amateur-Sportklubs gemeinnützige Vereine und keine Wirtschaftsunternehmen sind. Folglich ist Fußball gerade an der Spitze der Republik, und da interessiert es letztendlich die Massen, durchweg zu einem multilateralen wie auch multikulturellen Schlagabtausch geworden.

Nun wurde aber das Land kurz vor der WM plötzlich erschüttert, ganze Landstriche erklärte man zu No-go-Areas, der Afrika-Rat und die Internationale Liga für Menschenrechte hatten sogar eine Art Ratgeber mit dem Titel "Ratschläge zum Verhalten bei rassistischen Übergriffen" in fünf Sprachen heraus gegeben - "gefährliche Orte" für ausländisch Aussehende und für Gäste anderer Ländern wurden aufgelistet. Zudem kündigten sich schon vor der WM rechte Hooligans aus sämtlichen Nationen an, die den Slogan "Die Gast zu Welt bei Freunden" mit rassistischem Schmutz beflecken wollten.

"FC Deutschland 06"

Erinnert sich jetzt noch jemand an die No-go-Areas? Momentan scheinen alle beurlaubt zu sein von all den Querelen, Sorgen und Nöten, Statistiken über rechtsextreme Gewalt und Hartz 4 stehen derzeit allenfalls auf dem Papier. Es zählen eben nur noch Tore, und wer da jetzt mit so was kommt, der ist Spielverderber.

Dafür hat man einiges getan. Der Fußball wird seit Jahren politisiert, vielleicht sogar die Politik mittlerweile fußballisiert. Die Sozialwissenschaftlerin Christina Holtz-Bacha hat diesen Prozess in ihrem Sammelwerk "Fußball-Fernsehen-Politik" erst kürzlich treffend beschrieben. Die WM sollte eigentlich kurz vor der Bundestagswahl 2006 stattfinden - hätte es keine vorgezogenen Neuwahlen gegeben. Ex-Kanzler Gerhard Schröder stellte bereits im November 2004 die Kampagne "FC Deutschland 06" vor, so sollte Deutschlands Gastgeberrolle an wirtschaftliche Interessen gekoppelt werden.

Nun ist die WM mit etwa zwei Milliarden Euro zusätzlichem Umsatz genau zu diesem gewünschten finanziellen Spektakel geworden, Deutschlandfahnen überall. Was es den politischen Kadern des Landes bringt? Wer ein bisschen Forschung verfolgt, der wird merken können: auf Niederlagen der Nationalelf scheinen politische Niederlagen zu folgen, wichtige Siege hingegen können Wahlen mitentscheiden, sie gehen Wahlerfolgen von Regierungen voraus.

Das war nach den Weltmeisterschaftstiteln, dem "Wunder von Bern" im Jahre 1954 so, als Konrad Adenauer anschließend mit der CDU die absolute Mehrheit im Bundestag schaffte, das war nach dem WM-Titel 1974 nicht anders, als die SPD an der Macht blieb und Helmut Schmidt Kanzler wurde. Gerhard Schröder hingegen ging, allerdings vor der WM. Jetzt hat Angela Merkel den Hut auf, macht ein bisschen Gesundheitsreform im Hintergrund, aber keinen interessiert es.

Es ist nicht eine WM, es ist eine Präsentations-WM

Auch für die No-go-Areas und Integrationsdebatten interessiert sich derzeit niemand, Deutschland integriert da lieber gleich die ganze Welt. Und dass das alles einigermaßen klappt, dafür hat man einiges getan. Die Sicherheitsdebatte (vgl. Auf dem Weg in den präventiven Sicherheitsstaat) wurde vor der WM im Strafraum der Republik platziert, über 7.000 registrierte Gewalttäter aus der im Innland seit 1994 geführten Kartei "Gewalttäter Sport" wurden ausgesiebt. Sie bekamen weder Karten noch dürfen sie sich im Lande wie sonst ein normaler Mensch verhalten und bewegen - knapp 2.000 bekannte "Rädelsführer" wurden sogar zu Hause oder auch auf dem Arbeitsplatz aufgesucht und ermahnt.

Viele müssen sich zudem ständig bei der ansässigen Polizeibehörde melden und dürfen auch keine Public Viewing-Veranstaltungen besuchen. Auch wurden so genannte Gefangenensammelstellen für WM-Störer eingerichtet, und gegenüber ausländischen Hooligans ließ man sich ebenfalls etwas einfallen: Bereits gewaltbereite gesperrte Fußballfans, die nach Deutschland einreisen, werden per Zurückweisung erst gar nicht rein gelassen.

Es ist nicht eine WM, es ist eine Präsentations-WM. Alles und alle sollen locker bleiben, schließlich soll die Welt weder zu Gast bei Nazis sein, noch soll die Welt zu Gast im Knast sitzen. Zwölf Stadien in Deutschland wurden darum so umgebaut, dass sie zu Präsentationszonen der Republik wurden, in denen jede Passnummer notiert, alles kontrolliert wird und funktioniert. Wenigsten einen Monat lang soll das Miteinander zwischen den Kulturen und Nationen in diesem Lande jetzt mal gelingen.

Im Fußball verhält es sich schließlich wie auf politischen Schaubühnen: Probleme wurden ausgelagert, und sie werden einer Gruppe zugeschrieben. Rechtsextremismus und Rassismus, die gewissermaßen erst seit den 80er Jahren in den Stadien zu beobachten sind, nachdem ein erster Schub in England zu erkennen war und sich dann auch nach Deutschland verlagerte, gilt heute als ein ausschließliches Problem rechter Hooligans. Das entspricht der herkömmlichen Diskurstradition, Lagen zuzuspitzen, indem sie benannt werden, dem Rest damit zugleich eine Freikarte zur Demokratie zu bescheinigen. Denn wo man es schafft, Rassismus in den Stadien zu unterbinden oder bestimmte Gruppen erst gar nicht in die Stadien zu lassen, da kann dann auch kein Rassismusproblem mehr sein.

Rückgang des "sicht- und hörbaren Rassismus"

Seit Jahren versucht man Rassismus von den Rängen zu verbannen. In den meisten Stadien der ersten Liga werden heute starke Kontrollen schon an den Eingängen durchgeführt, rechte Symbole werden konfisziert, nicht wenige Vereine haben Anti-Rassismusparagrafen in ihre Stadionordnung aufgenommen. Auch sorgen erweiterte Überwachungsmethoden und sensibilisiertes Ordnungspersonal dafür, dass allzu offensichtliche Rassismen möglichst ausbleiben. Und erst vor wenigen Wochen hatte die FIFA sogar beschlossen, dass jetzt Vereinen ein Punkteabzug droht, wenn es in ihren Arenen zu rassistischen Vorfällen kommt. Im Wiederholungsfalle wird es einen Zwangsabstieg geben.

Alles soll in den Keller. Und dann ist es da, wo es eh schon ist. Denn ein Folgeffekt stärkerer Stadienreglementierungen ist es, dass sich rassistische Vorfälle nicht nur seit längerem nach außerhalb der Arenen verlagern, sondern auch zunehmend in den unteren Ligen vorkommen. In der ersten Bundesliga konnte die Sozialwissenschaftlerin Sabine Behn in einer Studie über "Wandlungen des Zuschauerverhaltens im Profifußball" sogar einen Rückgang des "sicht- und hörbaren Rassismus" feststellen. Das sage aber wenig über einen möglichen Einstellungswandel der Massen in den Rängen aus.

Denn Sanktionen unterbinden und verlagern mögliches rassistisches Potenzial, auch hat sich das Erscheinungsbild der Rechtsextremen schlichtweg verändert, seit die Rechte auch die Kleidercodes der Linken entdeckt hat, ist es nicht mehr allzu sichtbar, wer links, rechts oder doch Mitte sein will (vgl. Was ist ein Skinhead, wie sieht er heute aus?). Und gerade in den unteren Ligen drückt der rechte Schuh, das wiederum besonders in den neuen Ländern, hier drückt man aber auch gleichzeitig lieber mal ein Auge zu, wenn etwa Energie Cottbus-Fans demonstrativ mit dem Transparentspruch "Wir sind weiß" - Flagge zeigen. In der ersten Liga ist man wiederum bemüht, das Rassismusproblem in den Griff zu bekommen, denn da sind die Medien, da ist der Beobachter, da ist der Skandal.

Stärkere Reglementierungen lösen jedoch kein Rassismusproblem. Und bis heute hat man sich mit der Frage zu wenig beschäftigt, wo Rassismus überhaupt anfängt, geschweige denn welche Umstände Rassismen potenzieren. Bislang kam man da über einen "Vulgärrassismus", wie ihn Frantz Fanon einst bezeichnete, verstanden als allzu offensichtliche Anfeindungen gegenüber Menschen aufgrund askriptiver Merkmale wie der Hautfarbe, nicht hinaus. Das ist aber nur die halbe Wahrheit, wenn Fußballfans die Hymne "Zick Zack Zigeunerpack" anstimmen oder der Schiedsrichter als "Jude" ausgepfiffen wird, wenn er den falschen Elfer gibt.

Kosten-Nutzen-Rechnung, die sich am Torverhältnis misst

Die ganze Wahrheit ist manchmal schwieriger und auch ein wenig unangenehm. Denn das Rassismusproblem geht im Fußball über jenen "Protorassismus" hinaus. Ein Auswuchs moderner Vergesellschaftung ist es nun, dass Menschen anderer Herkunft im Gegensatz zu früheren Epochen wie der Kolonialzeit ausgeschlossen werden, indem man sie ins System einbezieht. Das ist im Fußball nicht anders, ausländische Fußballer werden großzügig eingekauft, gemessen an ihrem Status, ihrer Position im Verein wie auch an ihrem Einkommen, sind sie sogar strukturell bevorzugt - ganz im Gegensatz zu hier lebenden Migranten (vgl. Nicht reinkommen, nur gucken!). Dazu braucht es nicht einmal einen deutschen Pass.

Und die Ausschlussbegründungen sind auch schlichtweg komplexer: Denn Rassismus im Fußball funktioniert sogar ohne einen Ausschluss aus der eigenen Wir-Gruppe. Spieler mit schwarzer Hautfarbe werden schließlich auch von Rassisten angefeuert, die sich als Teil ‹ihrer" Elf begreifen und folglich auch für ‹ihre" Spieler sind. Da freut man sich eben, wenn David Odonkor flankt und Oliver Neuville in der Nachspielzeit gegen die Polen trifft. Gleichzeitig werden schwarze Spieler anderer Mannschaften mal mit Bananen beworfen. Und treffen die Stars aus der Nationalelf dann nicht, macht gerne das populistische Argument die Runde, wie sollte die deutsche Elf auch international mithalten können, wenn nur noch "Ausländer" in der ersten Liga spielten.

So könnten deutsche Spieler keine Spielerpraxis ausbilden. Plötzlich nehmen Ausländer den Deutschen die Mittelfeldplätze weg. Von "Ausländerschwemme" ist dann die Rede (Sport-Bild), oder das irgendwas nicht "stimmen" könne, wenn nur "zwei Germanen in den Anfangsformationen" in Bundesligamannschaften stünden (so der DFB-Präsident Gerhard Mayer-Vorfelder). Gleichzeitig werden Forderungen laut, so etwa vom Bayern-Apologeten Uli Hoeneß, man müsse auch Spieler wie Ronaldinho in die Bundesliga, er meinte natürlich Bayern München, einkaufen können, wohl angesichts der Tatsache, dass Bayern nun wirklich eine beschissene Champions League spielte.

Die Akzeptanz ausländischer Spieler im Profi-Fußball entspricht bis heute einer Art Kosten-Nutzen-Rechnung, die sich letztlich am Torverhältnis misst: wer was bringt, gegnerische Tore verhindert, eigene schießt oder gute Vorlagen bringt, der ist gerne gesehen. Wer aber versagt, für den kann es dann schon mal unangenehm werden. Gerade dann werden Unterschiede verabsolutiert. Und das ist nun nichts, was man am äußeren rechten Rand suchen müsste.

"Absolut pflegeleicht"

Auch hat die Zunahme ausländischer Spieler in den Ligen bis heute keine ethnischen Grenzen aufweichen lassen, im Gegenteil. Immer wieder werden biologische Unterschiede als gegeben vorausgesetzt und zementiert, entsprechende Verhaltensweisen abgeleitet, und dazu muss man ebenfalls nicht im Parteiprogramm der NPD nachschauen. Ob die Nordländer "zuverlässiger und anpassungsfähiger" seien als "Jugoslawen" (Uli Hoeneß), man den Tscheche nicht höre und sehe, er darum "absolut pflegeleicht" sei (Rudi Assauer), oder ob die Deutschen "etwas im Blut" hätten, "um das uns die ganze Welt beneidet" (Franz Beckenbauer). Die Konstruktion des Anderen ist schließlich immer auch eine Konstruktion des Eigenen, damit auch der eigenen Identität.

Schwierig nur, das Eigene vom Anderen zu trennen, denn woran lässt sich Deutschsein beispielsweise noch an der Nationalelf erkennen? Und macht es Sinn, wenn Bastürk und Marcelinho bei Hertha BSC angefeuert werden, im Fanblock aber etliche Rassisten mitfiebern? Interessanterweise hat sich das rassistische Potenzial in den Rängen analog zum Anstieg des ausländischen Spieleranteils in der Bundesliga der letzten Jahrzehnte entwickelt. Gerade dann scheint es wichtig zu sein, Grenzen zu markieren, wenn keiner mehr weiß, wer wo steht, der Andersfarbige auch im eigenen Team kickt und der Gegner allenfalls noch am Trikot zu erkennen ist.

Die Eigengruppe ist stets ein Konstrukt, nationale Identität und das Andere sind es auch. Und Feindbilder wie auch Ideologiefragmente bleiben austauschbar. Und derartige Beliebigkeit wird nicht zuletzt auch am Beispiel der extremen Rechten deutlich, die sich auf internationaler Ebene untereinander relativ kooperationsbereit zeigt, internationale Rechtsrockkonzerte organisiert, da kommt es sogar stellenweise zu internationalen Bandbesetzungen. Generell schreitet ein Transnationalisierungsprozess der Rechtsextremen analog zu anderen Transnationalisierungsformen seit den 80er Jahren voran. Der Kitt, der die extreme Rechte dann zusammenhält, ist die weiße Rasse, der Kampf gegen das Globale, gegen das Großkapital und gegen die multikulturelle Gesellschaft, die durch die Juden infiziert sei.

"Globalisierte Antiglobalisten"

Auf nationaler Ebene hingegen zeigt sich ein erstarkender und übersteigerter Nationalismus, der Politologe Thomas Grumke sprach darum treffend von "globalisierten Antiglobalisten". Jene flexible Handhabung zeigte sich auch bei der WM am Beispiel der NPD, die sich plötzlich vom rechten Spielfeldrand ins Geschehen einwechseln wollte, versuchte, die iranische Mannschaft am Flughafen unter skandierenden Parolen wie "Solidarität mit Iran" zu empfangen. Der iranische Präsident Mahmud Ahmadinedschad hatte mehrfach den Holocaust geleugnet und erklärt, dass Israel von der Weltkarte verschwinden müsse.

Hier fühlen sich die Rechtsextremen verstanden. Zugleich verrät der rassistische WM-Planer der NPD mit dem Slogan "Weiß - Nicht nur eine Trikot-Farbe - Für eine echte NATIONAL-Mannschaft", dass damit kein Bündnis zur Toleranz geschlossen werden soll, es weicht keine ethnischen Grenzen auf. Gerade Iranischstämmige entsprechen dem Prototyp eines "Ausländers", die nicht nur in der NPD, auch in einer No-go-Area nicht sonderlich willkommen sein werden.

Fußball ist Globalkultur. Rechtsextremismus und Rassismus aber haben sich gleichermaßen in den Rängen etabliert, auch wenn es mittlerweile viele linke Fans und Faninitiativen gibt, das nicht nur beim FC. St. Pauli. Auch auf internationaler Ebene tut sich was, die länderübergreifende Initiative "Football against Racism in Europe" (FARE) wurde von der Europäischen Kommission und dem europäischen Fußballverband UEFA gegen Diskriminierung unterstützt. Damit nimmt man den Kampf gegen jenen "Vulgärrassismus" auf, besser: gegen jene rechten Ultra-Gruppen. Rechte Tendenzen oder rassistische Zuschreibungen finden sich jedoch keinesfalls nur in diesen Ultra-Gruppierungen.

Fußball-Multikulti als Nützlichkeitsprinzip, das Anerkennen des Anderen auf Zeit, wenn es zum Eigenen wird, beziehungsweise wenn es einem Vorteile verschafft, verrät vielmehr auch so einiges über die derzeitigen Verhältnisse, so zum Beispiel auf dem Arbeitsmarkt. Denn Einreise- und auch Bleibebedingungen für Zuwanderer wurden in den letzten Jahrzehnten in der Bundesrepublik verschärft, gleichzeitig werden Forderungen laut, das Land brauche mehr Migration, um branchenspezifischen Fachkräftemängel auszugleichen und um die demografische Lücke zu schließen. Das Land sei also angewiesen auf "Ausländer, die uns nützen". Von solchen Nützlichkeitsformulierungen bleibt auch der Fußballsport nicht unberührt.

Alles wird bunter, doch alles bleibt auch schwarz-rot-gold. Und schon lange war nicht mehr so viel Deutschland und Fußball wie derzeit, die Halbzeitpizza zwischen den Spielhälften, der schwarz-rot-goldene Irokesenkamm auf dem Motorradhelm, und das Deutschlandkondom kann da nur noch eine Frage der Zeit sein. Die Klinsmänner haben sich in die Herzen der Nation geschossen. Ist das nun schlimm? Erleben wir einen neuen ungebremsten Patriotismus, sogar einen übersteigerten Nationalismus? Da braucht derzeit nun keiner gleich die Antifa anrufen, wenn schwarz-rot-goldene Fahnen aus dem Fenster wehen oder sich wer Deutschland auf die Stirn schreibt.

Wir wollen doch auch nur spielen

Denn hier platzt nichts Neues aus dem nationalen Gefüge, nichts, was es schon vor dem Anstoß gegen Costa-Rica gegeben hätte. Das ist eher das Bedenkliche. Denn die Tore von Lahm, Klose und Co waren allenfalls Auslöser für etwas, das zuvor schon existierte, das Verlangen nach Gemeinschaft, nach unverkrampftem Nationalstolz, Deutsche sein zu können, und man fragt sich nur: warum braucht man das? Vielleicht sollte man auch nicht die Frage aufwerfen, was an einem solchen Patriotismus alles positiv sein könne, sondern wie negativ es sich gegebenenfalls auswirkt? Da braucht man nur ein bisschen in den Geschichtsbüchern blättern. Und schon lange war es nicht mehr so einfach wie derzeit, mal laut Deutschland zu sagen, ohne dass man sich gleich generalverdächtig macht und in einer Diskussion über deutsche Vergangenheitsbewältigung verwickelt wird. Jetzt gibt es eine vierwöchige Legitimationsgrundlage. Das Motto: wir wollen doch auch nur spielen.

Alles vielleicht nur ein "Ersatznationalismus" auf Zeit, wie das der Bielefelder Historiker Hans-Ulrich Wehler nannte? Letztendlich muss man abwarten, was nach der WM ist oder nach dem Spiel, wenn Deutschland ausscheiden würde. Derzeit geht es vielleicht auch einfach nur um Urlaub auf Deutschland, um die Kurzbeurlaubung vom Reformstau, um ein Miteinander, wo doch sonst so viel Einzelkampf ist. Da werden plötzlich Nachbarschaftsverhältnisse aktiviert, Kühlschränke mit Bier gemeinsam aufgefüllt und der Hinterhof samt Großleinwand zur national betreuten Zone erklärt. Bedenklich nur, wenn Spiel und Ernst verwechselt werden, und das wäre nun im Fußball nichts Neues und gerade in der jetzigen Zeit nicht verwunderlich.

Derzeit läuft es bei der deutschen Elf gut, kein Wunder, dass man da mal ein bisschen lachen, gutdeutschlanddrauf sein darf und sich gastfreundlich verkauft. Längerfristige Solidarität hat aber immer etwas mit dem Portemonnaie zu tun. Denn die Gäste aus aller Welt werden Gäste bleiben, sie werden wieder abreisen, sie sind darum keine realen Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt. Es gibt darum auch keine reale Konkurrenzsituation.

Dass nun aber das Einfordern von Etabliertenvorrechten und auch konkurrenzorientierte Fremdenfeindlichkeit in Deutschland seit Jahren ansteigen, wie der Rechtsextremismusforscher Wilhelm Heitmeyer mit seiner Forschungsreihe "Deutsche Zustände" zeigt, auch die Kurve rechtsextremer Gewalt nach oben zeigt, gleichzeitig sich aber ganz Deutschland als multikultureller Anspielpartner zum Doppelpass auf der Fanmeile freiläuft, das wirkt doch etwas seltsam. Denn Konkurrenzempfinden und rassistisches Potenzial wird es sicher auch nach dem WM-Abpfiff geben.