Multimedia gab es schon immer

Ein Gespräch mit Johannes Fried, Professor für mittelalterliche Geschichte

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Johannes Fried ist Professor für mittelalterliche Geschichte an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Schwerpunkte seiner Forschungen sind das Früh- und Hochmittelalter sowie die Geschichte von Bildung und Wissen, Erinnern und Vergessen im Mittelalter. Fried ist Vorsitzender des Verbandes der Historiker Deutschlands und Sprecher des Anfang dieses Jahres von der Deutschen Forschungsgemeinschaft neu eingerichteten Forschungskollegs "Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel". Gemeinsam mit dem gleichzeitig an der Universität Köln eingerichteten Kolleg "Medien und kulturelle Kommunikation" ist das das erste von der DFG geförderte kulturwissenschaftliche Forschungskolleg überhaupt.

Herr Fried, vor kurzem ging eine Meldung durch die Presse, wonach Johannes Gutenberg zum "Mann des Jahrtausends" gekürt worden war. Was halten Sie davon?

Johannes Fried: Das sind natürlich sehr plakative Beurteilungen. Genau so gut könnte man anderen Entdeckern wie Christoph Columbus oder Erik dem Roten diesen Rang zuerkennen. Aber es ist zweifellos richtig, daß Gutenberg eine Revolution bewirkt hat, die den Medienmarkt verändert hat.

Aufbauend auf einer Entwicklung mit langer Vorgeschichte . . .

Johannes Fried: Vor Gutenberg gab es bereits die Einblatt-Drucke, also ganz als Holzschnitt gearbeitete Schriften. Was Gutenberg erfunden hat, sind nur die beweglichen Lettern. Das bewirkte die Revolution. Bis dahin hatten wir nur die ausgesprochen langwierige Handschriften-Produktion: Die Abschrift einer normalen juristischen Handschrift aus der Zeit um 1450 dauerte, je nach Qualität, ein bis zwei Jahre. Hinzu kam ein großer Rohstoffverbrauch. In dem Pergament eines solchen Buches steckt locker eine ganze Schafherde. All das bedeutete für die Verbreitung des Wissens erhebliche Schwierigkeiten. Durch Gutenberg kam nun eine Technik ins Spiel, die Massenproduktion ermöglichte.

Wurden diese Möglichkeiten auch von den Zeitgenossen schon erkannt?

Johannes Fried: Ja. Die ersten Buchdrucke waren natürlich noch keine Massenwaren. Von den Inkunabeln wurden häufig nur wenige Exemplare gedruckt. Aber entscheidend ist die Möglichkeit, Schriften in immer gleicher Weise zu vervielfältigen. Die hat sich relativ schnell, innerhalb von zwei Generationen, durchgesetzt. Sehen Sie sich nur den rasch entstehenden Buchmarkt an: Die Frankfurter Messe wird zur Buchmesse schlechthin, was durchaus mit Gutenberg zusammenhängen mag, der seine 42-zeilige Bibel hier wahrscheinlich zum ersten Mal vorgeführt hat. Auch die Kirche erkennt, daß sich hierüber geistige Prozesse steuern lassen, und läßt den Index, eine Liste verbotener Bücher, entstehen. Man hat schon damals also sehr wohl erkannt, daß hier ein völlig neues Instrument zur Verbreitung von Wissen geschaffen wurde, das dieses Wissen schnell, effektiv und dauerhaft bereitstellt.

Die verschiedenen Formen der Produktion, Verbreitung und Nutzung von Wissen untersuchen Sie in dem Forschungskolleg "Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel". Was ist eine Wissenskultur?

Johannes Fried: Das sind zunächst einmal zwei Komponenten: die Kultur und das Wissen. Es geht um den Umgang mit dem Wissen, wobei ich von Georg Simmels Gedanken ausgehe, daß Kultur immer mit der Verbesserung von etwas zu tun hat. Dabei ist die Zuordnungssituation dessen, was verbessert werden soll, zu dem, der es verbessert haben möchte, immer mit vorhanden. Das ist eine dialektische Situation.

Wissen ist, auf eine knappe Formel gebracht, verfügbare Erfahrung. Erfahrung, die in allen Lebensbereichen angesiedelt ist: auf der bewußten, intellektuellen Ebene, im Wissen von geistigen Inhalten und körperlichen Fähigkeiten, aber auch im Wissen von unbewußten Vorgängen, die ja auf denselben Prozessen im Gehirn beruhen. Das ist ein viel umfassenderer Wissensbegriff als der auf Aristoteles zurückgehende, der nur das als Wissen anerkennt, was durch einen formalen Beweis gesichert ist.

Gibt es eine, vielleicht vorläufige, Typologie von Wissenskulturen?

Johannes Fried: Nein, die gibt es noch nicht. Sie könnte ein Ergebnis unseres Forschungskollegs sein. Unser Forschungszeitraum beginnt in der Steinzeit und endet in der Gegenwart, wir haben es also mit sehr unterschiedlichen Kulturen und mit sehr unterschiedlichem Wissen zu tun. In der Steinzeit geht es um Wissen, das sich zum Beispiel in den Dekors von Keramik manifestiert. Solche Dekors könnten Geheimwissen für einzelne Gruppen, etwa für die Frauen in einem Dorf, gewesen sein. Wenn nun eine Frau durch Heirat in ein anderes Dorf zog, mußte sie umlernen und sich mit anderen Zeichen vertraut machen. Das ist natürlich eine völlig andere Kultur als die elektronisch vernetzte Hochkultur der Gegenwart mit einem Wissensreservoir, das das gesammelte Wissen der gesamten Menschheit fast unmittelbar zur Verfügung stellt.

Könnte man die Menschheitsgeschichte grob in die drei Epochen Mündlichkeit, Schriftlichkeit, Multimedialität einteilen?

Johannes Fried: Mündlichkeit und Schriftlichkeit sind sicherlich brauchbare Kategorien, wobei das allerdings nie ausschließlich benutzte Kulturinstrumente sind. Multimedia liegt demgegenüber auf einer anderen Ebene. Es gibt keine mündliche Kultur, die nur Mündlichkeit hat. Sie haben da auch immer andere Medien wie Tanz, Bilder oder Rituale.

Man konnte ja bis ins 20. Jahrhundert hinein noch solche Kulturen untersuchen, etwa Papua-Stämme in den Hochländern auf Neu-Guinea, die in den dreißiger Jahren überhaupt erst bekannt geworden sind. Bei denen war das Wissen an bestimmte Objekte geknüpft: Verschwindet das Objekt, verschwindet das Wissen. Es gibt Geländemarkierungen, die über das Begehen des Geländes eine Orientierung in der Vergangenheit ermöglichen: Gedächtnismale, Gedächtnislandschaften, Gedächtnisräume. Die sind bei den Aborigines in Australien recht gut untersucht worden. Aber bei den Papuas gibt es das genauso. Da gibt es in den Männerhäusern dingliche Symbole für ein bestimmtes Geschehen, das draußen in der Landschaft noch einmal durch ein Geländemal repräsentiert ist. Die jungen Leute können also über die für den Stamm wichtigen Dinge im Haus und im Gelände belehrt werden. Das sind Medien, die nicht an Mündlichkeit gebunden sind, sondern begangen und erfühlt werden können. Oder nehmen Sie den Tanz: Da gibt es bestimmte Bewegungsfiguren, die ihre Bedeutung haben. Eine Vielfalt der Medien - Multimedialität - gab es also schon immer. Ich vermute, daß das sehr früh, wahrscheinlich schon mit der Menschwerdung, einsetzt.

Aber hat die Schriftkultur diese Vielfalt nicht zurückgedrängt? Manche Untersuchungen unterscheiden deutlich zwischen analytischen Denkmustern bei Schriftkulturen und eher synthetischen, integrierenden in mündlichen Kulturen.

Johannes Fried: Diese klaren Unterscheidungen gibt es in der Realität nicht. Es gibt keine reine schriftliche Kultur, sondern mündliche Kulturen, die sich auch der Schrift bedienen. Umgekehrt gibt es mündliche Kulturen, die sich zwar nicht der Schrift bedienen, aber noch über andere Elemente verfügen. Die spielen bei uns zum Teil heute noch eine wichtige Rolle. Nehmen Sie etwa offizielle Empfänge: Da ist das gesamte Zeremoniell genau festgelegt, alles hat seine Bedeutung. Sie dürfen sich nicht vordrängeln, dürfen vor der Königin nicht sitzen und so weiter. Das sind Rituale die ihre Wurzeln im Tanz früherer Gesellschaftsstufen haben.

Wenn wir von Schriftkultur reden, reden wir also von einer Kultur, die nahezu alle anderen Medien auch noch kennt, die Schrift aber vielleicht als entscheidendes Medium betrachtet. Ich sage "vielleicht", weil ich nicht ganz sicher bin, daß die Mündlichkeit dann gar keine Rolle mehr spielt. Es ist eines meiner Forschungsgebiete, auf denen ich gerade arbeite. Dabei begegne ich immer wieder Konstellationen wie dieser: Der Lehrer unterrichtet an der Schule - das ist Mündlichkeit. Aber der Lehrer hat das alles aus schriftlich angelesenem Wissen. Jetzt kolportiert er das Wissen mündlich an die Schüler, und die kolportieren es erst einmal mündlich weiter. Da entsteht eine mündliche Kultur, wenn Sie so wollen. Aber es ist natürlich bereits eine Mischkultur aus Schriftlichkeit und Mündlichkeit.

Die Mündlichkeit als Basis des Unterrichts wird auch bleiben. Das sagen selbst Medienpädagogen, die massiv für den Einsatz von Computern in der Schule plädieren.

Johannes Fried: Schauen Sie sich die heutige Medienkultur an - von den Zeitungen einmal abgesehen: Rundfunk ist eine Hörkultur, Fernsehen ist eine Hör-Bild-Kultur. Stellen Sie einmal bei einem Film den Ton ab, dann merken Sie welche Bedeutung die Musik und die Geräusche haben. Also, wir haben immer noch eine Mischung aus audieller, visueller und literarischer Kultur. Und wir haben immer noch Symbole, wir kennen etwa die Bedeutung bestimmter Handgesten. Die können praktisch nicht protokolliert werden. In der Diskussion ums Dritte Reich gibt es viele solcher Szenen: Wir haben keinen schriftlichen Befehl von Hitler über die Vernichtung der Juden oder von Goebbels zur Saalschlacht. Da gab es nie einen Befehl. Es genügte eine Handbewegung, und alle wußten genau Bescheid, was gemeint war. Nehmen Sie den nach oben oder unten gereckten Daumen: Es fällt kein Wort, aber jeder versteht die Geste sofort, auch heute noch.

Unsere Gegenwart wird auch gelegentlich als "zweite Mündlichkeit" bezeichnet. Aber es ist doch eine Mündlichkeit auf einem viel höheren Niveau: Wir sind nicht mehr auf fahrende Sänger angewiesen, um die mündlichen, audiovisuellen Botschaften zu übermitteln, sondern können sie extern speichern und nach Belieben abrufen.

Johannes Fried: Ja, aber man darf dabei nicht übersehen: Diese neue Kultur der Mündlichkeit beruht etwa auf Fernsehen und Hörfunk. Wenn Sie diese Medien steuern, wenn Sie sie bestücken wollen, brauchen Sie die Literalität. Das heißt, Sie bekommen in gewisser Weise eine Hochkultur und eine Subkultur. Innerhalb einer Kultur, die ihre leitenden Gesichtspunkte weiterhin schriftlich bringt, kann eine rein mündliche Kultur nur eine Subkultur sein.

Also bleibt die Schrift auch in fernerer Zukunft ein wichtiges Medium?

Johannes Fried: In absehbarer Zukunft auf jeden Fall. Ich kann natürlich nicht sagen, wie das in 50 oder 100 Jahren aussieht. Allerdings würde ich vermuten, daß auch in 50 Jahren noch Bücher gedruckt werden, wahrscheinlich sogar noch in 100 Jahren, weil es eben doch ein anderes Medium ist als die Elektronik. Ein Buch können sie jederzeit in der Hosentasche mit sich führen.

Der Gebrauch von Schriftzeichen erscheint uns selbstverständlich, beruht aber auf einer sehr komplexen Hirntätigkeit, die ein mehrjähriges Training in früher Kindheit erfordert. Ist es nicht denkbar, daß die Computer uns neue Kommunikationsformen erschließen, die die Schrift irgendwann überflüssig machen?

Johannes Fried: Sofern die Zivilisation nicht insgesamt zusammenbricht, wird die Schrift bleiben. Ein Medium kann ein anderes ja nur ablösen, wenn es das Wissen noch besser transportiert. Auf das Wissen können wir nicht verzichten, es wird sogar noch zunehmen und dabei immer spezialisierter werden, weil die einzelnen Wissensfelder sich immer weiter ausdehnen. Kein Mensch kann mehr alles beherrschen, sondern muß glücklich sein, wenn er in seinem speziellen Bereich etwas kann. Gleichzeitig wächst natürlich der Bedarf zur Vernetzung dieser einzelnen Bereiche. Es wird also auch Spezialisten für das Zusammenführen dieser Wissensbereiche geben. Die werden ihre eigenen Techniken und Hilfsmittel haben, wobei Computer gewiß eine große Rolle spielen werden.

Mit diesem Problem, verschiedene Spezialgebiete zusammenzuführen, sind Sie in Ihrem Forschungskolleg ja auch konfrontiert. Wie gehen Sie das an?

Johannes Fried: Zunächst einmal mit den traditionellen Mitteln der Universität, also regelmäßige Veranstaltungen wie Vorlesungen, Seminare und Kolloquien. Dann gibt es eine ganze Sequenz von kooperativen Veranstaltungen zwischen kleineren Gruppen, bei denen etwa zwei oder drei Kollegen gemeinsam ein Seminar über mehrere Semester veranstalten, so daß sie sich langsam aufeinander einstellen können.

Die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte haben gezeigt, daß die Interdisziplinarität nur schwer funktioniert, weil wir viel zu wenig vom anderen wissen. Wir spüren schon ganz unmittelbar die Spezialisierung und die Begrenzung, die sie mit sich bringt. Dabei muß man gerade als Historiker im Grunde alles wissen. Wenn man verstehen will, warum eine Kultur sich so und nicht anders entwickelt hat, muß man nicht nur die untersuchte Kultur, sondern auch die fremden Kulturen kennen. Man braucht also ein ungeheuer breites Wissen das natürlich die Fähigkeiten eines jeden einzelnen übersteigt. Da ist Teamwork zwingend erforderlich. Wir suchen zum Teil noch nach Wegen, das besser hinzukriegen.

Da müßten Ihnen moderne Medien wie CD-Rom und Internet eigentlich gute Dienste leisten können.

Johannes Fried: Ja, natürlich. Die Technik steht uns zur Verfügung und wird auch von uns genutzt.

Die Technik stelle ich mir als das geringere Problem vor. Schwieriger dürfte die Entwicklung geeigneter Software sein.

Johannes Fried: Da haben Sie recht. Diesen Bereich halte ich für ausgesprochen wichtig. Damit müssen wir viel experimentieren, um uns die Ausdrucksmöglichkeiten zu erschließen, die die wechselseitige Kombination von Ton, Bild, Sprache, Symbol, Bewegung bietet. Ob uns das gelingt, ist natürlich offen. Zur Zeit haben wir in dieser Richtung nichts geplant. Es kann aber gut sein, daß es auf einer späteren Stufe gleichsam wie von selbst hinzu kommt.

Haben Sie für das Forschungskolleg Etappenziele formuliert? Es wird ja jetzt zunächst einmal nur für drei Jahre gefördert.

Johannes Fried: Das ist die übliche Vorgehensweise. Nach drei Jahren wird kontrolliert, ob wir auf dem richtigen Weg sind. Wir gehen davon aus, daß das Projekt insgesamt 15 Jahre laufen wird. Da gibt es natürlich Etappen: Das eine oder andere Projekt ist nur auf drei oder fünf Jahre angelegt, andere laufen länger, bestehen aber aus mehreren Teilprojekten, die zwischendurch erste Ergebnisse vorlegen. Jede einzelne abgeschlossene Arbeit ist eine Etappe. Die größeren Ziele sind zusammenfassende monographische Abhandlungen.

Eine Website des Forschungskollegs gibt es noch nicht?

Johannes Fried: Nein, die ist aber geplant. Wir streben keine einheitliche Veröffentlichungsform an. Ich denke, daß wir insgesamt eine Reihe mit unseren Veröffentlichungen produzieren werden, damit wir unsere Ergebnisse auch vorweisen können. Aber es steht jedem frei, seine Arbeiten auch im Internet zu publizieren. Ich persönlich würde diesen Weg nicht für eine Erstveröffentlichung wählen, weil ich das Buch immer noch für das universellere Medium halte. Die Elektronik ist zwar nützlich, aber weder ästhetisch noch dauerhaft. Bei dem derzeitigen Tempo, mit dem sich die Software verändert, müssen Sie Internet-Publikationen alle paar Jahre neu aufbereiten, um sie allgemein verfügbar zu halten.

Die Geisteswissenschaften scheinen bei der Nutzung moderner Medien den Naturwissenschaften etwas hinterherzuhinken.

Johannes Fried: Was heißt hinterhinken? Ein Kernphysiker etwa, der mit einem Teilchenbeschleuniger Experimente durchführt, kann seine Daten gar nicht anders auswerten als mit dem Computer. Wir arbeiten dagegen mit Urkunden, mit dem, was Menschen in der Vergangenheit geschrieben haben. Zum großen Teil handelt es sich dabei um Handschriften. Die können Sie fotografieren und ins Internet stellen oder auf CD-Rom veröffentlichen. Das wäre aber mit einem immensen Aufwand an Zeit und Kosten verbunden, so daß man sich fragen muß, ob sich das wirklich lohnt. Spätmittelalterliche Texte zum Beispiel verwenden teilweise sehr komplizierte, heute nicht mehr gebräuchliche Schreibweisen. Da hilft Ihnen kein Computer-Programm, einen Index zu erstellen. Das geht von Hand viel schneller. Und das gilt auch für viele andere Arbeitsgänge.

Sie beschäftigen sich als Mittelalterhistoriker auch mit dem Übergang von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit. Sehen Sie da Analogien zur heutigen Situation, etwa was Medienkritik und Medienskepsis betrifft?

Johannes Fried: Eigentlich nicht. Die Analogie ist rein formal: Ein neues Medium ist im Anmarsch, das wir lernen müssen zu bewältigen. Aber die Gesamtkonstellation ist eine ganz andere. Wir sind ja auch ohne Computer schon an Medien gewöhnt gewesen, sind langsam, das heißt in einem Generationenprozeß, hineingewachsen. Ich bin im Jahr 1942 geboren worden, habe in den fünfziger Jahren die Einführung des Fernsehens erlebt, in den sechziger Jahren die elektrische Schreibmaschine. Dann kamen die ersten Speicherschreibmaschinen hinzu und schließlich der Computer. Ich erinnere mich noch, wie ich auf einem Foto zum ersten Mal einen Schriftsteller vor einem Computer sitzen sah und dachte: "Donnerwetter, das sind ja tolle Schreibmaschinen!"

Im Vergleich zur Durchsetzung der Schrift ging das aber doch enorm schnell.

Johannes Fried: Ja, aber wir waren es ja schon gewohnt, mit solchen Medien umzugehen. Wir haben die kulturelle Erfahrung des Medienwechsels. Insofern regt uns ein erneuter Medienwechsel nicht mehr so auf.

Es kommt hinzu: Das Medium Schrift ist im frühen 20. Jahrhundert universal gewesen, es hat jeden Lebensbereich erfaßt, Wissenschaft und Politik ebenso wie das Privatleben in Tagebuchaufzeichnungen oder persönlichen Briefen. Dagegen wurde die Schrift im europäischen Mittelalter oder in afrikanischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts nur in ganz bestimmten gesellschaftlichen Bereichen eingesetzt, etwa in der Religion. Im antiken Griechenland oder in Mesopotamien wurde die Schrift für Wirtschaftstexte verwendet. Nur ganz langsam kamen Chroniken oder zeitgeschichtliche Aufzeichnungen hinzu, ganz spät die Religion. Davor tauchen vielleicht mal ein paar Götternamen auf, aber keine Mythen. Die Mythen wurden noch lange Zeit nach der Einführung von Schriftzeichen mündlich erzählt.

Wenn eine Analogie möglicherweise zu kurz greift, so könnte ich mir aber dennoch vorstellen, daß eine Untersuchung des Übergangs von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit helfen kann, unsere heutige Situation des Medienwandels besser zu begreifen. Ich hatte eigentlich vermutet, daß das auch ein Anliegen des Forschungskollegs wäre.

Johannes Fried: Es kann durchaus sein, daß sich eine solche Fragerichtung noch langsam aufbaut. Im Augenblick ist das nicht der Fall. Das hängt schlicht damit zusammen, daß wir zwar diachron angelegt sind, aber keine Kontinuität des Wandels der Wissensformen abdecken. Wir haben ein Projekt zur Steinzeit, eins zur alten Geschichte, eins zur antiken Philosophie, eins zur Philosophie der Aufklärung und zwei Mittelalterprojekte, wiederum ein historisches und ein philosophisches. Damit haben wir keine Kontinuität, sondern gleichsam einzelne Wissensinseln im Verlauf der Geschichte.

Die Kontinuität streben Sie aber im Verlauf des 15jährigen Forschungsprojekts an?

Johannes Fried: Wenn es gelingt. Es ist immer die Frage, ob man den Punkt findet, an dem man sich treffen kann. So eine Begegnung muß ja immer gleichsam einen geistigen Funken auslösen, damit sie etwas bewirken kann. So etwas läßt sich nicht herbeizwingen. Sie können nur sagen: Wir wollen bereit und offen sein und schauen, ob wir etwas finden. Aber selbst, wenn Sie es sind, heißt das noch nicht, daß der Funke kommt. Das ist die Schwierigkeit bei solchen Projekten. Wir sitzen alle an derselben Oberfrage und hoffen, daß dabei etwas herauskommt, das die Antworten insgesamt auf ein neues Niveau stellt.

Wie lautet die Oberfrage?

Johannes Fried: Die Oberfrage ist: Wie ändert sich die Wissenskultur im Lauf der Zeit? Wobei Wissenskultur wiederum die Wechselwirkung beinhaltet zwischen dem Bereich des Wissens und dem Bereich des Wissenden. Es geht um den Bereich der Gesellschaft, den Bereich der Wissenskultur in einer Gesellschaft und die Wechselbeziehungen zwischen beiden. Also: sozialer Wandel durch Wissen und durch die Kultur des Wissens, aber auch der umgekehrte Blick: Veränderung des Wissens durch Veränderungen innerhalb der Gesellschaft. Das ist eine Wechselbeziehung, die kontinuierlich wirksam ist.

Schön wäre es in der Tat, wenn wir das diachron miteinander verbinden könnten im Sinne des vorhin angesprochenen typologischen Vorgehens: Können wir sehen, wie der eine Typus in den anderen übergeht? Aber die Brücken, die eine solche Verbindung schaffen könnten, müssen wir erst noch finden.