NATO vom Baltikum bis ans Schwarze Meer
Militärallianz will noch dieses Jahr umfangreiche Erweiterung Richtung Osteuropa beschließen
Was bis vor kurzem unmöglich schien, soll nun im Eilverfahren beschlossen werden. Die NATO könnte am Ende diesen Jahres vom Baltikum bis an das Schwarze Meer reichen. Die Integration weiter Teile des 1991 aufgelösten Warschauer Paktes in das Nordatlantische Militärbündnis steht auf der Tagesordnung des nächsten NATO-Gipfels, zu dem sich Ende November die Regierungs- und Staatsoberhäupter der NATO-Staaten in Prag treffen.
Das Gastgeberland, die Tschechische Republik, ist mit Ungarn und Polen selbst erst im Frühjahr 1999 Mitglied der NATO geworden. Neben dem Abschluss der ersten Osterweiterungsrunde proklamierte das weltweit dominierende Militärbündnis damals seine neue Doktrin, die auch sogenannte Out of Area-Einsätze außerhalb des eigenen Territoriums ohne UN-Mandat vorsieht. Mit dem Krieg gegen Jugoslawien wurde das neue Selbstverständnis auch gleich in die Tat umgesetzt.
Während die erste Phase der NATO-Osterweiterung vor drei Jahren noch für kontroverse Diskussionen sorgte, vollziehen sich die Planungen für die zweite Runde im Stillen. Galten lange Zeit nur wenige ausgewählte Länder als mögliche Kandidaten, setzt die Militärallianz nach dem 11. September bei der Erweiterung nun auf einen "big bang", wie es im NATO-Jargon heißt. Die größtmögliche Zahl an ost- und südosteuropäischen Ländern soll bis November beitrittsreif sein, fordert NATO-Generalsekretär Lord Robertson. Diese Option wird auch von US-Präsident George W. Bush verfolgt, der sich damit gegen Kreise aus dem Pentagon stellt, die den Sinn der NATO zunehmend in Frage stellen und auf flexible Allianzen setzen, welche der jeweiligen Interessenlage der USA entsprechen.
Auch die deutsche Bundesregierung spricht sich für eine weitreichende NATO-Erweiterung aus, wie Bundesverteidgiungsminister Rudolf Scharping (SPD) Ende April in einer Rede vor dem American Enterprise Institute in Washington deutlich machte. Bisher sind 19 Länder Mitglied der Allianz. In NATO-Kreisen wird davon ausgegangen, dass sieben Kandidaten aufgenommen werden. Neben den drei baltischen ex-Sowjetrepubliken Estland, Litauen und Lettland stehen die Schwarzmeeranrainer Bulgarien und Rumänien auf der Prioritätenliste ganz oben. Außerdem werden die Slowakei und Slowenien als wahrscheinliche Kandidaten gehandelt.
Für die USA scheint insbesondere die Integration von Bulgarien und Rumänien von strategischem Interesse zu sein. Diese Länder bilden als Anrainer des Schwarzen Meers einen Teil der Westflanke der umstrittenen eurasischen Krisenregion, die sich von dort über das Kaspische Meer bis nach China erstreckt. Nach dem Ende der sowjetischen Hegemonie über dieses rohstoffreiche Gebiet toben hier Verteilungskämpfe, die maßgebliche US-amerikanische Strategen für die zentrale weltpolitische Herausforderung des beginnenden 21. Jahrhunderst halten (Und morgen die ganze Welt).
Der rumänische Aussenminister Mircea Geoana erklärte, dass US-Militärs bereits in den nächsten Monaten damit beginnen werden, Militärinstallationen in Rumänien und Bulgarien zu nutzen. Dabei handelt es sich um die Flughäfen von Fetesti und Timisoara, sowie den Schwarzmeerhafen Constanta.
Weitgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit hat die US-Armee im Windschatten des Krieges in Afghanistan Ende April damit begonnen, Militärberater auch in den östlichen Schwarzmeeranrainer Georgien zu entsenden, um dort gegen "islamistische Gruppen" vorzugehen. Diesem Land kommt eine zentrale Bedeutung für den Zugang zu den Erdölvorkommen am Kaspischen Meer zu.
Der par force Ritt bei der NATO-Osterweiterung und das Vorgehen der USA in Mittelasien birgt Sprengstoff für die Beziehungen des Westens mit Russland. Präsident Wladimir Putin drängt nach dem 11. September aber auf eine Annäherung an den Westen, die gerade in der Kooperation mit der NATO und den USA die Möglichkeit sieht, die strategischen Interessen Russlands zumindest partiell durchzusetzen (NATO und Russland). Trotz erheblichen Konfliktpotenzials scheint Putin die großangelegte NATO-Erweiterung zu akzeptieren. Wie gestern von NATO-Generalsekretär George Robertson und dem russischen Außenminister Igor Iwanow nach einem Treffen der Außenminister in Reykjavik bekannt gegeben wurde, haben sich die NATO und Russland auf eine enge Zusammenarbeit in einem gemeinsamen Rat geeinigt. Ein entsprechendes Abkommen werde Ende des Monats in Rom unterzeichnet.
Für Verstimmung könnte allerdings die schwelende Auseinandersetzung über die Zukunft der russischen Enklave Kaliningrad sorgen. Nach einer Aufnahme der baltischen Republiken in die westliche Militärallianz würde das ehemalige ostpreußische Königsberg als ein Teil Russlands von NATO-Gebiet umgeben sein. Dies nährt in Moskau Befürchtungen, die Enklave könnte sich gänzlich von Russland lossagen.