Und morgen die ganze Welt

Über die geo- und machtpolitische Kontinuitäten des Krieges an der Südwestfront Eurasiens

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Mit der Ankunft der funktionsdifferenzierten Weltgesellschaft geht, so haben wir zuletzt gelernt, die Zeit der "hegemonialen Sonderwege" und "geografischen Sonderlagen" unwiderruflich zu Ende (Der elfte September). Im "System der Nationalstaaten" begegnen sich Staaten und Nationen auf Augenhöhe. Darin "genießt jedes Element", unabhängig und verschieden von seiner territorialen Größe, militärischen Macht oder technologischen Entwicklung, dieselbe Relevanz und "Form von Legitimität". Dieser Optimismus, der auch noch nach dem elften September von Systemsoziologen verbreitet wird, ist allerdings nicht besonders originell. Spätestens seit dem westfälischen Staatensystem verfolgt und speist er das alteuropäische Denken. In die Lehre von den internationalen Beziehungen hat er Eingang und Aufnahme gefunden. Studenten der Politikwissenschaft lernen und wissen das.

Eng gekoppelt mit der Idee von der "Gleichrangigkeit" und "Gleichberechtigung kleiner und großer Staaten" ist auch die Vorstellung von der Raum- und Ortlosigkeit der Weltgesellschaft. Die wachsende Vernetzung von allen mit allen erlaubt es diesem Gesellschaftstyp, seine Besorgnisse, Konflikte und Nöte auf Anschlusskommunikationen zu stützen und sich jenseits von Territorium, Raum und Geopolitik in globalen Kommunikationszusammenhängen neu zu formieren. Im lichtschnellen Datenfluss, der Wirtschaft, Wissenschaft und Massenmedien durchschießt, verdampfen diese alteuropäischen Kräfte und Mächte der Nationalstaaten. Wie Schweizer Käse werden sie und ihre Brandmauern von den Bits und Bytes der elektronischen Kommunikation durchlöchert. Und mit dem Verlust von "Verortung und Ortbarkeit" einher geht, so die systemsoziologische Glaubens und Heilsbotschaft, auch die "Überwindung hegemonialer internationaler Regimes".

Gott hat uns gerufen, um die Welt zu zivilisieren; wir sind die Missionare des menschlichen Fortschritts und das Salz der Erde.

Kaiser Wilhelm II.

Die Ereignisse der letzten Wochen und Monate in Amerika und Zentralasien lehren uns aber längst etwas anderes. Sie zeigen, dass der erstaunlichen Entfaltung, den die technischen Mittel der Verkehrs- und Mitteilungsmöglichkeiten in den letzten Jahrzehnten genommen haben, weder die Abschaffung des politischen Raums und Territoriums noch eine bessere, gerechtere und glücklichere Zukunft nachfolgen. Das System "kommunikativer Erreichbarkeit", das sich infolge grenzüberschreitender Medien (Flugzeug, Radio, Internet...) global etabliert, übt keinesfalls bloß neutralisierende, pazifizierende und entpolitisierende Wirkungen auf Staaten, Organisationen und Netzwerke aus. Im Gegenteil! Mobilität, Flexibilität und Freiheit, die die wirtschaftliche und technische Globalisierung begleiten, offenbaren sich eher als Medien des Politischen denn als Katalysatoren des "Ewigen Friedens".

Die Ereignisse zeigen aber auch, dass mit dem System echtzeitlicher Kommunikation weder die Zeit der Ideologien und der politischen Mythen vorbei noch die Geo- und Machtpolitik ein Relikt vergangener Zeiten ist. Die Universalisierung von Freihandel und Meinungsfluss; die digitale Alphabetisierung und Anbindung entfernter Zonen und Peripherien an den Welthandel; der "Krieg neuen Typs" gegen den globalen Terrorismus; die Ausweitung des kosmopolitischen Diskurses auf fremde Stämme und Kulturen; der Auf- und Ausbau internationaler Organisationen wie WB, IWF, G-8 etc: all das und vieles mehr sind vielmehr globale Strategien eines postmodernen Imperialismus und Neokolonialismus. Diese Maßnahmen dienen dazu, den Handlungsraum einer bestimmten kulturellen Macht- und Großraumordnung nach Osten hin auszudehnen und ihre Einflusssphäre dort politisch und ideologisch dauerhaft zu stärken und zu festigen.

Unser Ziel sollte es vielmehr sein, den Planeten zu verwestlichen.

Richard Rorty

Während in Deutschland Bedenken und Vorbehalte gegenüber geopolitischen Machtdiskursen immer noch da sind, haben ihre Meme die Köpfe von Politstrategen und Strippenzieher in Italien und Frankreich, in Russland und den USA längst infiziert. Vor allem dort finden Deutungsmuster und Weltbilder, wie sie einst Friedrich Ratzel, Karl Haushofer und Carl Schmitt für den kontinentalen oder Sir Halford Mackinder, Alfred Thayer Mahan und Nicolas J. Spykman für den angelsächsischen Raum entworfen haben, regen Zuspruch.

Anders als der Systemkonstruktivismus, der soziale Funktionssysteme als wechselseitig sich ausschließende horizontal verortet, ordnen Geopolitiker Staaten, Nationen und Regionen vertikal an. Anstatt von Ebenbürtigkeit und abstrakter Legitimität sprechen sie von Hinterhöfen, Einflusszonen und Hoheitsgebieten, sie bezeichnen Nationen als Rivalen, Vasallen oder Tributpflichtige und unterteilen sie in allied oder rogue, failed oder ending states. Und anders als für den Systemkonstruktivismus errechnet sich die Funktion, Bedeutung und Stellung eines Staates oder einer Region im weltpolitischen System auf der Grundlage seiner geografischen Lage.

Territoriale Größe, Vielzahl der Grenzen, Meerzugang, Bodenbeschaffenheit, Klima, usw. gehören dabei ebenso dazu wie Bodenschätze, Infrastrukturen, Bevölkerungsdichte, demographische Entwicklung usw. Außer diesen klassischen "geopolitischen Codes" (John Gaddis), die ein Territorium substantiell definieren, spielen neuerdings auch Soft Power-Elemente eine tragende Rolle: das Bruttosozialprodukt und die technotronische Entwicklung etwa, die politische Stabilität und die militärische Schlagkraft, die ideologische Ausstrahlungskraft und der Bildungsstand einer Nation.

Die hektische Betriebsamkeit und der blinde Aktionismus, die unsere hiesigen Kultusminister wegen der Pisa-Studie erfasst haben, verwundern daher nicht. Schließlich ist dadurch der Standort Bundesrepublik beim Gerangel um Investitionen und Unternehmensansiedlungen erneut in Verruf gekommen. Nach Wirtschaftswachstum und Arbeitslosenrate droht er im Ranking der Nationalstaaten auch noch im Ausbildungssektor auf die hinteren Ränge zurückgefallen.

We found our mission.

George W. Bush

Auch wenn Karten und Geografien, die "Unregelmäßigkeiten des Geländes" oder die Verschiedenheit der "Sprachen, Religionen, Provinz- oder Staatsgrenzen" (Yves Lacoste) darstellen, ihre Arbeitsgrundlage bilden, mit exakter Wissenschaft hat Geopolitik jedenfalls nichts zu tun. Von Strategie und Propaganda, von Ideologien und Interessen ist sie ebenso nicht zu trennen wie vom Schmieden wechselnder Koalitionen, Allianzen und Bündnisse auf Zeit, die von nationalen Interessen geleitet und vom Gebrauch politischer Druckmittel wie Embargos, Erpressung oder Eingriffe in Geldkreisläufe begleitet werden. Die geografische Logik, die dieser Politik Argumente und Munition liefert, dient bestenfalls dazu, "Machtrivalitäten unter Konkurrenten" zu erklären und Macht- und Raumnahmen ideologisch zu rechtfertigen. Die militärische Besetzung, technische Überwachung und kulturelle Kontrolle von Territorien sind Mittel, um Macht und Einfluss auf und über Menschenkörper und Ressourcen zu erlangen und auszuüben.

Europa im Zentrum, Bild 1

Es verwundert darum nicht, wenn vor allem in den USA die "community of global thinkers" (Foreign Affairs) wachsenden Gefallen am kombinatorischen Spiel mit Figuren und Kalkülen in Sandkästen, auf Landkarten oder Schachbrettern findet. Seit dem Fall der Mauer, dem Sturz eines weltgeschichtlichen Rivalen und dem Ende der bipolaren Weltordnung wird die Weltlage besonders von amerikanischer Seite als höchst instabil, unübersichtlich und gefährlich eingestuft. Die Sorgen und Ängste vor weltweiter Anarchie und unkontrollierter Proliferation wachsen; Stimmen, die nach politischer Führung (US-Global Leadership) und militärischer Einhegung blindwütiger Prozesse (Autopoiese) verlangen (Containmentpolitik), nehmen zu.

Und je lauter die Forderungen nach einem weltweiten Engagement der USA vorgebracht und ein "Bound to lead" (Joseph S. Nye) als schicksalhaft für das Land umgedeutet werden, desto attraktiver und wirkmächtiger werden Denkmuster, die Komplexitäten simplifizieren, auf zweiwertige Codes reduzieren und eine ordnungspolitische Lösung nationaler, kultureller oder ökonomischer Probleme und Konflikte versprechen. Der elfte September hat diese Neigungen, Haltungen und Vorstellungen der USA sicherlich noch mal bestärkt.

Geography is the most fundamentally conditioning factor in the formulation of national policy because it is the most permanent.

Nicoals J. Spykman

Welche Kraft und Macht Geografien und Geopolitiken entwickeln und auf Politiker, Intellektuelle und Militärstrategen ausüben, zeigt ein eher beiläufiger Blick auf die Weltkarte. (Bild 1) Von Kindesbeinen an sind Europäer gewohnt, die Welt aus diesem Blickwinkel zu betrachten. Europa steht danach im Zentrum, Deutschland repräsentiert dessen Mitte. Während im Osten eine riesige Landmasse Europa schier erdrückt, findet man im Westen allenfalls Wasser. Der Atlantik, das "große Mittelmeer", trennt alte und neue Welt. An dieser Perspektive scheint nichts Weltbewegendes dran zu sein, schließlich hat sie Jahrhunderte lang unsere Blicke geformt und genormt.

Eine andere Sichtweise erschließt sich erst, wenn wir die Erdkugel um 90 Grad drehen und Amerika ins Zentrum der Welt rücken (Bild 2). Allein diese kleine Verschiebung der Landkarte eröffnet völlig neue Blickwinkel auf die Welt, ihre Geografie und die Lage der Weltinseln. Plötzlich ist Europa nur noch Peripherie, Anhängsel und Vorhof Eurasiens (Rimland), während Amerika nun auch geografisch den Nabel der Welt repräsentiert. Allein diese Lage eröffnet Amerika vielfältige Optionen: Es kann sich nach Westen, dem asiatisch-pazifischen Raum zuwenden, es kann sich aber auch in Richtung Osten bewegen, in den eurasisch-arabischen Raum. Gleich welche Möglichkeiten Amerika auch ins Auge fasst, welche geopolitische Trumpfkarte es zieht, der Beobachter erkennt sofort die Ausnahmestellung der Neuen Welt. Schon aufgrund ihrer außergewöhnlichen und einzigartigen Geografie - im Süden ein schwaches Mexiko, im Norden ein ebensolches Kanada, im Osten und Westen nur noch Fische - sind die USA wie keine andere Nation zuvor dazu prädestiniert, eine globale Orientierung ein- und eine planetarische Ausrichtung ihrer Politik vorzunehmen.

Im Zentrum ist Amerika, Bild 2

Es wird klar, warum die USA Lehren aus den beiden Weltkriegen gezogen, das Erbe des Britischen Empires angetreten und den Auf- und Ausbau ihrer Marine vehement betrieben haben. Es wird klar, warum sie all over the world militärische Stützpunkte unterhalten, von denen aus sie Weltmeere und "Weltinseln" (Mackinder) global kontrollieren können. Und schließlich wird auch klar, warum sich God's own country mehr durch Trägersysteme und Cyberattacken bedroht fühlt als durch sonstige Landmächte oder Invasionstruppen. Die Monroe-Doktrin, wonach keine fremde Macht jemals Fuß fassen darf auf dem amerikanischen Kontinent; der vehement forcierte Aufbau eines nationalen Abwehrschirms über dem eigenen Territorium; die offensive Unterbindung der ungezügelten Verbreitung von Massenvernichtungswaffen; die Stärkung der Fähigkeiten zum Schutz und zur Abwehr feindlicher Hackerangriffe auf die kritische Infrastruktur des Landes: all diese Vorsorge-, Schutz- und Abschottungsmaßnahmen sind auch geografisch begründet.

Die Topografie des "gelobten Landes" verdeutlicht, welchen tiefen Einschnitt die Attentate für das US-amerikanische Bewusstsein bedeutet, wie sehr die letzte Weltmacht in ihrem Selbstverständnis verletzt worden ist, die "erste universelle" und "großartigste Nation", die die Welt bisher gesehen hat. Schließlich schien für einen kurzen Moment der Kaiser vor aller Augen nackt, und das trotz seiner kulturellen Ausstrahlungskraft, globalen Wirtschaftsmacht und militärtechnologischen Dominanz.

Es gibt noch einen anderen Ausweg, und das ist wiederum der Krieg.

Christian Kracht, 1979

Verletzter Stolz, der Ruf nach "göttlicher Gerechtigkeit" und der Versuch, die alte Schlacht- und Mächteordnung wiederherzustellen, erklären vielleicht den Angriff auf Afghanistan, die Taliban und das al-Qaida Netzwerk, nicht aber den "Krieg neuen Typs", der, wie es die Spatzen längst vom Dach pfeifen, auf die "Südflanke Eurasiens" gerichtet ist, auf Zentralasien, die arabische Halbinsel und das Horn von Afrika. Erst wenn man die Maßnahmen dieses Krieges: die Stationierung von Truppen und Flugzeugträgern im Indischen Ozean, die Absprachen, Vereinbarungen und Allianzen mit einstigen Gegnern und Feinden; die politische Erpressung befreundeter Staaten und Organisationen, die rasche Auszahlung zurückgehaltener Gelder an die Vereinten Nationen; die Anweisung an die Weltbank, Pakistan Schulden zu erlassen und Geldzahlungen fließen zu lassen; die waffentechnische Versorgung und die politische Unterstützung oppositioneller Gruppen und Räuberbanden usw. in einen größeren weltpolitischen Kontext stellt und sie mit Amerikas längerfristigen globalen Interessen in der Region in Beziehung setzt, erschließen sich auch die geostrategischen Interessen und macht- und geopolitischen Kontinuitäten, die diesen Krieg leiten.

Die Sorge um Menschenrechte und Menschenwürde, das harte Los der Frauen oder die öffentliche Empörung über die Zerstörung der Statuen von Bamain verdecken und vernebeln diese globalen Machtansprüche nur. Deutlich wird wieder, dass die Moralisierung und Ästhetisierung des politischen Diskurses und die Zurschaustellung der überlegenen eigenen Kultur, das Befeuern patriotischer Gefühle und die Lenkung und Steuerung medialer Berichterstattung; die Produktion ständig neuer Schurken und Teufel und, neuerdings, das Schüren der Angst vor Anthraxbriefchen und Bioterrorismus ausschließlich den Sinn und Zweck haben, dem Publikum die Zustimmung zum Krieg gegen den globalen Terrorismus abzunötigen und die westliche Zivilisation auch auf die "politische Verantwortung" und "moralische Verpflichtung" für diese Weltregion einzuschwören.

Aus dieser machtpolitischen Perspektive ist der elfte September wohl nichts anderes als ein Fanal. Er bildet den Auftakt und Startschuss zu einer neuen Expansionspolitik alten Typs. Ihr geografisches Einsatzgebiet ist zunächst auf Vorder- und Zentralasien gerichtet, auf die Öl- und Gasvorkommen rund ums Kaspische Meer. Die politische Theologie universaler Menschenrechte (Soft Power), unter Jimmy Carter zum erstenmal als "Instrument und Waffe" im Kampf gegen den sowjetischen Rivalen eingesetzt und unter der Clinton-Administration zur globalen Mission von Gottes eigenem Land aufgestiegen, findet nach den militärischen Aufräumarbeiten (Hard Power) am Persischen Golf und auf dem Balkan seine Fortsetzung im Süden Eurasiens.

Während der Golfkrieg von den USA dazu genutzt wurde, sich auch militärisch auf der arabischen Halbinsel festzusetzen, so dienen Terror, "Steinzeitislam" und die Zerstörung al-Qaidas als Vorwand, um diese Schlüsselregion auch gegen den erklärten Willen der Anrainerstaaten unter westliches Mandat zu stellen. Nicht nur Mittel- und Südamerika oder der Balkan, auch Zentralasien kommen jetzt in den Genuss, Vorhof des Westens und seiner materiellen Interessen zu sein. Und erneut nimmt, wie bereits im Kosovo, das burden sharing zwischen Europa und den USA seinen Lauf. Während Amerika Afghanistan in Schutt und Asche gebombt, usbekische und paschtunische Warlords am Boden die Drecksarbeit für den Westen erledigt haben, übernehmen die Europäer und die UN die finanziellen Grundlasten und Kosten für den Wiederaufbau, die Einrichtung der Demokratie und die Stationierung robuster Friedenstruppen.

We want the world and we want it.

Jim Morrison

Eine umfassende und in sich geschlossene Geostrategie, die Amerikas Strategie, den Krieg und seine Ziele in Zentralasien aufdeckt, hat unlängst Zbig Brzezinski entworfen. Sowohl in Game Play (or. 1986) als auch in Out of Control (or. 1993) und The Grand Chessboard (or. 1997) ist "Eurasien" Zentralgebiet im Kampf um die globale Hegemonie. Aber nicht nur, weil die Landmasse zwischen Lissabon und Wladiwostok den weitaus größten Teil des materiellen Reichtums der Erde beherbergt. Sondern auch, weil das Gebiet von der Adria im Westen bis an die Grenze der chinesischen Provinz Sinkiang im Osten, und von Kasachstan im Norden bis zum Jemen im Süden mittlerweile die "Kernzone globaler Instabilität" darstellt.

In diesem "geopolitischen Vakuum" leben etwa 400 Millionen Menschen in nahezu dreißig Staaten, die von ethnischen und religiösen Gegensätzen zerfurcht, aber auch von mächtigen Nachbarn (Iran, Indien, China, Russland) umgeben sind. Explosiv wird dieses "Rechteck der Gewalt" (Sam Huntington) auch dadurch, weil ungefähr die Hälfte dieser Staaten beabsichtigt, weltweit Massenvernichtungswaffen zu kaufen oder sie bereits erworben hat.

Zwar ist die amerikanische Dominanz mit dem "demokratischen Brückenkopf" (Europa) im Westen und dem "fernöstlichen Anker" (Japan) im Osten auf dieser größten "Weltinsel" schon längst vorhanden. Nach der Niederlage und dem anschließenden Zerfall der Sowjetunion haben die USA zum erstenmal die Chance, als Fremdmacht die Südwestfront Eurasiens zu dominieren. Friedlich wird diese Vorherrschaft, dessen sind sich die US-Geopolitiker sicher, nicht verlaufen. Angesichts neuer Gefahren und Herausforderungen (Religion, Nationalismus, islamische Fundamentalismus), und angesichts neuer möglicher Konstellationen und Bündnisse (Achse Russland-China-Indien), die diese Hegemonie der USA gefährden und ihren Rausschmiss aus diesem Teil der Welt zur Folge hätte, könnte diese Dominanz "im wahrsten Sinne des Wortes auf Sand gebaut sein," zumal die Bindungen zu den "arabischen Vasallenstaaten" aufgrund unvereinbarer Werte- und Kulturordnungen brüchig und oberflächlich bleiben.

Der "eurasische Balkan", Bild 3

Den Kern dieses "geopolitischen Strudels der Gewalt" (zone of turmoil) bildet demzufolge der "Eurasische Balkan". Neben Georgien, Kasachstan und anderen GUS-Staaten gehört eben unter anderem auch Afghanistan dazu. Schon zu Zeiten des Kalten Krieges war das Land für die USA, neben dem Iran und in Verbindung mit Pakistan, ein "katalytisch wirkender Schlüsselstaat", der neben der "westlichen" (Polen, Deutschland) und der "fernöstlichen" (Südkorea, Philippinen) die dritte "strategische Hauptfront" und: den "weichen Unterleib" Eurasiens verkörpert. (Bild 3)

"Ein Schlüsselstaat ist", nach Brzezinski, "ein Staat, der aus sich heraus schon eine besondere Bedeutung besitzt und [...] in gewisser Hinsicht 'auf dem Präsentierteller' liegt. Das Gewicht eines Schlüsselstaates kann von seiner geopolitischen Position herrühren, durch die er einen regionalen politischen und/oder wirtschaftlichen Einfluss ausübt, oder auch von seiner geostrategischen Lage, die ihn militärisch bedeutsam macht. Durch seine Verwundbarkeit ist er anfällig für Verführung oder Machtübernahme."

Der Begriff "Balkan" ist sicherlich nicht zufällig gewählt, denn seit dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion sind alle Staaten dort "hochgradig instabil". Ihre geografische und labile innenpolitische "Lage" fordert Regionalmächte förmlich zum Zugreifen heraus. Dazu kommt ihr materieller Reiz. Gewaltige Vorkommen an Erdöl, Erdgas oder andere Ressourcen lagern dort, und auch die künftigen Transitwege zwischen den reichen westlichen und östlichen Randzonen Eurasiens durchziehen die Region. Kein Wunder, dass der Geopolitiker von einem "ökonomischen Filetstück" ersten Ranges spricht.

Wer kann es den Amerikanern verdenken, dass sie die Gelegenheit (Bin Ladin) beim Schopf packen und rasch zugreifen möchten. Immerhin wird sich der Energieverbrauch nach Experten-Meinung in den nächsten zwanzig Jahren um etliche zehn Prozentpunkte erhöhen. Tatsächlich halten die großen US-Firmen wie Chevron, Exxon, Mobil Oil inzwischen die Mehrheit an den wichtigsten Ölkonsortien in Kasachstan und Aserbeidschan. Pikant ist dabei, dass sowohl amerikanische Regierungsmitglieder wie Anhänger des al-Qaida-Netzwerkes in diese Unternehmen investieren oder große Aktienpakete besitzen. Verhandlungen mit den Taliban über eine mögliche Auslieferung Bin Ladins an die USA, aber auch über den Bau einer Ölpipeline, welche die Vorkommen in Mittelasien mit den Weltmeeren verbindet und damit den Weg für eine kostengünstige kommerzielle Ausbeutung ebnet, gab es offenbar weit vor dem elften September.

Wie die französischen Geheimdienstexperten Jean-Charles Brisard und Guillaume Dasquié jüngst aufgedeckt haben, lagen bereits Pläne und Ziele in den Schubladen (http://www.netzeitung.de/servlets/page?section=1109&item=167720), die widerborstigen Gotteskrieger zu zähmen und eine multiethnische Stammesregierung in Afghanistan zu installieren. Demnach hätte der Terroranschlag den Amerikanern nur den willkommenen Anlass geliefert, in Afghanistan militärisch zu intervenieren und einen neuen Vasallenstaat dort zu installieren. Auf alle Fälle hat Hamid Karzai, der Übergangspräsident des Landes, signalisiert, künftig ein treuer Freund des Westens und der Amerikaner sein zu wollen.

Mit dem Krieg in Zentralasien kommen jedenfalls die USA der Landnahme und Landteilung Eurasiens ein gehöriges Stück näher, die mit der EU-Osterweiterung, der Befriedung des Balkan und der möglichen Anbindung der Türkei an die EU an der "Westfront Eurasiens" sein Gegenstück besitzt. Für Europa hat diese "eurasische Geostrategie" weitreichende politische und militärische Konsequenzen. Burden sharing und responsibility sharing, die Brzezinski vor einem Jahr in München angemahnt hatte (Politik des Großraums, treffen Europa früher als erwartet oder geplant. Darauf vorbereitet ist es bislang nicht, eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) hat es jedenfalls immer noch nicht entwickelt.

Doch seitdem die Amerikaner begonnen haben, Truppenverbände aus Europa und dem Balkan abzuziehen und nach Zentralasien zu verlegen, ist Europa gezwungen, militärische Lücken selbst zu schließen. Fortan ist es genötigt, seine Hinter- und Vorhöfe ohne militärischen Beistand des Big Brothers "sauber" zu halten. Um künftig volle Bewegungs- und Feuerfreiheit auf dem eurasischen Kontinent zu haben, muss Europa den USA an der Westfront den Rücken frei halten. Nur dann sind die USA in der Lage, in Asien und im Nahen Osten künftig für Ordnung und geopolitische Stabilität zu sorgen, die materiellen Nachschubwege des Westens militärisch zu überwachen und Europa und Japan den billigen und jederzeitigen Zugriff auf arabisches Öl zu sichern. Genau das ist der geheime und tiefere Sinn der Rede von der "uneingeschränkten Solidarität".

Handel und Verkehr eilen der Politik weit voraus.

Friedrich Ratzel

Und doch ist ein Unterschied auszumachen. Anders als Eroberer früherer Jahrhunderte geht es den Kreuzrittern des postmodernen Imperialismus nicht mehr um die Schaffung völkischen Lebensraums im Osten oder anderswo. Dank globaler Netze, massenmedialer Brands und des Sex-Appeals individualistischer Lebensformen müssen Heerscharen fremder Völker nicht mehr überall von fremden Mächten geknutet und Arbeitssklaven für heimische Märkte rekrutiert werden. Die Bandbreiten und Reichweiten, die "große Medienhaubitzen" (Toffler/Toffler) wie CNN, Hollywood oder MTV besitzen, die Attraktivität und kulturelle Sogwirkung, die die Pop- und Massenkultur und der American Way of Life auf junge Inder, Chinesen und Moslems entfalten oder ausstrahlen, sorgen dafür, dass die intelligenten Köpfe freiwillig vor den Toren der Weltmacht Schlange stehen und um Einlass begehren.

Landstriche und Regionen müssen von daher nicht mehr zunächst militärisch erobert und dann besetzt werden. Dafür gibt es heute andere Wege und Mittel, technische Möglichkeiten der Überwachung beispielsweise. Siedlertrecks nach Kandahar, Bagdad oder Somalia finden darum höchstens noch in Zeitschriften statt. Lebensraumpolitik im strengen Sinn leisten sich heute nur noch kleinere Staaten, wie beispielsweise Israel, das palästinensisches Land als heiliges ausweist und durch eine kluge Zersiedelungspolitik unter dem politischen Schutzschirm eines mächtigen Bruders sich nach und nach unter den Nagel reißt.

Für Imperien und Großraumordnungen hingegen, die ihre Grenzen eher kulturell definieren und den gesamten Planeten als ihr Operationsfeld entdecken, machen Landgewinn und Gebietsnahmen alten Typs keinen rechten Sinn. Allein die Kosten für eine derartige Besetzung, Besiedlung und Ausbau der Infrastruktur wären viel zu hoch. Die deutsche Wiedervereinigung hat es gezeigt. Besser und billiger ist es jedenfalls, solche Länder als Rekrutierungsgebiete und Absatzmärkte für Billigprodukte zu benutzen als ihnen die gleichen Bürgerrechte wie den Inländern einzuräumen. Die USA wissen schon, warum sie Mexiko, Nicaragua, Kolumbien und andere nicht längst zu neuen Bundesstaaten erklärt haben.

Umwerfend neu sind aber auch die Ziele des postmodernen Imperialismus nicht. Auch der Pax Americana geht es um den freien Zugang und Zugriff auf Rohstoffe und Ressourcen für die Kapitale des Westens. Auch ihr geht es um die Missionierung barbarischer Völker und Regionen. Seefahrende Nationen haben es nach Meinung Alfred T. Mahan immer schon als ihre nationale Aufgabe und historische Pflicht angesehen, Zivilisation und höhere Kultur anderen Nationen zukommen zu lassen und allen Gefahren zu trotzen, die durch kulturell rückständigere Völker und Menschengruppen drohten. Dass dabei das nationale Selbstbestimmungsrecht ausgehöhlt wird, das Völker einst in ihrem Befreiungskampf gegen fremde Mächte legitimierte, um sich von kolonialen Fesseln zu befreien, scheint hierzulande nicht einmal mehr die politische Linke zu stören. Auch sie sind vom missionarischen Eifer beseelt (vgl. das Titelthema: "Der Glaube der Ungläubigen", in: Der Spiegel vom 22.12.2001), der die politische Theologie der Menschenrechte unterfüttert, wenn es darum geht, politische Systeme und Regierungen zu stürzen, die den Gesetzen und Regeln des Freihandels mentale, kulturelle und nationale Brandmauern entgegenstellen.

Haben aber die moderne Verkehrs- und Informationstechnik, die nach Mahan Kommunikation und Kommerz und laut Rudolf Kjellén die "planetarische Epoche der Menschheit einleiten", es erst einmal geschafft, den Planeten "in einen einzigen, allen angelsächsischen Interventionen offenstehenden Raum" zu verwandeln, so Carl Schmitt bereits am Vorabend des Zweiten Weltkrieges, kann die universalistische und planetarische Idee einer natürlichen wie friedlichen Beherrschung der Welt durch kapitalistische Führungskräfte greifen. Dies ist wiederum der tiefere Sinn der Rede von Weltbürgertum und Ewigem Frieden, einer Globalisierung mithin, die sich weniger auf den Straßen Argentiniens oder Somalias als im Fünf-Sterne-Hotel erschließt.

We will behave multilaterally when we can, and unilaterally when we must.

Madeleine Albright

Viel ist in den letzten Wochen und Monaten über eine außenpolitische Umorientierung der USA spekuliert worden, darüber, dass die Supermacht künftig eine kooperative Haltung zu anderen Staaten einnehmen würde. Vor allem in der zögerlichen Haltung und im Verzicht der USA auf einen raschen Vergeltungsschlag, aber auch im Schmieden von Allianzen mit ehemaligen Gegnern und Feinden sahen Beobachter den Beweis, dass die USA trotz der zunächst markigen Worte künftig flexibler, besonnener und umsichtiger handeln und sich auf eine multilaterale und dezentrale Weltordnung einlassen könnten. Die rege Reisediplomatie der letzten Wochen, der scheinbare Druck auf die Israelis, die Rede von einem möglichen Palästinenserstaat, die Auszahlung längst fälliger Gelder an die UN, die Einbeziehung der UNO in die Entscheidungen, das Einholen von Meinungen von Partnern und Alliierten usw. - all das wurde von Beobachtern als Hinweis auf eine mögliche "Umkehr" der USA gedeutet. "Das Spektakuläre entleibt die Hegemonie", vermutete der nächstjährige Dokumenta-Chef und Weltbürger Okwui Enwezor gar zuletzt.

Sieht man sich aber vier Monate nach der Attacke diese Zeichen "guten Willens" an, so muss die Blauäugigkeit und Naivität vieler Kommentatoren schon sehr verblüffen. Wer damals von gemeinschaftlichem Handeln, Multilateralität oder gar von einem Ende ihrer Hegemonie sprach, war entweder schlichtweg ein hoffnungsloser Träumer oder hat den geopolitischen Klartext gänzlich übersehen. Dirk Schümer hat diese apolitische Haltung in einem schönen Artikel in der FAZ kürzlich auf den Punkt gebracht: Amerika braucht Europa und die Nato letztlich überhaupt nicht. Beide sind allenfalls Papiertiger, Chimären.

"Europa gibt es nicht in diesem Krieg", bestätigt Brzezinski auf Nachfrage. Amerika handelt und schlägt zu, wann immer es ihm passt oder es für notwendig erachtet. "Wer nicht für uns ist, ist gegen uns", nannte dies George W. Bush. Und Henry Kissinger drohte den westlichen Staaten: "Wir werden unsere Bündnispartner nach der Intensität ihrer Unterstützung beurteilen."

Genau diese Souveränität und Entschlossenheit zeichnet eine "Hegemonie neuen Typs" aus: Sie reagiert flexibel auf unerwartete Herausforderungen, sie zeigt sich anpassungsfähig gegenüber neuen Situationen, und sie kalkuliert kühl den eigenen Nutzen, wenn es von ihr gefordert wird. Statt sich dem Tribunal eines internationalen Gerichtshofes zu unterwerfen (Biopiraterie, neokoloniale Schatzpolitik und die Public Domain), schafft sie sich ihre eigene Militärgerichtsbarkeit; statt multilaterale Verträge zur Biowaffenkonvention (Nach uns die Sintflut) oder zum Klimaschutz zu unterzeichnen, die ihre Souveränität und Operationsbasis einschränken würden, nimmt sie sich davon aus oder kündigt einseitig (ABM-Vertrag) bilateral geschlossene Verträge; statt die Gründung eines Palästinenserstaates nachhaltig zu forcieren, blockiert sie mit ihrem Veto im UN-Sicherheitsrat die Entsendung einer internationalen Schutztruppe für Palästina; und statt die UN zur Letztentscheidungsinstanz für Konfliktlösungen zu machen, definiert sie das verbindliche internationale Regelsystem ausschließlich in Washington, D.C. (Macht und Erfolg verführen).

Die Attacke der Assassinen hat den politischen Messianismus des Imperiums für Freihandel, Demokratie und individuelle Selbstverwirklichung jedenfalls nicht gebremst. Im Gegenteil, der Angriff hat die Amerikaner in ihrem religiösem Sendungsbewusstsein eher noch bestärkt. "Die Mission definiert die Koalition", erklärte Rummy Rumsfeld am 18.12. vor der Nato. Mehr als zuvor betrachten sich die USA als das "auserwählte Volk", das Zukunft und "last hope of mankind" (T. Jefferson) der Welt verkörpert. Vorauseilend und stellvertretend verwirklichen sie für andere Völker Freiheit, "Träume" und Sehnsüchte. Dass in anderen Weltgegenden diese Art der Globalisierung als Kolonialismus oder Imperialismus wahrgenommen und empfunden wird, stört die Weltmacht nicht im Geringsten. Weder an der Einzigartigkeit, Außergewöhnlichkeit und moralischen Überlegenheit der USA, noch daran, wer auch künftig die Ziele, Werte und Spielregeln der "world community" (Sam Huntington) bestimmen wird, ließ Präsident Bush bei seiner Rede im Kongress unmittelbar nach dem elften September Zweifel aufkommen. "We found our mission", erklärte er unter dem donnernden Beifall aller Abgeordneten. Und so wie einst Kapitän Ahab vor seiner Mannschaft auf der Pequod rief er. "Wir werden der Welt zum Sieg verhelfen".

Um diesen hehren Worten des postmodernen Imperialismus nicht auf den Leim zu gehen, sollten wir uns gelegentlich zentraleuropäischer Stimmen erinnern, die vor vielen Jahren der ersten Stufe der Verwestlichung beigewohnt haben.

"'Menschheit'", so lesen wir, "ist ein besonders brauchbares ideologisches Instrument imperialistischer Expansionen und in ihrer ethisch-humanistischen Form ein spezifisches Vehikel des ökonomischen Imperialismus. [...] Wer Menschheit sagt, will betrügen."

Menschenglück, Ewiger Frieden und Weltbürgertum (Soft Power) sind dazu da, die macht- und geopolitischen Interessen der Raumnahme, Raumteilung und Raumkontrolle (Hard Power) zu verschleiern. Man wird deshalb nicht umhin können, Luhmann und seine Schüler mit Marx und Carl Schmitt gegen den Strich zu lesen.