NSU: Bundesamt für Verfassungsschutz findet Handy von totem V-Mann "Corelli"

Untersuchungsausschuss des Bundestags wird überraschend informiert

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Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) will bei sich im Hause zufällig ein Handy des früheren V-Mannes "Corelli" entdeckt haben. Darüber hat die BfV-Spitze zusammen mit Vertretern der Bundesregierung am Mittwoch (11. Mai) den NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages in nicht-öffentlicher Sitzung informiert. Die Abgeordneten schienen anschließend im Gespräch mit einer Handvoll Journalisten und Zuschauern wie vor den Kopf gestoßen.

"Corelli", mit bürgerlichem Namen Thomas Richter, war einer wichtigsten und dauerhaftesten Agenten in der rechtsextremen Szene, der sich auch im NSU-Umfeld bewegte. Er verstarb im April 2014. Ein parlamentarischer Sonderbericht des Bundestages über "Corelli", der im Mai 2015 fertiggestellt wurde, ist lückenhaft, liegt aber als geheim eingestuft beim Parlamentarischen Kontrollgremium (PKGr).

Die wahre Rolle "Corellis" ist bisher nicht klar geworden. Selbst eine Zugehörigkeit zum NSU ist denkbar. Schlagartig wurde erneut die Verwicklung von Sicherheitsorganen in den unaufgeklärten Mordkomplex namens "Nationalsozialistischer Untergrund" sichtbar. Aber daneben auch die problematische Abhängigkeit eines Gremiums der Legislative von der Exekutive. Das Handeln liegt allein in den Händen von BfV, Bundeskriminalamt (BKA) und Bundesanwaltschaft (BAW).

Angeblicher Fund im Panzerschrank beim Personalwechsel

Als sich die Mitglieder des parlamentarischen Untersuchungsausschusses (PUA) am Mittwoch zur internen Sitzung trafen, die der öffentlichen Sitzung vorausging, ahnten sie noch nichts. Auch nicht von dem hohen Besuch an diesem Tag. Der Vizepräsident des BfV persönlich war erschienen, Ernst Stehl, erst seit dem 1. April 2016 im Amt. Was sich dann dort abspielte und die Sitzung statt eine halbe Stunde fast zwei Stunden dauern ließ, erfuhr die Öffentlichkeit anschließend aus dem Munde der Obleute. Sie berichteten, dass viele Fragen noch nicht beantwortet sind. Bisher zeichnet sich folgendes Bild ab:

Im Sommer 2015 (Juni oder Juli) soll in einem Panzerschrank in der Behörde bei einem Personalwechsel ein Handy gefunden worden sein, das zunächst nicht zugeordnet werden konnte. Nachdem es ausgelesen worden war, habe man davon ausgehen können, dass es dem ehemaligen V-Mann Corelli gehört habe. Das sei im April 2016 gewesen.

Am 21. April habe die Amtsleitung des BfV davon erfahren. Anfang Mai, vor dem Feiertag Christi Himmelfahrt, sei die Bundesregierung durch das BfV darüber unterrichtet worden und jetzt eben der Untersuchungsausschuss. Andere U-Ausschüsse, etwa der in Nordrhein-Westfalen, der sich ebenfalls explizit mit dem Fall "Corelli" beschäftigen will, sind bisher wohl nicht informiert worden.

Jede Menge Daten, aber Unklarheit über SIM-Karte

Das Handy sei ein Privathandy von Thomas Richter gewesen, eines von mehreren, die er benutzte. Es sei dann ans Bundeskriminalamt (BKA) weitergegeben worden, wo zur Zeit mit Hochdruck die Auswertung betrieben werden. Unklar ist, ob die SIM-Karte vorhanden ist. Es seien aber jede Menge Daten gespeichert. Das BKA untersuche, ob sie ermittlungsrelevant sind. Es sollen viele Bilddateien und eine Reihe von Kontakten darunter sein.

Warum das Gerät so lange im BfV herumlag, prüfe die Behörde intern. Das Telefon sei von Richter etwa vier Monate lang im Jahre 2012 benutzt worden. Also nach Aufdeckung des NSU, aber zu einer Zeit, als er noch VS-Informant war. Nachdem er im Herbst 2012 enttarnt worden war und in ein Schutzprogramm aufgenommen wurde, sollte er das Handy abgeben. Es muss dann über drei Jahre lang im Amt gelegen haben. Die Obleute zeigten sich einigermaßen irritiert. Dass es ausgerechnet kurz nach Abschluss des offiziellen Corelli-Berichtes entdeckt wurde - wieder nur einer dieser Zufälle?

"Irgendwelche Inhaltevon Relevanz oder gar Brisanz?"

Der Ausschussvorsitzende Clemens Binninger, CDU, wörtlich: "Man muss ja wissen, dass wir im PKGr einen Sachverständigen zu diesem speziellen Komplex V-Mann Corelli eingesetzt hatten, der auch sehr vertieft die Verbindungen der verschiedenen Handys untersucht hat. Aber offenkundig war dieses Handy dort nicht präsent oder ist nicht gezeigt worden, was auch immer. Wie kann man so ein Handy, obwohl eine mehrfache Überprüfung stattfand, übersehen, woran lag das? Und die zweite Frage, die für uns fast noch interessanter ist: Sind auf diesem Handy irgendwelche Inhalte, die von Relevanz oder gar Brisanz sind?"

Uli Grötsch, Obmann der SPD, schilderte die Sitzung so: "Der Vizepräsident des BfV konnte im Endeffekt keine Auskunft geben, wieso das so lange gedauert hat, bis es im Haus bekannt wurde, wieso man es so spät dem Bundesinnenministerium gegenüber kommuniziert hat, wieso man das Parlament nicht informiert hat, obwohl man Gelegenheit dazu gehabt hätte. Das halte ich für sehr sehr unbefriedigend. Es gibt noch jede Menge zu klären, und wir werden darauf drängen, dass das sehr schnell passiert."

Auch Petra Pau, Obfrau der Linkspartei, setzte hinter die Vorgänge im BfV ein Fragezeichen und zog diesen Schluss: "Das bestärkt nicht gerade mein Vertrauen in die Mithilfe bei der bedingungslosen Aufklärung, wie die Bundeskanzlerin sie gefordert hat."

Armin Schuster, Obmann der CDU, meinte: "Bei der Relevanz, die Corelli seit Jahren hier im Parlament hat - warum machen Mitarbeiter des BfV über Jahre nicht darauf aufmerksam? Diese Frage zu klären, da möchte ich jetzt, ehrlich gesagt, nicht in der Haut des Amtschefs stecken. Die gute Nachricht ist: Der Fall liegt jetzt beim Generalbundesanwalt."

Und Irene Mihalic, Obfrau der Grünen, formulierte: "Man kann natürlich jetzt trefflich die Frage stellen, ob es sich dabei um organisatorische Fehler im BfV handelt, die dabei gemacht wurden oder ob da andere Dinge im Raum stehen. Ich stelle mir nicht nur die Frage nach organisatorischen Mängeln. Es ist natürlich gut, dass wir jetzt im Untersuchungsausschuss [UA] diese Informationen bekommen haben. Ich weiß nicht, ob die Informationen zu uns gelangt wären, wenn wir den UA nicht hätten."

Bei allen Zweifeln in seine Möglichkeiten - der Vorgang zeigt, dass allein die Existenz des Bundestagsausschusses eine bestimmte Art öffentlicher Kontrolle darstellt.

Untersuchungsausschuss will sich nun auch dem Marschner-Komplex widmen - Richter Götzl lehnt Zeugenbefragung ab

In der nicht-öffentlichen Sitzung beschloss der PUA "NSU II", ab Juni sich in drei Sitzungen dem Komplex um einen weiteren V-Mann des BfV zu widmen: Ralf Marschner, der in den 90er Jahren und Anfang der Nuller-Jahre als Informant "Primus" in Zwickau eingesetzt war. Die Personalie Marschner sorgt seit April für Wirbel, nachdem ein Zeuge beteuert hat, der mutmaßliche NSU-Terrorist Uwe Mundlos habe in einer Baufirma Marschners gearbeitet, also unter den Augen des Verfassungsschutzes. Zu einer Zeit, als das Trio Böhnhardt, Mundlos, Zschäpe illegal in Zwickau lebte und bereits vier Morde geschehen waren, die dem Trio angelastet werden.

Der Ausschuss will Zeugen aus den zuständigen Behörden, aus den Reihen der Ermittler und aus dem direkten Umfeld Marschners hören. Der Ex-V-Mann selber steht zur Zeit aber nicht auf der Zeugenliste des Gremiums. Ihn unter Umständen doch zu vernehmen, haben die Abgeordneten aber nicht ausgeschlossen. Im Gegensatz zum Oberlandesgericht in München, wo über Beate Zschäpe, Ralf Wohlleben und drei weitere Angeklagte zu Gericht gesessen wird. Ebenfalls am Mittwoch lehnte es der Staatsschutzsenat unter Vorsitz von Manfred Götzl ab, Ralf Marschner als Zeugen zu hören. Mehrere Nebenklägeranwälte hatten das beantragt.

Nicht nur ein mutwilliger, sondern auch ein fahrlässiger Umgang mit Zeugen. Thomas Richter, Corelli, starb, ehe er befragt werden konnte.