Nach Atom-Ausstieg: Wer ist Deutschlands größter Stromlieferant?
Energie und Klima – kompakt: Deutschland ist wieder Netto-Stromimporteur. Eine populäre Erzählung sagt, dass wir vor allem französischen Atomstrom einkaufen. Die Realität ist anders.
Seit dem Ende April die letzten drei deutschen Atomkraftwerke vom Netz gingen, ist Deutschland das erste Mal seit langem wieder Netto-Stromimporteur. 2023 wurden bisher 49,5 Milliarden Kilowattstunden importiert und 38,5 Milliarden exportiert, wie die Daten des Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme zeigen.
Die Differenz von 11 Milliarden Kilowattstunden ist gemessen am Gesamtverbrauch von 338,5 Milliarden Kilowattstunden im gleichen Zeitraum noch immer gering, steht aber in deutlichem Kontrast zu den Vorjahren. 2022 wurden netto 28,1 Milliarden Kilowattstunden exportiert, von 2015 bis 2018 waren es sogar jeweils um die 50 Milliarden Kilowattstunden, die jährlich mehr ins Ausland flossen, als von dort importiert zu werden.
Es hat also eine Umkehr der Netto-Stromflüsse stattgefunden, und die Tatsache, dass der Zeitpunkt der Umkehr ziemlich genau mit dem Abschalten der letzten Strahlenmeiler zusammenfiel, nährt die immer wieder gehörte Behauptung, dass Deutschland jetzt vom französischen Atomstrom abhängig sei.
Mit allen Nachbarländern gibt es regen Stromaustausch
Bei näherem Hinsehen lassen sich dafür allerdings in den Daten keine Belege finden. Deutschland liegt bekanntlich in der Mitte Westeuropas, mit insgesamt neun Nachbarländern, wobei es noch zu zwei weiteren Ländern Seekabel gibt, nämlich nach Norwegen und nach Schweden.
Mit allen Nachbarn gibt es entsprechend einen regen Stromaustausch, wobei interessanterweise Stromhandel, der in den oben zitierten Importzahlen gemeint ist, und physikalische Flüsse sich in der Regel nicht decken. Ein Hinweis darauf, dass der Strom nicht selten durch Drittländer geleitet, bzw. mit dortigem Austausch verrechnet wird. Zu Funktionsweise und Bedeutung des liberalisierten, grenzüberschreitenden Strommarktes siehe auch Deutschland ist kein Strombettler: Warum nur schlechte Kaufleute das behaupten.
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Was die physikalischen Flüsse angeht, waren die Einfuhren aus Frankreich mit 8,9 Milliarden Kilowattstunden 2023 bisher die größten, aber keinesfalls dominierend. Ähnlich viel Strom floss aus Dänemark und den Niederlanden mit jeweils 7,9 Milliarden Kilowattstunden ins Land. Andere große Lieferanten waren Norwegen mit 4,9, Österreich mit 5,6 und die Tschechische Republik mit 5,4 Milliarden Kilowattstunden.
Dänische Windenergie liegt weit vorne
Richtig interessant wird es, wenn man sich hier, ebenfalls beim Fraunhofer-Institut, die länderbezogenen Bilanzen des Stromhandels im bisherigen Jahr 2023 anschaut. Demnach ist nicht Frankreich mit seinen Atomkraftwerken, sondern Dänemark mit seinen vielen Windkraftanlagen der große Stromlieferant. In den ersten drei Quartalen 2023 wurden in Dänemark 12,7 Milliarden Kilowattstunden eingekauft, aber dort nur 2,9 Milliarden Kilowattstunden abgesetzt.
Nach Frankreich wurden in der gleichen Zeit aus Deutschland hingegen 10,3 Milliarden Kilowattstunden Strom verkauft, während von dort nur 8,9 Milliarden hierzulande einen Abnehmer fanden. Das jüngste Defizit im Strom-Außenhandel ist also nicht im Austausch mit Frankreich, sondern mit der Mehrzahl der anderen Nachbarländer entstanden. Nur Österreich und Luxemburg haben aus dem deutschen Netz mehr Strom ein- als dorthin verkauft.
Wenn man also aus dem Importüberschuss irgendwelche neuen deutschen Abhängigkeiten ableiten wollte, dann ist die dänische Windenergie sicherlich der erste Kandidat – und sicherlich nicht die französischen Atomkraftwerke, die in letzter Zeit im Übrigen nicht gerade durch Zuverlässigkeit geglänzt haben.
Tatsächlich ist aber der Grund für die Zunahme der Stromimporte ab Mai offensichtlich woanders zu suchen. Auffällig ist, dass auch die Produktion der Stein- und Braunkohlekraftwerke zurückgegangen ist, während sich, aber das nur am Rande, die der Gaskraftwerke in etwa auf dem Niveau der letzten Jahre bewegt. Aller Wahrscheinlichkeit nach ein zufälliges Zusammentreffen, doch woran könnte es gelegen haben? An den Sanktionen gegen Russland? An gestiegenen CO2-Kosten? Am Börsenstrompreis? Mehr dazu morgen an dieser Stelle.