Nach SPD-Parteitag: Wie zu Gerhard Schröders Zeiten
Seite 2: Entscheidung über die Kanzlerkandidatur im Hinterzimmer
- Nach SPD-Parteitag: Wie zu Gerhard Schröders Zeiten
- Entscheidung über die Kanzlerkandidatur im Hinterzimmer
- Aufgabe sozialdemokratischer Positionen in Koalitionsvereinbarung
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Die beiden Parteivorsitzenden hatten auch danach nicht den Anspruch, die SPD inhaltlich wie personell auf ein neues Gleis stellen zu wollen. Das galt ebenso für ihren Mentor Kevin Kühnert, der sich blitzschnell aus einem aktiven Gegner der Großen Koalition zu ihrem Befürworter wandelte.
So kam es, dass die unterlegene Parteirechte wieder die Initiative übernehmen konnte. Die Kanzlerkandidatur von Olaf Scholz wurde im August 2020 im kleinsten Kreis beschlossen. Berichten zufolge waren daran allein Norbert Walter-Borjans, Lars Klingbeil, Rolf Mützenich und der Kandidat selbst beteiligt.
Selbst hohe Parteifunktionäre wie Kevin Kühnert, die sich für Mitlenker hielten, hatten von Scholz' Kanzlerkandidatur erst erfahren, als sie im Sommer vorigen Jahres dem gesamten Bundesvorstand mitgeteilt wurde.
"Wer das Land regieren soll", FAZ, 07.12.2021
Einer Handvoll von Spitzenpolitikern war es also in einer Hinterzimmerabsprache gelungen, das nicht einmal ein Jahr zurückliegende Votum der Mitgliedschaft gegen Scholz in das Gegenteil zu verkehren.
Die mit so viel Hoffnung ins Amt gekommene neue Parteiführung hatte nicht einmal den Versuch gemacht, einen eigenen Vorschlag für die Kanzlerschaft zu unterbreiten. Geeignete Spitzenkandidaten, vor allem aber Spitzenkandidatinnen hätte es gegeben.
Und mit dem Abgang von Angela Merkel als Bundeskanzlerin sowie der Nominierung eines solch schwachen Kandidaten der CDU/CSU wie Armin Laschet lag für die SPD die Macht auf der Straße.
Das galt erst recht, nachdem sich die anfänglich hohen Umfragewerte für die Grünen als Luftnummer erwiesen hatten und deren Spitzenkandidatin von einem Fehltritt zum nächsten gestolpert war.
Es ist daher eine von rechten Sozialdemokraten verbreitete Mär, dass der Erfolg der SPD bei den Bundestagswahlen am 26. September nur mit einem Kandidaten Olaf Scholz möglich gewesen war.
Mit einer attraktiven, offensiv auftretenden und klar sozialdemokratische Ziele propagierenden Kandidatur wäre deutlich mehr drin gewesen als die unter Scholz erreichten mageren 25,7 Prozent.
Das war übrigens exakt das schlechte Ergebnis, das die SPD 2013 mit ihrem Kandidaten Peer Steinbrück bekommen hatte und das zu Recht als desaströs angesehen wurde. Die jetzt nun wieder erzielten 25,7 Prozent erscheinen lediglich vor dem Hintergrund des Absturzes bei den Wahlen von 2017 auf 20,5 Prozent als Erfolg.
Der Hoffnungsträger Lars Klingbeil
Mit Schrecken erinnert sich die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), oft als Zentralorgan der deutschen Kapitalistenklasse bezeichnet, an diese Zeit5:
Als Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans am Nikolaustag vor zwei Jahren zu Parteivorsitzenden der SPD gewählt wurden, da war das Entsetzen unter den pragmatisch orientierten Sozialdemokraten groß. Die letzte schwache Hoffnung, dass es doch nicht so schlimm werde mit einem Linkskurs in der Partei, wurde verknüpft mit Lars Klingbeil. Der Mann aus Niedersachsen war zwei Jahre zuvor vom damaligen Parteivorsitzenden Martin Schulz zum Generalsekretär der Partei befördert worden. Nun galt er als der letzte Vertreter einer SPD-Riege, für die Namen wie Schröder, Müntefering, Steinmeier, Gabriel oder eben Schulz standen.
Die FAZ weiß auch zu berichten, weshalb Klingbeil heute so hervorragend als Parteivorsitzender geeignet ist6:
[Er] bringt für diese Rolle gute Voraussetzungen mit. Er gehört zur pragmatisch orientierten niedersächsischen SPD. Dass er nach dem Studium im Wahlkreisbüro von Gerhard Schröder arbeitete, war kein Zufall. Zugleich ist er jung genug, um nicht als reiner Vertreter der alten Schröder-Gabriel-SPD zu gelten.
Er ist zwar Mitglied im konservativen Seeheimer Kreis der SPD-Fraktion, gehörte aber nach seinem Einzug in den Bundestag 2009 für einige Jahre der Parlamentarischen Linken an. Er wuchs in der Familie eines Bundeswehrsoldaten auf, hat aber selbst Zivildienst geleistet – seinen Frieden mit der Bundeswehr und der Notwendigkeit militärischen Handelns machte er nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001. In seiner Jugend war Klingbeil in der Antifa aktiv.
Die FAZ weiß aber noch mehr Positives über ihn zu berichten: Er ist "wohl der Einzige in der Führungsspitze, der bei laufendem Band positiv über den früheren Kanzler Gerhard Schröder spricht. Gegen dessen Politik hatte der Niedersachse Klingbeil einst demonstriert, dann arbeitete er für ihn. Schon damals zeigte sich Klingbeils erstaunliche Anpassungsfähigkeit. Ist das Beliebigkeit? Wohl eher die notwendige Flexibilität, die es braucht, um weit oben in der Politik zu überleben." Erwartet wird jetzt von ihm, dass er die Parteilinke ruhigstellt7:
Er wird Esken die Freiräume an der Parteispitze geben, die sie braucht, damit die Basis, die Esken noch immer als ihre Vertreterin ansieht, weitgehend zufrieden ist.
Für bewaffnete Drohnen und nukleare Teilhabe
Klingbeil, der geläuterte Sohn eines Soldaten, dessen Wahlkreis den bedeutenden Bundeswehrstandort Munster beheimatet und der auch immer wieder als möglicher Verteidigungsminister in der neuen Regierung genannt wurde, dürfte bei den Koalitionsverhandlungen entscheidend dafür gesorgt haben, dass der bisherige Vorbehalt der SPD gegenüber bewaffneten Drohnen unter den Tisch fiel: Bewaffnete Drohnen "können zum Schutz der Soldatinnen und Soldaten im Auslandseinsatz beitragen" heißt es in der Koalitionsvereinbarung.8
Auch in der Frage der "nuklearen Teilhabe", das heißt der deutschen Teilnahme an einem möglichen Einsatz von US-amerikanischen Atomwaffen von deutschem Boden aus, wurden frühere Bedenken der SPD in den Koalitionsgesprächen abgeräumt. In der Vereinbarung heißt es9:
Wir werden zu Beginn der 20. Legislaturperiode ein Nachfolgesystem für das Kampfflugzeug Tornado beschaffen. Den Beschaffungs- und Zertifizierungsprozess mit Blick auf die nukleare Teilhabe Deutschlands werden wir sachlich und gewissenhaft begleiten.
Die FAZ freute sich denn auch sogleich über die "zwei Stellen, an denen die SPD scharf umgesteuert hat: die Beschaffung von bewaffneten Drohnen und das Festhalten an der nuklearen Teilhabe, inklusive des Kaufs neuer Jagdbomber."10 Der in den letzten Jahren unternommene Versuch des SPD-Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich in Fragen der bewaffneten Drohnen sowie der nuklearen Teilhabe Deutschlands eigene, abweichende Akzente einer sozialdemokratischen Verteidigungspolitik zu setzen, gehören damit der Vergangenheit an.