Nachfrageschwund durch wachsende Ungleichheit
Seite 3: Verschuldung ohne Ende
Die bislang vorgebrachten Argumente legen nahe, dass die Konsumnachfrage und damit die Produktion insgesamt bereits eingebrochen wären, hätten Politiker und Zentralbanken auf die Selbstheilungskräfte des Marktes vertraut.
Die Einkommensschere wächst bereits dadurch, dass Konsumentenhaushalte ihre Mittel vollständig ausgeben, während Bezieher hoher Einkünfte ihren Besitzstand vergrößern und dadurch ein zusätzliches Potential für künftige Gewinne erhalten. Dennoch halfen bislang Lohnerhöhungen und Steuerprogression, das Missverhältnis zwischen Finanzmitteln, die für den Konsum aufgewendet werden, und solchen, die für Investitionen bereitstehen, zumindest partiell zu korrigieren. Jetzt sind aber neue Mechanismen hinzugetreten, die das Einkommensniveau potentieller Konsumenten drücken. Und deren Abwehr wird zweifellos immer schwieriger.
Anstatt sich dieser Herausforderung zu stellen, handeln die meisten politischen Entscheidungsträger - vermeintlichen ökonomischen Sachzwängen folgend - gerade gegenteilig. Im Beggar-my-neighbour-Stil fassen sie Beschlüsse, die zwar kurzfristig dem nationalen Eigeninteresse dienen, anderswo aber einen desto stärkeren Druck erzeugen. Dort ist man daraufhin gezwungen nachzuziehen, und so erinnert die Situation an das mathematische Modell des Gefangenendilemmas.
Insbesondere kleineren Volkswirtschaften bleibt meist keine andere Wahl, als öffentliche konsumorientierte Leistungen zusammenzustreichen und noch stärker auf die Wünsche der Wirtschaftsverbände einzugehen. Gemäß dem Anspruch, das Investitionsklima verbessern zu wollen, wird eine Senkung des Lohnniveaus angestrebt, sei es durch Liberalisierung des Arbeitsmarkts, durch Schwächung der Gewerkschaften oder mittels Zuwanderung.
Tatsächlich verbleibt großen und weitgehend autarken Ländern wie den USA, Russland, China oder Indien noch ein gewisser Spielraum für eigene wirtschaftspolitische Entscheidungen. Ihre riesigen Märkte sind für potentielle Investoren trotz Restriktionen interessant und oftmals unverzichtbar. Ebenso verfügen Staaten mit großen Außenhandelsüberschüssen wie Deutschland und Japan über gewisse Handlungsmöglichkeiten.
Dennoch ist auch in diesen Ländern eine konsequent betriebene keynesianische Wirtschaftspolitik faktisch nicht möglich. Diese würde nämlich nicht nur eine öffentliche Verschuldung zur Kompensation unzureichender Konsumnachfrage beinhalten, sondern auch die Reduzierung der Schulden in Zeiten der Hochkonjunktur. Dieser zweite Schritt gelang schon früher nur begrenzt, da Regierungen geneigt waren, mit den Früchten konjunktureller Belebung bei der Wählerschaft zu punkten anstatt diese partiell "einzustampfen". Die Rahmenbedingungen haben sich seitdem erheblich verschlechtert. Weder existiert eine politisch-ideologische Herausforderung wie jene des Systemwettbewerbs, noch gibt es effektive Kapitalverkehrskontrollen und Importbeschränkungen, die vor einem halben Jahrhundert wesentlich zur Stärkung von Konsum und Beschäftigung beitrugen.
Trotz der ungebremsten Verschuldungszunahme hat die aktuelle Wirtschaftspolitik offenbar recht wenig mit der keynesianischen Theorie zu tun. Sie erscheint vielmehr konzeptlos, quasi aus der Not geboren.
Die Staatsverschuldung der OECD-Staaten ist zwischen 2000 und 2010 von 73,5 Prozent auf 97,6 Prozent gestiegen. Einen Überblick über die länderspezifischen Werte vermittelt die folgende Grafik.
Die Zunahme der öffentlichen Schulden übertraf damit im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts das Wirtschaftswachstum OECD-weit um satte 24,1 Prozent. Die wiederholten Beschwörungen, mit der Schuldenaufnahme würden Zukunftsinvestitionen finanziert und die Wirtschaft würde zu einem sich selbst tragenden Wachstum zurückkehren, erwiesen sich als Wunschdenken. Ohne externe Stimuli geht offenbar nichts mehr. So erreichte in den USA - trotz allgemein positiver Beurteilung der konjunkturellen Lage - der Anteil der Staatsschulden am BIP im Jahr 2014 103,2 Prozent und lag damit um rund 10 Prozent höher als vier Jahre zuvor.
Nachdem das Platzen der US-Immobilienblase die begrenzte Kreditwürdigkeit privater Haushalte auf erschreckende Weise offenbarte, hätte erwartet werden können, dass sich zumindest die private Neuverschuldung in Grenzen hält. In den USA, in Großbritannien und in Deutschland ist sie tatsächlich zurückgegangen, jedoch im OECD-Durchschnitt weiter angestiegen. Auch verzeichnet mittlerweile die Kreditaufnahme US-amerikanischer Privathaushalte wieder einen deutlichen Zuwachs.
Addiert man die Zunahme des privaten Verschuldungsanteils am BIP zwischen 2000 und 2010, deren Betrag bei etwa 25 Prozent liegt, zu der entsprechenden Zahl des öffentlichen Schuldenwachstums, erhält man einen Wert knapp unterhalb 50 Prozent. Damit wird eine Größenordnung erreicht, die keinen Zweifel daran lässt, dass ohne massive Alimentation der Konsumentenseite die Wirtschaft in einen Abwärtsstrudel geraten wäre.
In Japan, das bereits seit Beginn der 90er Jahre einem "Cocktail" aus wirtschaftlicher Stagnation, Deflationstendenzen und massivem Schuldenzuwachs ausgesetzt ist, stieg der öffentliche Verschuldungsgrad im Jahr 2014 auf einen Wert von 246,6 Prozent. Er lag damit um 46,9 Prozent höher als vier Jahre zuvor - die Verschuldungsgeschwindigkeit nimmt augenscheinlich zu. Da dies in Ökonomen-Kreisen offenbar nicht als dramatisch empfunden wird, ist davon auszugehen, dass für die übrigen Industriestaaten noch ein beträchtlicher Puffer besteht. Auch schafft die Niedrigzinspolitik der Zentralbanken Voraussetzungen, dass der Schuldendienst weiterhin zu stemmen ist.
Während die öffentliche Verschuldung nach wie vor rapide ansteigt, stößt die Kreditvergabe an Privathaushalte allmählich auf Grenzen. Diese erfolgt gewöhnlich durch Banken und Sparkassen, die geschockt durch die Finanzmarktkrise risikoscheu geworden sind. Ebenso haben die härteren Restriktionen von Basel III seit 2013 eine dämpfende Wirkung. Zwar werden ständig neue Finanzierungsmodelle wie etwa Immobiliendarlehen mit verminderter Tilgung entwickelt, um den Kundenkreis zu erweitern. Jedoch sind der privaten Verschuldung schon dadurch Schranken gesetzt, dass Kreditbedarf und -würdigkeit naturgemäß divergieren.
Die ähnlich hohe Verschuldung von Privatunternehmen kann in diesem Zusammenhang unberücksichtigt bleiben, da sie vornehmlich die Vermögensverteilung innerhalb der Anlegerschaft betrifft.