Nachrichtenmüde Jugend: Kein Interesse mehr an arrivierten Medien
Leibniz-Institut für Medienforschung untersucht wichtige Parallelwelt. Es geht um Glaubwürdigkeit und Orientierung der klassischen Medien. Woran liegt das Desinteresse der Jugendlichen?
Das heile Haus wurde zur Ruine, durch deren Risse der Wind der Kommunikation bläst.
Wilhelm Flusser, Durchlöchert wie ein Emmentaler
Das Leibniz-Institut für Medienforschung hat eine Studie veröffentlicht, die eine wissenschaftliche Nahsicht auf Jugendliche versucht, die "ihre Interessen und Anliegen in den klassischen Nachrichtenmedien nicht wiederfinden". Sie werden in der Studie "als gering informationsorientiert" bezeichnet.
Sie haben nur ein geringes Interesse am aktuellen Weltgeschehen, nutzen kaum Informationsangebote etablierter Medien und werden daher mit journalistischen Angeboten kaum noch erreicht.
Sie machen etwa ein Drittel der 14- bis 24-Jährigen aus (Jugendliche im Alter von 14-17 Jahren: 45 Prozent, junge Erwachsene im Alter von 18-24 Jahren: 22 Prozent).
Stattdessen spielen Angebote in Sozialen Medien eine wichtige Rolle für diese Gruppe junger Menschen. Sie bleiben fast ausschließlich über beiläufige Informationskontakte bei TikTok und YouTube auf dem Laufenden, bevorzugen unterhaltende Inhalte und verfolgen dabei individuelle Interessen, über die sie auch im Freundeskreis sprechen.
Hans-Bredow-Institut, Leibniz-Institut für Medienforschung
Man kann bei jedem der großen Debattenfelder– Corona-Krise, Ukraine-Krieg, Gaza-Krieg – bis zehn zählen, bis dieser Vorwurf kommt: "Die Medien" berichten einseitig. Das ist auf jeden Fall Diskussionsstoff. Nur, ob sich der Vorwurf halten kann, wenn man den tatsächlichen Medienkonsum beachtet?
Das ist unsicher, weil da Twitter ins Spiel kommt, Telegram, YouTube oder TikTok, um nur einige der Plattformen zu nennen, die besser zum neuen Medienkonsum passen als die Abo-Zeitung auf der Treppe oder ganze Artikel in den Online-Ausgaben der Medien. Stattdessen schnelles Info-Management, bilderstark, mit Fun und kein Blatt vor dem Mund.
Das muss nicht unseriös sein. Am 7. Oktober sei er via Twitter schneller und besser informiert gewesen als über die gewohnten Nachrichtenkanäle, schrieb ein Ha‘aretz-Journalist. "Tell me something, I‘ dont know", war sein Kommentar zur späten Reaktion der klassischen Medien.
Vorwurf der Einseitigkeit: "Ich darf doch mal sagen"
In den Twitter-, TikTok-, Telegram-, Instagramm, YouTube-Bilder- und Textwelten herrscht eine derartige Opulenz an Material, dass von Einseitigkeit im Gesamtbild nicht die Rede sein kann. Neben der alten Medienwelt, Printzeitungen im Abo, TV-Sender, Online-Medien gibt es Parallelwelten der Öffentlichkeit. Und sie sind relevant. Unternehmen haben das schon lange im Budget.
Dort darf man vieles sagen, weit über die Grenzen hinaus, die die klassischen Medien ziehen. Bis es den Desinfo-Wächtern auffällt. Und das kann dauern.
Eltern erzählen, dass ihr jugendlicher Nachwuchs nicht mehr TV schaut, keine Zeitungen liest und auch keine Onlineangebote der Tageschau, des Spiegel, der SZ, der Welt, der Faz oder der taz wahrnimmt.
Was das für Konsequenzen hat?
Darauf folgen häufig resignatives Schulterzucken und Erklärungen aus der alten Welt ("Die Jugendlichen verlieren Hintergrundinformationen und die Fähigkeit zur Differenzierung"). Die arrivierten Medien schauen seit einigen Jahren bange auf diese Entwicklung. Bislang fehlt eine Erklärung dafür, die man als Formel verwenden könnte, um die Jugendlichen in die traditionelle Öffentlichkeit zu holen.
Eine solche operativ umzusetzenden Erklär-Formel hat auch die Studie aus Leipzig nicht. Aber man hat genauer hingeschaut.
Das Besondere an der Studie: Man legt keine empirische, quantitative Arbeit vor, sondern qualitative Forschung: Ergebnisse aus Gesprächsrunden, die in vier Großstädten in Deutschland in zehn Gruppen mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Alter zwischen 14 und 22 Jahren geführt wurden. Gesprochen wurde mit insgesamt 46 Teilnehmern der Studie.
Und, wie schon angedeutet: Die Wissenschaftler wollten mehr über das Informationsverhalten von bestimmten Jugendlichen erfahren, die man als "nachrichtenmüde" bezeichnen könnte: "junge Menschen, die sich kaum für aktuelle Informationen interessieren und mit journalistischen Angeboten nicht erreicht werden: die gering Informationsorientierten".
Warnhinweis
Weswegen der Studie ein Warnhinweis beigefügt ist:
Die in dieser Studie gewonnenen Erkenntnisse sind nicht dazu geeignet, verallgemeinernd und allgemeingültig auf alle Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland übertragen zu werden. Vielmehr geben die Ergebnisse wertvolle Einsichten in eine Teilgruppe junger Menschen, die wenig am aktuellen Weltgeschehen interessiert ist und mit Informationsangeboten etablierter Anbieter kaum erreicht wird.
Hans-Bredow-Institut
Also wird das Rätsel der viel beobachteten Abkehr der Jugendlichen und jungen Erwachsenen nur teilweise aufgehellt. Was hat aber man nun herausgefunden über diejenigen Jugendlichen und junge Erwachsenen, die meist eine niedrige formale Bildung haben und für die Nachrichtenangebote der etablierten Medien kaum mehr eine Rolle spielen?
Kein sicheres Zuhause mehr
Dass Informationen vor allem bei TikTok, Instagram und YouTube oder über Google-Suche gefunden werden. Dass Social-Media-Prominente, erwähnt werden Herr Anwalt oder Rezo, eine "wichtige Rolle als Informationsquelle" einnehmen.
Mit der Begründung, dass sie das Interesse der Jungen wecken - und Vertrauen genießen, "da sie nach Ansicht der jungen Menschen die richtigen Themen auf eine neutrale Art mit der entsprechenden unterhaltenden Darstellungsweise behandeln".
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Wenn es um den generellen Eindruck geht, den soziale Netzwerke auf die Jungen machen, so gibt es starke Zweifel an der Neutralität wie auch an der eigenen Wahl dieser Informationsgroßquelle.
Ein gewisses "Suchtpotenzial" problematisieren die Befragten bei ihrer Nutzung sozialer Medien. Dass überwiegend negativer, "toxischer" Content verbreitet wird und "Fake-Accounts" und "Fake-Inhalte" zunehmen, führt in der befragten Gruppe zu Unsicherheiten und in der Konsequenz zu fehlendem Vertrauen in Inhalte in sozialen Medien allgemein – eine Differenzierung nach Accounttyp bzw. Absender wird dabei nicht getroffen.
Hans-Bredow-Institut
Also gibt es auch in dieser Welt kein sicheres Zuhause mehr:
Zwar haben die Teilnehmenden teilweise Strategien, wie sie mit Unsicherheiten angesichts zweifelhafter Absender und Inhalte umgehen (meistens eine Google-Suche). Insgesamt ist dies allerdings ein Indiz dafür, dass es in der untersuchten Gruppe große Orientierungsprobleme gibt.
Hans-Bredow-Institut
Das wäre ein Vorteil für die arrivierten Medien, die doch Orientierung versprechen?
Nicht wirklich. Unter den Jugendlichen und jungen Erwachsenen wurden in den Gesprächsrunden ein schlechtes Bild von Journalisten und "klassischen Medien" laut. Ironischerweise lautet der ganz ähnlich wie die Vorwürfe seitens klassischer Medien an soziale Netzwerke:
An den Nachrichten in klassischen Medien wird kritisiert, dass sie zu viel übertreiben und zu wenig differenziert erklären. Es werde zu viel über bestimmte Themen berichtet, während andere wichtigere Themen nicht erwähnt bzw. verschwiegen werden.
Hans-Bredow-Institut
In den etablierten Medien finden die Befragten ein "zweifelhaftes Gesamtbild, das weniger aufgrund falscher Fakten als vielmehr aufgrund des Weglassens einzelner Tatsachen, Meinungen und Ereignisse zustande komme. Dies führt zu Vertrauensverlust und zur Abkehr von klassischen Medienangeboten".
Die Jungen mögen nicht mit der "einen dominanten Perspektive" abgespeist werden. Schon gar nicht, wenn sie "keine Berührungspunkte" ihrer Lebenswelt aufweisen.