Nahost-Debatten: Die selbstreferenzielle und rückwärtsgewandte Sackgasse

Schild "Sackgasse" am Ende einer Straße

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Westliche Politik und östliches Leid: Warum es notwendig ist, lösungsorientierter über den Konflikt im Nahen und Mittleren Osten zu diskutieren. Kommentar.

Die Hamas hat Israel angegriffen, Israel daraufhin einen Krieg im Gazastreifen begonnen, dann das iranische Konsulat in Damaskus bombardiert, woraufhin die iranischen Revolutionsgarden Drohnen und Raketen nach Israel geschickt hat und ein paar der Verbündeten auch.

Warum steht da nicht "der Iran" oder "die Mullahs", die "Mörder-Mullahs" gar, sondern "die iranischen Revolutionsgarden"?

Die Revolutionsgarden: Mehr als nur Irans militärischer Arm

Eben weil alles um ein Vielfaches komplizierter ist, als es scheint, wenn die Nachrichten über den Bildschirm flackern, und die Statements von Politikern, von Organisationen und von Klaus-Maria Kasuppke, der gerade bei X (Twitter) vom Fußball-, ESC-, Ukraine-, Gaza- zum Iran-Experten geworden ist.

Der Nahe und Mittlere Osten steht vor gewaltigen Umwälzungen. Konflikte werden nicht mehr vor allem zwischen Staaten untereinander, sondern zwischen Staaten und Organisationen ausgetragen. Dazu gehören auch die Revolutionsgarden im Iran.

Ein Staat im Staat

Sie sind ein Staat im Staat, der seine Existenzberechtigung daraus ableitet, das mit der Islamischen Revolution geschaffene System in seiner Existenz zu schützen.

Gleichzeitig hat die Führung der Revolutionsgarden die daraus resultierende militärische Stärke dazu genutzt, um zur wirtschaftlichen und politischen Macht aufzusteigen.

Selbst wenn die Regierung, wenn der Ajatollah und seine Leute wollten – sie könnten den Revolutionsgarden nicht hineinreden.

Netanjahu gegen die Geister, die er rief

Und in Benjamin Netanjahu, dem israelischen Regierungschef, haben sie einen Gegenspieler wie aus dem Lehrbuch gefunden: Seit den Neunzigerjahren predigt er die iranische Bedrohung; das Versprechen an die Wählerschaft, nur er könne den jüdischen Staat vor der iranischen Bombe bewahren, spielte eine elementare Rolle bei seinem Aufstieg und Verbleib an der Macht.

Dass es nie zum "großen Knall" kam, das lag vor allem an der Militärführung, den Chefs der Geheimdienste, die betonten, dass es keine gute Idee ist, die direkte Konfrontation zu suchen.

Aber das hier ist kein normaler Text zu den aktuellen Entwicklungen in der Region. Es geht vielmehr um die Frage, ob es uns weiterbringt, wenn wir weiterhin so über die Entwicklungen diskutieren, wie wir es derzeit tun.

Das große Missverständnis: Warum echtes Verstehen so schwerfällt

Viel Zeit wird darauf verwendet, sich darüber aufzuregen, dass sich eine weitgehend unbekannte Rundfunkmoderation in ihren privaten Social-Media-Accounts auf die Seite der Israelboykott-Bewegung gestellt hat, oder sich darüber aufzuregen, dass andere sich darüber aufregen.

Versucht man, auf die Feinheiten der Politik und Gesellschaft im Iran, in Israel oder in Gaza, hinzuweisen, wird man auch mal als Iran-, Israel- oder Gazaversteher verdammt, so als sei "verstehen wollen" das gleiche wie "Verständnis haben".

Die Diskussionen, die Reaktionen auf die Entwicklungen im Nahen und Mittleren Osten, wirken oft sehr selbstreferenziell.

Man sucht in der Masse an Aussagen immer wieder aufs Neue nach dem Antisemiten, dem Anti-Muslim, verklärt den 7. Oktober zum "post-kolonialen Befreiungsschlag" oder springt laut schreiend auf, weil da jetzt vor dem Datum nicht "das Massaker am" steht. Und sie wirken im Stillstand verharrend: Wer hat angefangen; wer ist im Recht?

Tatsache ist: Was in der Region passiert, ist zerstörerisch und das nicht erst seit sechs Monaten, sondern vielen Jahren. Der Krieg im Jemen hat Hunderttausenden das Leben gekostet. Viele sind bei Kämpfen und Bombenangriffen gestorben. Mehr an Hunger, Krankheiten.

Die unermesslichen Kosten eines ewigen Konflikts

Im Gazastreifen wird dieses Grauen auf schockierende Art sichtbar, weil dieses Gebiet so klein ist. Im Iran landen die Menschen zu Tausenden im Gefängnis, werden gefoltert, und machen trotzdem weiter, mit ihrem Protest.

Und im Gazastreifen zeigt sich das ganze Grauen nun, weil dieser Landstrich so klein ist und so nah. Die Ordnung des Westens und das Elend des Ostens liegen hier nur wenige Kilometer weit voneinander entfernt.

Was in der Region passiert, kann auch für uns in Europa zerstörerisch sein. Die Revolutionsgarden haben die Straße von Hormus, jene Meerenge am Ausgang des Persischen Golfs, durch den ein Großteil der weltweiten Öltransporte zur See hindurch muss, vor der Nase.

Und auf der anderen Seite der arabischen Halbinsel stehen die Houthi im Jemen direkt an der Meerenge, durch die die Schifffahrt vom und zum Suezkanal durch muss. Und oben drüber verlaufen wichtige Flugrouten.

Ein Krieg im Nahen und Mittleren Osten kann also sehr vielen Menschen das Leben kosten und wer jetzt wirklich extrem egoistisch drauf ist, dem sollte die Auskunft reichen, dass es demnächst mal Probleme mit dem neuen iPhone geben könnte.

Die Suche nach einem realistischen Frieden

Die größere Region braucht Lösungen, Antworten auf Fragen, deren Antwort einem an und für sich den Schaum vor den Mund treiben kann.

Denn diese Werte, die wir uns in Deutschland in den vergangenen Jahren, erkämpft haben, die Freiheit, sich über Gendern und Genderverbote aufzuregen, man selbst zu sein, wird es im Nahen und Mittleren Osten auf absehbare Zeit wohl nicht geben.

Man wird mit Diktatoren und militanten Organisationen umgehen müssen. Mit Rechtssystemen, die archaisch wirken.

Der Verlauf der Debatte in Deutschland und anderen westlichen Staaten hat dazu geführt, dass die Politik vor allem darauf fokussiert ist, die Ereignisse möglichst schnell aus den Schlagzeilen zu bekommen. Denn es gibt immer eine Wahl zu gewinnen.

Und die Vehemenz, mit der auf jedes Wort geschaut wird, kann auch dazu führen, dass wichtige Gedanken nicht ausgesprochen werden.

Geopolitische Schachspiele: Was, wenn wir doch mit Russland reden?

Beispiel Ukraine: Sollte man mit der russischen Regierung reden? Keine Ahnung. Aber was wäre, wenn? Was wären die Forderungen, was könnte daraus resultieren?

Im Jemen-Krieg war es den Verhandlern der Vereinten Nationen nur möglich, wenigstens eine Waffenruhe, also die kleinste Form des Nicht-Kämpfens, auszuhandeln, weil man sich dieser Frage gestellt hat.

Auch der israelisch-palästinensische Konflikt wird erst dann enden, wenn sich die westliche Politik und Gesellschaft nicht mehr auf Schlagworte, sondern klare Ansagen konzentrieren: Ein Waffenstillstand muss her; aber gleichzeitig muss die Suche nach einer Lösung für die Menschen im Gazastreifen her. Und für jene im Westjordanland gleich mit.

Neue, frische Ideen werden gebraucht

Dass man seit Jahren darauf wartet, dass die politischen Verhältnisse in Israel vielleicht irgendwann mal günstig sein werden, und gleichzeitig an einem alternden, unbeliebten palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas festhält, weil ja möglicherweise die Falschen eine Wahl gewinnen könnten, ist ein Unding.

Und auch und gerade gegenüber dem Iran werden neue, frische Ideen gebraucht. Als das Atomabkommen mit dem Iran noch in Kraft war, war die Aufregung bei manchen groß: Der Iran halte sich nicht dran, es müsse dringend gekündigt, was Neues ausgehandelt werden.

Der damalige US-Präsident Donald Trump machte dem Abkommen dann 2018 den Garaus, doch die Folge war eben nicht etwas Neues und Besseres, sondern gar kein Abkommen, was den Hardlinern rund um Ajatollah Ali Khamenei und den Revolutionsgarden im internen Machtgefüge Auftrieb gab.