Nahost-Krieg in den Nachrichten: Worte, die werten

Sendestudio der ARD-Tagesschau (2008). Bild: Juliane / CC BY-SA 2.0 DE Deed

Mediensplitter (49): "Israel meldet Vorstoß in Gaza" – Was Tagesschau und andere Medien daraus machen und was das bedeutet.

"Israel meldet begrenzten Vorstoß in Gaza", lautete eine Schlagzeile bei Tagesschau.de am Donnerstagmorgen, 26.10.2023. Im Text hieß es dann weiter:

Soldaten hatten in den vergangenen zweieinhalb Wochen bereits mehrere begrenzte Vorstöße in den Gazastreifen unternommen.

Für den Beitrag waren (leider) keine näheren Quellen angegeben wie eigene Korrespondent:innen oder Nachrichtenagenturen.

Auch die Deutsche Welle formulierte ganz ähnlich: "Begrenzter israelischer Panzervorstoß in Gaza". Ebenso viele andere etablierte Medien wie z.B. Stuttgarter Zeitung/Stuttgarter Nachrichten.

Im deutschen Dienst der britischen Nachrichtenagentur Reuters hieß es hingegen in deutlich anderer Wortwahl zur selben Zeit:

06.20 Uhr - In der Nacht hat es dem israelischen Armee-Radio zufolge einen relativ großen Einfall israelischer Bodentruppen in den Gazastreifen gegeben. Dieser habe dem Angriff auf Hamas-Stellungen gedient. Dem Bericht zufolge war die Razzia größer als frühere seit Beginn des Krieges.

Im Weltdienst von Reuters hatte es kurz zuvor, um 6:14 Uhr, entsprechend gelautet: "Israel Army Radio: Ground Forces conducted relatively large Gaza incursion overnight" ("Israelisches Armeeradio: Bodenstreitkräfte führten über Nacht einen relativen großen Einfall/ein relativ großes Eindringen in Gaza durch").

Warum aber lautet die Wortwahl bei Tagesschau & Co. "begrenzter Vorstoß"? Diese Sprachverwendung erscheint mindestens doppelt fragwürdig:

1. In der Sache deuten z.B. die Reuters-Meldungen nicht unbedingt auf die gleiche Faktenlage hin ("relativ großer Einfall" - "größer als frühere"). Das ist zumindest eine andere Schwerpunktsetzung, eine andere Einordnung, ein anderes Framing (als Interpretationsrahmen) im Vergleich zur Tagesschau, selbst wenn es sich auf "dieselben" oder doch sehr ähnliche Tatsachen beziehen sollte.

2. Warum aber heißt es nicht einfach (und kurz) "Vorstoß", sondern "begrenzter Vorstoß"?

2a. Es mag sein, dass dies ein übersetztes Zitat aus dem Hebräischen oder Englischen mit Bezug auf eine offizielle Quelle aus Israel ist – auf einen Sprecher von Regierung oder Militär zum Beispiel. Dann erfordert journalistische Professionalität aber jedenfalls, genau dies kenntlich zu machen: Also die (etwaige) Version einer Kriegspartei genau als solche zu markieren, als direktes oder indirektes Zitat mit Quellenangabe.

Als Äußerung aus einer ganz bestimmten Perspektive, aus einer bestimmten Interessenlage. Und auch transparent zu machen, warum die Redaktion gerade diese Quelle (überhaupt oder als erste, als zweite, als dritte etc.) ausgewählt hat – und keine andere. Warum diese Quelle als wichtig oder vertrauenswürdig oder als was auch immer erachtet und somit bewertet wird.

Denn diese Selektions-Entscheidungen, welche Themen, Meinungen, Quellen und Darstellungsformen präferiert werden, sind selbstverständlichen keine wie auch immer "objektiven", sondern bestenfalls intersubjektiv nachvollziehbare von Journalist:innen und den entsprechenden Medienorganisationen.

2b. Dass es zumindest an der Stelle auch anders geht, zeigt sich beim Blick in den Spiegel: Dort wird die Rede vom "begrenzten Vorstoß" eindeutig als Zitat mit Bezug auf die israelische Militärführung vermittelt.

Leider erscheint dieser Unterschied zur Version von Tagesschau & Co. nicht als Zeichen von Pluralismus oder Medienvielfalt, sondern schlicht als Symptom von mehr oder weniger präsentem journalistischem Basis-Handwerk.

2c. Wenn "begrenzter Vorstoß" aber hier bei Tagesschau nicht als unkenntliches Zitat gemeint wäre, erheben sich weitere Fragen: Attribute als Eigenschaftswörter, die "Dingwörter" (also Substantive) näher bestimmen sollen, haben sehr häufig die eigene Eigenschaft, noch mehr zu werten als bereits das Substantiv, auf das sie sich beziehen sollen.

Daher wird gerade in den informationsbetont sein sollenden Bereichen des Journalismus (Meldungen, Berichte usw.) davon abgeraten, ohne Not und gleichsam "bewusstlos" Attribute zu verwenden – eben weil diese Attribute, häufig in Gestalt von Adjektiven, in der Regel noch mehr Bewertung in den Beitrag bringen.

Journalistische Autoritäten wie Wolf Schneider, dem man beileibe nicht in allen seiner Sprachkritiken zustimmen muss, weisen genau darauf hin: Sich dessen redaktionell zumindest bewusst zu sein - und daher wenn, dann sehr reflektiert gerade in kontroversen Kontexten zumal deutlich wertende Attribute zu verwenden.

2d. Und damit sind wir wieder beim "begrenzten Vorstoß": "Begrenzt" als Eigenschaft des Vorstoßes konnotiert hier deutlich in Richtung von "angemessen", "bedacht", "kontrolliert", "passend" etc. Es wird die Bewertung vermittelt: "Alles im Griff, alles nach Plan".

Ob dieser Ausdruck "begrenzt" im Sinne von Information und Objektivierung irgendetwas Sinnvolles beiträgt, darf gefragt werden, und zwar auch mit einer Art "Gegenprobe": Erschiene es sinnvoll, von "unbegrenztem Vorstoß" zu reden?

Das wäre schon deshalb rein logisch ziemlich sinnfrei, weil jeder noch so umfassende Vorstoß ganz sicher Grenzen hätte: geografische, zeitliche, die Anzahl der Panzer und Personen betreffend etc. Und somit in jedem Falle also ein "begrenzter Vorstoß" wäre.

Abgesehen von der (vermutlich unbewusst) vermittelten positiven Bewertung erweist sich der Ausdruck sachlich als Tautologie, also als leerlaufende, überflüssige Verdoppelung.

Daher hier als kurzes Fazit: Solche journalistische Praxis erscheint, um mit einer ausdrücklichen, aber vorsichtigen Wertung zu enden, als "begrenzt" professionell. Oder schauen wir mit Albert Einsteins (angeblichen) Worten auf ein Gegenstück zu "Begrenztheit", auf "Unendlichkeit": "Zwei Dinge sind unendlich, das Universum und die menschliche Dummheit - aber beim Universum bin ich mir noch nicht ganz sicher."

Das wiederum lässt sich wahrscheinlich, wenn überhaupt, nur "begrenzt" auf das oben Dargelegte beziehen.