Nahost-Pulverfass: Wer zündet die nächste Lunte?
Im Nahen Osten könnte es zu einem neuen, größeren Flächenbrand kommen. Warum Israel und die Türkei in Syrien aneinandergeraten könnten. Eine Analyse.
Die deutsche Außenministerin kam zu spät. Nicht nur, dass ihr der Handschlag vom inzwischen rehabilitierten ehemaligen Al-Qaida-Chef Al-Dschaulani verweigert wurde, muss dem Westen sauer aufgestoßen sein, sondern auch, dass die beiden Hauptmächte der Europäischen Union, Frankreich und Deutschland, nur zweite Sieger hinter der Türkei waren.
Schließlich waren der türkische Außenminister Hakan Fidan und Geheimdienstchef Ibrahim Kalin die ersten ausländischen Diplomaten, die den neuen Machthabern in Damaskus einen Besuch abstatteten.
Das ist folgerichtig: Die Türkei hat die prowestliche Wende schließlich am erfolgreichsten unterstützt. Erdogan kann sich über eine "Türkei größer als die Türkei" freuen.
Auf einer Konferenz zur Jahreswende sprach der anatolische Emporkömmling offen von Expansion, man könne die Türkei nicht auf "782 Tausend Quadratkilometer" beschränken. Aserbaidschan, Armenien, Griechenland, Xinjiang und nicht zuletzt Palästina als das Ziel neo-osmanischer Begehrlichkeiten?
Von der Hagia Sophia über die Damaszener Umayyaden-Moschee zu Al-Aqsa? Diesem Fiebertraum der Istanbuler Börse steht der zweite Gewinner der Flucht Al-Assads entgegen.
Inzwischen warnt der israelische Staat in Gestalt der so genannten Nagel-Kommission, einem Sondergremium zur Ausarbeitung außenpolitischer Richtlinien, die Türkei vor einem Krieg.
Diese sei sogar auf dem Weg, gefährlicher als der Erzfeind Iran zu werden. Trotz der an sich günstigen geopolitischen Lage würde damit aus israelischer Sicht ein neues Kapitel der Einkreisung aufgeschlagen. Aber: Ist das ein realistisches Szenario?
Aufteilung der Beute
Als die pro-westlichen Milizen den ohnehin spärlich gesäten Widerstand der syrischen Nationalarmee endgültig gebrochen hatten, konnten die Strategen in Tel-Aviv ihr Glück vermutlich kaum in Worte fassen.
Nach der militärischen Enthauptung der Hisbollah und der drohenden Vernichtung der Hamas der schwerste Schlag gegen die schiitische Vorwärtsverteidigung. Und ein schwerer Schlag gegen die ungleiche Achse Moskau-Teheran.
Kaum war die Baath-Partei gestürzt, nutzte Israel die Gunst der Stunde. In Windeseile rückten Panzer vor, annektierten völkerrechtswidrig von den Golanhöhen kommend einen 25 Kilometer langen Korridor und besetzten den Berg Hermon. 50 Kilometer bis Damaskus.
Unter dem im Westen gern kolportierten Vorwand, die Chemiewaffenbestände des Schlächterregimes zu vernichten, pulverisierte Israel sämtliche Verteidigungskapazitäten der syrischen Republik.
Luftwaffe, Panzerbrigaden und Militäreinrichtungen wurden zum historischen Schrott, der arabische Nationalstaat als geostrategischer Machtfaktor für Jahrzehnte ausgeschaltet. Israel schickt sich an, so Benjamin Netanjahu, "das Gesicht des Nahen Ostens zu verändern". Die zionistische Chimäre eines Gottesstaates vom Fluss bis zum Meer grüßt vom Horizont.
Die israelischen Ziele sind klar umrissen, offiziell mit der Schaffung einer Sicherheitszone, der Neutralisierung der unberechenbaren Ex-Salafisten, der Mitsprache in einer syrischen Nachkriegsordnung, der Verdrängung der pro-iranischen Kräfte.
Während Israel das Mordgeschäft im Süden betrieb, rückten pro-türkische Banden aus dem Norden vor. Doch: Wo hören beide Seiten auf?
Erdogan: Kurdistan, die Kriegsflüchtlinge und das Kapital
Für die Türkei ist die Lage siegreich, aber komplex. Die beiden offensichtlichsten Kriegsziele sind in greifbare Nähe gerückt. Zum einen nutzt Erdogan die syrischen Flüchtlinge gezielt als innenpolitische Sündenböcke für hausgemachte kapitalistische Krisensituationen.
Immerhin beherbergt die Türkei 3,6 Millionen, rund 25.000 sind in den ersten zwei Wochen nach dem Sturz Assads in ihre alte Heimat zurückgekehrt. Gepeinigt von antiarabischen Pogromen und einem Leben am untersten Rand der Gesellschaft werden Hunderttausende folgen. Doch das wird Jahre dauern.
Mit dem Sieg der türkisch kontrollierten SNA im Bündnis mit der HTS sollen auch die kurdischen Selbstverwaltungen zerschlagen werden. SDF und YPG sind in den Augen der Erdogan-Türkei kaum mehr als Terroristen, die es zu vernichten gilt.
Hier wird es kompliziert: Die SDF gelten als Bodentruppen der USA, die mit der kurdischen Kollaboration einen Finger auf dem Öl haben. Die Türkei dürfte das Faustpfand Syrien nutzen, um als Nato-Mitglied mit der neuen Trump-Administration zu verhandeln. Wenn Trump sich aus dem Krisenherd Naher Osten zurückziehen will, um alle Kräfte auf Xi konzentrieren zu können, wird Erdogan dafür einen hohen Preis zahlen.
Türkisches Kapital drängt vor allem in die syrische Bauwirtschaft, die wegen erheblicher Überkapazitäten im Inland nach neuen Investitionsflächen sucht. Wie die Stiftung Wissenschaft und Politik schon vor dem Fall von Damaskus resümierte, will Ankara einen Absatzmarkt für türkische Waren und türkisches Kapital schaffen. Die Aktienkurse für Zement und Stahl schossen in die Höhe.
Wirtschaftliche Verbindungen können und werden (müssen aber nicht) militärisch abgesichert.
Eine israelische Enklave sowie iranische Störfeuer wirken wie Sand im Getriebe der in den Startlöchern stehenden türkischen Profitmaschine. Erdogan wird sich bei seinen wirtschaftlichen Gönnern erkenntlich zeigen müssen, ein Umstand, der auch militärisch schwerwiegende Konsequenzen haben kann.
(K)eine zweite Front
Neben den neuen, stillen Frontstellungen zwischen der Türkei und Israel tritt insbesondere für Israel eine zweite, altbekannte Front wieder in den Vordergrund.
Wie die erzkonservative Jerusalem Post am Dienstag berichtete, befinden sich die israelischen Streitkräfte in höchster Alarmbereitschaft. Bis hin zu einem Präventivschlag gegen den Iran seien bis zur Amtseinführung des President-elect (20. Januar 2025) alle Szenarien im Bereich des Möglichen.
Ein israelischer Angriff auf die iranischen Atomanlagen scheint realistisch. Wie das Fachmagazin Defense Network berichtet, hat die IDF am 8. September 2024 auf syrischem Boden die Einnahme der Anlagen, vergleichbar mit denen im iranischen Natanz, geprobt.
Während Bushehr der zivilen Nutzung gewidmet ist, soll in Natanz unterirdisch auf bis zu 60 Prozent angereichert werden. Es dürfte kein Zufall sein, dass solche Informationen gerade jetzt durchsickern.
Gleichzeitig probt der Iran die Verteidigung der Anlagen. Während der iranische Präsident Peshschkian auf einen neuen, wirtschaftlich überlebenswichtigen Atomdeal hofft, sieht sich Israel mit der juristischen Verfolgung seiner urlaubsreifen Gaza-Häscher konfrontiert. Eigentlich eine gute Situation für den Frieden, oder?
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Für Frieden statt Krieg sprechen auch folgende Indikatoren: Das Jahr 2025 wird für den Iran und sein Gesellschaftssystem ein Jahr der Herausforderungen. Zwar hat der Präsident mit seinem Veto die jüngsten konservativen Angriffe auf die Frauenrechte gestoppt, doch die gesellschaftspolitische und wirtschaftliche Lage einer iranischen Talfahrtökonomie spitzt sich zu.
Ein Aber bleibt: Wie das italienische Institut Ispi prognostiziert, wird der Iran eine neue Verteidigungsdoktrin erarbeiten müssen. Diese wird von den Hardlinern angegriffen werden – sie fordern die Bombe.
Die Atombombe als einzige Garantie für die nationale Sicherheit. Ein kalkulierter Affront gegen Tel Aviv. Ein nuklearer Iran ist, bei aller Zuspitzung gegen die Türkei, der israelische worst case.
Fazit: Zwischen Rhetorik und Realismus
Wer hätte gedacht, dass der mächtigste Augenarzt der Welt das Jahr 2024 politisch nicht überleben würde? Die Dynamik im Nahen Osten ist beispiellos.
Während die Türkei und Israel ihre Claims abgesteckt zu haben scheinen, drohen neue Konflikte durch wirtschaftliche und militärische Expansion. Realistisch betrachtet haben aber auch die Nato-Weltpolizei USA sowie Iran und Russland ein Wörtchen mitzureden.
Die rhetorische Entgleisung der Türkei gegen Israel in Bezug auf die Solidarität mit dem palästinensischen Volk ist absurd. Die türkisch-israelischen Wirtschaftsbeziehungen haben sich zwischen 2002 und 2022 verachtfacht.
Die scharfe Rhetorik der Regierung wird verständlich, wenn man bedenkt, dass es in der Türkei Massenproteste gegen das israelische Verhalten gab. Dabei ging es weniger um Solidarität als um innenpolitische Kontrolle. Eine Frontstellung – Netanjahu & Erdogan – sieht ganz anders aus.
Kriegsrhetorik und militärischer Realismus sind im Nahen Osten zu unterscheiden. Der Iran kann bei Strafe seines Untergangs keinen Krieg wollen. Die Türkei und Israel verbindet – bei wachsender Bruchgefahr – mehr als sie trennt.