Narrativ statt Fakten: Correctiv und die Gratwanderung zwischen Journalismus und Aktivismus

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Das Ringen um die Wahrheit: Warum journalistische Präzision unerlässlich ist, um Glaubwürdigkeit zu bewahren. Rechtsstreitigkeiten und Kritik.

Anlässlich einer späten Kritik am Correctiv-Bericht vom "Geheimplan gegen Deutschland" hat sich Übermedien-Mitgründer Stefan Niggemeier im Spiegel Gedanken gemacht, wie akkurat Journalismus sein muss – wenn er einer als richtig ausgegebenen Sache dient.

Niggemeier fragt, ob es opportun sei, über die Qualität eines solchen Textes zu diskutieren. "Kann an einer Recherche, die so viel Gutes auslöst, etwas schlecht sein?" Mit Verweis auf Unsauberkeiten im Correctiv-Text und auf aktuelle Berichte über den US-Wahlkampf fragt er allgemeiner:

Ist es absurd, ausgerechnet den gefährlichen Lügner (Trump, einf. d.A.) vor falschen Unterstellungen in Schutz nehmen zu wollen? Wäre es in letzter Konsequenz nicht sogar legitim, ihn seinerseits mit falschen Unterstellungen zu bekämpfen?

Stefan Niggemeier: Seriösem Journalismus muss die Wirkung seiner Arbeit egal sein, Spiegel

Journalismus und Öffentlichkeitsarbeit

Im Ergebnis verneint Niggemeier dies. Journalismus, der mit zweierlei Maß messe, könne als Spiegelbild ideologischer Alternativmedien gesehen werden. "Seriösem Journalismus" müsse die Wirkung seiner Arbeit egal sein:

... weil er sonst jenen, die behaupten, unabhängiger Journalismus sei gelenkt und gar nicht unabhängig, selbst Belege dafür in die Hand gäbe.

Stefan Niggemeier

Nun mag auch ein von Ideologie getriebener "Journalismus" unabhängig sein, nämlich aus freien Stücken agierend. Aber wenn er sich nicht nach den etablierten Qualitätsstandards richtet, zu denen wesentlich die Richtigkeit und die Vollständigkeit gehören, dann ist er eben gar kein Journalismus, sondern irgendeine Form von Öffentlichkeitsarbeit, dann ist er Werbung für eine als gut oder wichtig betrachtete Sache.

In den medienkritischen Debatten wird dies meist als Aktivismus bezeichnet. Der Bereich des Journalismus ist verlassen, wenn zur Meinungsbildung notwendige Sachinformationen und Positionen unterschlagen oder verzerrt werden.

Die Qualitätsansprüche

Wie weit das lange Correctiv-Stück journalistischen Qualitätsansprüchen genügt, müsste detailliert analysiert werden. Und es ist erstaunlich, dass sich darum nicht gleich nach Erscheinen Medienjournalisten, aber auch Journalismusforscher, gekümmert haben.

Denn zunächst einmal ist der Gehalt des in drei Akten mit mehreren Szenen geschriebenen "Dramoletts" äußerst dünn.

Stefan Niggemeier, Christoph Kucklick und Felix Zimmermann monieren in ihrer Rezension anlässlich einer Preisverleihung für die Correctiv-Geschichte:

Angeblich stellt (Martin, Einf. d. A.) Sellner, so Correctiv, "das Gesamtkonzept", "den Masterplan" vor, wie Millionen von Menschen aus Deutschland zu vertreiben seien und wie der Angriff auf Staat, Bürger und Grundgesetz abzulaufen habe. Aber alles, was Correctiv daraus zu zitieren vermag, sind drei Satzfetzchen. Selten besaß eine investigative Recherche einen so hingehuschten Kern.

Stefan Niggemeier, Christoph Kucklick und Felix Zimmermann, Übermedien

Was im Text steht und was nicht

Entsprechend gab es auch in weiteren Medienberichten, die auf die Correctiv-Geschichte rekurrierten, überwiegend Schlagworte, u.a. die Zuspitzung "Deportation" (was im Englischen hingegen der Standardbegriff für Abschiebung ist).

Den Deportationsbegriff habe Correctiv selbst gar nicht verwendet, behaupteten deren Mitarbeiter immer wieder.

Im Text selbst stand das Wort in der Tat nie. Aber in einer parallel erschienenen Buchwerbung. Das Schlagwort muss also so nahe gelegen haben, dass es Correctiv-Mitarbeiter selbst aus dem Text gelesen haben.

Die "Geheimplan"-Geschichte lebt von Andeutungen, Nahelegungen, Assoziationen der Autoren. Wer sie nachrichtlich sauber zusammenfassen möchte, wird einige Mühe haben.

Neben Fakten fehlen auch Angaben zur Recherche selbst, Stichwort Transparenz. Denn wie Correctiv die Konferenz beobachtet hat und zumindest in Teilen wörtlich protokollieren konnte, wird im Text nicht deutlich.

Rechtsstreitigkeiten: Unterschied zwischen Tatsachenbehauptung und Meinung

In den Gerichtsverfahren dazu wurde mit eidesstattlichen Versicherungen gearbeitet.

Da vieles im Correctiv-Text von Juristen als Meinungsäußerung gewertet wird, ging es in den bisherigen Rechtsstreitigkeiten dazu auch stets nur um eher kleine Einzelaspekte. Denn Meinungen sind frei und nicht gerichtlich prüfbar, nur die ihnen zugrundliegenden bzw. ggf. implizit enthaltenen Tatsachenbehauptungen.

Hier wird es auch schwierig, wenn einzelne Schlagworte keinem Sprecher zugeordnet werden, der sich ggf. falsch zitiert sehen könnte.

Ende Juli hatte das Oberlandesgericht Hamburg allerdings dem NDR die Darstellung verboten, in Bezug auf den Antragsteller, Rechtsanwalt Ulrich Vosgerau, zu berichten, auf dem Potsdamer Treffen sei die Ausweisung von Staatsbürgern diskutiert worden sei.

Für diese einstweilige Verfügung genügte die Glaubhaftmachung, dass über das von der Tagesschau Behauptete tatsächlich nicht gesprochen wurde. Eine ausführliche Beweiswürdigung steht immer erst im sogenannten Hauptsacheverfahren an, das unter anderem wesentlich von der öffentlichen Verhandlung geprägt ist.

Correctiv selbst bezeichnet den konkreten Rechtsstreit als "juristisches Scharmützel". Der Beschluss betreffe im übrigen Correctiv selbst nicht, was korrekt ist. Dort steht entsprechend weiterhin im Epilog:

Es bleiben zurück: (...) ein "Masterplan" zur Ausweisung von deutschen Staatsbürgern, also ein Plan, um die Artikel 3, Artikel 16 und Artikel 21 des Grundgesetzes zu unterlaufen.

Correctiv selbst sieht in der Übermedien-Kritik eher "stilistisch(e) Anmerkungen".

Zur Debatte um die Qualität der Correctiv-Berichterstattung ist nach dem kritischen Beitrag von Kucklick, Niggemeier und Zimmermann auch eine Gegenrede von Andrej Reisin erschienen, ebenfalls bei Übermedien.

"Was wir über Rechtsextremismus wissen"

Schon die Überschrift macht deutlich, wie die Argumentation verläuft: "Die Kritik an Correctiv ignoriert, was wir über Rechtsextremismus wissen".

Der Autor erörtert u.a., wie der Begriff "Remigration" in rechtsextremen Kontexten zu verstehen sei, wo die Grenze zur Verfassungsfeindlichkeit von Äußerungen verlaufe. In der Argumentation von Kucklick, Niggemeier und Zimmermann sieht Reisin "eine atemberaubende Verharmlosung von Rechtsextremismus, der Geschichte seiner Verbrechen und dem, was er anzurichten gedenkt".

Reisin verweist auf vieles, was gerade nicht im Text steht:

Aber schauen wir einmal, was Sellner und sein Umfeld dazu schon formuliert haben. So schreibt Maximilian Krah, AfD-Europaabgeordneter und wie Sellner Autor im laut Verfassungsschutz "gesichert rechtsextremen" Antaios-Verlag von Götz Kubitschek, in seinem Buch "Politik von Rechts": (...)

Andrej Reisin, Übermedien

Das alles ist für eine Betrachtung der extremen Rechten interessant und relevant, ist aber gerade keine Enthüllung von Correctiv. Die Proteste auf den Straßen kamen nicht zustande, weil Maximilian Krah ein Buch geschrieben hat, über das er u.a. in einem reichweitenstarken Podcast von Tilo Jung ausführlich gesprochen hat.

Die Frage nach der Qualität, gar Preiswürdigkeit des Correctiv-Stücks ist unabhängig davon, was es noch alles zu sagen gäbe. Es kann nur zählen, was darin gesagt wurde.

Härteste Kritik trifft Medien

Die härteste Kritik von Kucklick, Niggemeier und Zimmermann trifft allerdings gar nicht Correctiv, sondern die vielen Medien, die diese ohnehin schon im Kern schwache Geschichte auf wenige, oft auch noch falsche Schlagworte reduziert haben, ohne selbst nennenswert Neues beizusteuern.

Eine Diskussion um die Inhalte des Potsdamer Treffens bzw. die sehr verschiedenen Vorstellungen in der Gesellschaft über Zuwanderung (was etwas anderes ist als etwa Asyl vor politischer Verfolgung oder Krieg) kam jedenfalls nicht in Gang.

Stattdessen kursieren seit dem 10. Januar 2024 viele Behauptungen zum Potsdam-Treffen, die vom Correctiv-Artikel selbst nicht gedeckt sind. Selbst der Verein Netzwerk Recherche, der den Beitrag ausgezeichnet hat, glänzt da nicht:

Auch in der Begründung für die Verleihung des "Leuchtturm"-Preises heißt es, Correctiv habe herausgefunden, dass Sellner auf dem Treffen "über eine massenhafte Ausweisung von Menschen aus Deutschland, basierend auf rassistischen Kriterien" gesprochen habe.

Doch im Tatsachenteil des Correctiv-Berichts findet sich kein Zitat von Sellner, in dem er von rassistischen Kriterien, Hautfarbe oder Ähnlichem spricht.

Christoph Kucklick, Stefan Niggemeier und Felix Zimmermann

Exaktheit und belegte Fakten bleiben eine Herausforderung für den Journalismus, nicht nur bei diesem hochemotionalen Thema.