"Nationalismus wird uns immer ins Elend führen"

Seite 2: "Ein Weckruf für eine herrschaftsfreie Gesellschaft"

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Die kürzlich verstorbene Christine Nöstlinger war ja nicht nur Kinderbuchautorin sondern auch politische Kommentatorin. Zum letzten Wahlergebnis in Österreich hat sie gesagt, sie betrachte die fünfzig Jahre Aufklärungsarbeit, die sie geleistet hat, als für die Fische. Aufklären könne man letztlich nur die eigenen Leute. Die meisten aber wollen sich fürchten und sind nicht bereit nachdenken.

Konstantin Wecker: Wenn das ausgenützt wird, dann ja. Weil die Menschen leider sehr manipulierbar sind. Man kann dies aber auch in eine andere Richtung lenken. Ich möchte an dieses politische Lehrstück erinnert, das sich mit der "Willkommenskultur" gezeigt hat. Das war eine wirkliche Bürgerbewegung. Und es hat knapp drei Monate gedauert, bis diese Menschen ausgelacht und als "Gutmenschen und Teddybärwerfer" verspottet wurden.

Man muss sich dies nur einmal verbildlichen, wenn diese Geschichte in Thailand gewissen Kreisen nicht passen würde, wäre es möglich in kurzer Zeit zu sagen: Die waren selber schuld, ihr Lehrer war schuld und wer schuld ist, soll sterben. Was auch immer man sich da für einen Blödsinn einfallen lässt. Auch das wäre manipulierbar. Keine Frage. Es wurde manipuliert, weil gewissenlose Potentaten die Chance sahen, dies auszunutzen.

Die AfD hat 99% ihrer Anträge im Bundestag nur zum Thema Flüchtlinge gestellt. Sie haben ja kein anderes Thema. Sie wissen genau, dieses Thema zieht und das weiß auch der Herr Seehofer. Dabei gibt es viel weniger Flüchtlinge als noch vor zwei Jahren. Das ist infam, was da passiert. Es gibt einen erschütternden Brief von Seenotrettern, den sie an Horst Seehofer geschrieben haben und gefragt haben "Wir retten Menschen, aber was tun Sie?" Seehofer will die Retter ja sogar unter Strafe stellen. Das wäre so, als würde man die thailändischen Rettungstaucher bestrafen.

Und Mitgefühl ist ja ganz offensichtlich in großem Umfang vorhanden.

Konstantin Wecker: Ich bin mir auch nicht ganz sicher, ob die Aufklärungsarbeit dahin ist. Denn gleichzeitig merke ich, wie im Verborgenen und viel weniger lautstark, bei vielen Menschen, sich eine Art spirituelle Revolution vollzieht. Ein Wandel, der per se nicht plakativ sein kann.

Ich schreibe ja gerade einen "anarchischen Psalm" mit meinem neuen Buch "Poesie und Widerstand". Ein Weckruf für eine herrschaftsfreie Gesellschaft. Es ist ein Prosagedicht. Man kann es Slam Poetry nennen, aber ich bin zu alt, um es so zu nennen. (lacht) Ich merke es an meinem 18-jährigen Sohn - der ist ja aktiv in der Antifa und ich kenne seine Freundinnen und Freunde -, die Jungen lassen viel mehr als wir damals diesen anarchischen Gedanken wieder zu.

Unser Problem war seiner Zeit diese Ideologisierung, daran ist meines Erachtens die 68er-Revolution gescheitert. Es waren zu viele Menschen da, die plötzlich genau wussten, mit welchen starren ideologischen Mitteln sie die Welt retten können. Ich war damals umgeben von Gegnern aus der KPD/ML, Marxisten-Leninisten, Trotzkisten - die waren mir noch am sympathischsten - und natürlich Maoisten. Und jeder hat gegen den anderen gekämpft, anstatt zu sagen: Wir haben eine ähnliche Vorstellung. Uralte Stalinisten gab es dann auch noch und wir Anarchos waren ziemlich allein. Heute glaube ich, ist da eine Öffnung und mein jahrzehntelanger Versuch, Politik und Spiritualität zusammenzubringen, scheint langsam ein wenig auf fruchtbaren Boden zu fallen..

Bemerken sie diese Veränderung auch innerhalb ihrer publizistischen Tätigkeit?

Konstantin Wecker: . Als wir vor fünfzehn Jahren mit dem Internetmagazin "Hinter den Schlagzeilen" anfingen, hat es vielen Marxisten die Fußnägel aufgedreht, wenn ich das Wort Spiritualität nur erwähnt habe. Viele Spirituelle glaubten hingegen immer, Politik habe mit ihnen nichts zu tun, alles passiere nur im Inneren.

Da hat sich vieles geändert. Spirituelle Menschen gehen mittlerweile vor gegen jede Form von Amtskirche und religiöse Dogmatik. Politisch engagierte Menschen haben nicht mehr diese ideologische Starrheit. Die führt immer in den Untergang, weil sie die Selbstreflexion unterbindet. Eine wesentliche, wenn nicht die wesentlichste Aufgabe des Menschen besteht darin, sich selbst auf die Schliche zu kommen. Manche schaffen das bereits mit 20, aber ich habe dafür länger gebraucht. Ich habe verschiedene Ichs in meinem Leben gehabt und manchmal von einem Tag auf den anderen gedacht, wer war ich da eigentlich gestern? Welches Ich war das und was ist das wesentliche an mir. Diese Suche nach Identität muss in einem selbst passieren, sonst sucht man sie bei den Identitären, im Völkischen und Nationalen. Und das zu erkennen, dazu kann einem die Kunst verhelfen.

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