"Nationalsozialismus" ist ein Lügenwort

Seite 2: NS-Vergleich als Wahlkampflüge

Anlass für diesen Artikel, der im Spiegel-Archiv zugänglich ist, war die bevorstehende Bundestagswahl 1980. Franz Josef Strauß, Kanzlerkandidat der CDU, hatte im Wahlkampf gegen Helmut Schmidt und die SPD zur primitivsten Geschichtslüge gegriffen und herausposaunt: "Sowohl Hitler wie Goebbels waren im Grunde ihres Herzens Marxisten."

Ein später Sieg und zugleich auch eine absurde Verkehrung von Hitlers Demagogie, denn für den waren die Marxisten und "Bolschewisten" die eigentlichen und ärgsten Feinde, die Juden "nur" die Sündenböcke, womit er leider an jahrhundertelange (und heute wieder wachsende) Ressentiments und Vorurteile anknüpfen konnte.

Hitler selbst spottet in "Mein Kampf" über die "einfältigen bürgerlichen Angsthasen", die fürchteten, "daß wir im Grunde genommen auch nur eine Spielart des Marxismus wären, vielleicht überhaupt nur verkappte Marxisten oder besser Sozialisten".

Ging es Hitler darum, von der Attraktivität linker Ideen zu profitieren, so ging es Strauß um die Diffamierung seiner linken Gegner, indem er sie in Nazi-Nähe rückte. Beide wussten genau, dass sie die Wähler täuschten. Doch weil es ja so ein einfaches Erklärungsmuster ist und politisch so nützlich scheint, wird die Lüge von der ideologischen Nähe von Faschismus und Sozialismus bis heute immer wieder kolportiert, bevorzugt natürlich von konservativer, aber auch liberaler Seite. Sie spukte im Kopf des Historikers Joachim Fest ebenso wie in den erzlibertären Kreisen um Ludwig von Mises.

George Reisman, ein Schüler Mises, kommt nach wirren Argumentationsketten zu der skandalösen Aussage:

Die Kommunisten … haben den Charakter bewaffneter Räuber, die bereit sind, für ihren Raub über Leichen zu gehen. (…) Was die Nazis angeht, so mussten sie meistens nur Juden töten, um an deutsches Eigentum heranzukommen.

Man muss also nicht die AfD bemühen, um Beispiele für die Verknüpfung von Antikommunismus mit der Beschönigung oder gar Rechtfertigung von Naziverbrechen zu finden. Solche Ansichten rücken von der extremen Rechten immer mehr in die Mitte der Gesellschaft.

Mitschuldig daran sind auch EU-Initiativen wie der 2009 eingeführte "Gedenktag für die Opfer totalitärer und autoritärer Regime" und die EU-Resolution vom September 2019 "zur Bedeutung des europäischen Geschichtsbewusstseins für die Zukunft Europas". Hier wie dort werden faschistische und stalinistische Verbrechen in einen Topf gerührt. Kritik daran kommt fast nur von linker, teilweise aber auch von jüdischer Seite.

Hannah Arendt, bekannt vor allem durch ihre Totalitarismus-Theorie, ist übrigens gerade keine Kronzeugin für die Gleichsetzung der Ideologien. In ihrem oft missinterpretierten Werk "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" spricht sie von totalitären Bewegungen, die sich der Ideologien bemächtigten.

Hitler habe sich so des Rassismus (auf den sie die NS-Ideologie reduziert) bemächtigt, Stalin des Kommunismus. Für totalitär hielt sie allein die Hitler- und die Stalin-Diktatur, im Übrigen verehrte sie Rosa Luxemburg und trat für eine Räte-Demokratie ein.

Größeren öffentlichen Widerspruch erhalten die Gleichsetzungen faschistischer und sozialistischer Systeme fast nur dann, wenn sie gleichzeitig auf eine Holocaust-Verharmlosung hinauslaufen. Was letzteres betrifft, sind die öffentlichen Sicherungen sehr scharf.

Ein Beispiel ist das Wort "Reichskristallnacht". Es findet sich relativ wertfrei und ohne Anführungszeichen in vielen Publikationen bis zum Ende der 1980er Jahre. Erst da wurde sein verharmlosender, euphemistischer Charakter erkannt – oder es war zu diesem Zeitpunkt einfach in Vergessenheit geraten, dass das Wort ursprünglich gar kein zynischer Nazi-Sprech war, sondern eher eine ironische Erfindung des (Berliner) Volksmunds. In Klemperers Buch LTI kommt das Wort gar nicht vor.

Heute zählt es die Bundeszentrale für politische Bildung zu den zehn Stigmavokabeln, wobei die Diskussion anhält, ob die jetzt übliche Ersetzung durch Pogromnacht nicht ebenfalls irreführend und verharmlosend ist.

Wissen ist anstrengend, Unwissen bequem

2018 sorgte der britische Tory-Abgeordnete Syed Kamall im EU-Parlament für einen Eklat mit der Behauptung, der Nationalsozialismus sei "eine Spielart des Sozialismus". Bemerkenswert daran war, dass er mit dem Protest und Tumult, den er auslöste, offenbar nicht gerechnet hatte. Die Behauptung schien ihm auf der Hand zu liegen und das NS-Wort dafür ein hinreichendes Argument zu sein. "Kommt schon, es nennt sich Nationalsozialismus", zitiert ihn der Spiegel.

Ähnlich kurzschlüssig-naive und unreflektierte Statements finden sich in Internetforen zu Tausenden, von einem wissenschaftlich ausgebildeten Akademiker (Kamall ist Wirtschaftswissenschaftler) sollte man sie jedoch nicht unbedingt erwarten. Es sei denn – siehe Strauß –, es steht die politische Absicht im Vordergrund.

Nicht jede Falschbehauptung ist jedoch eine bewusste Lüge. Auch bloße Ideologische Voreingenommenheit vernebelt die Urteilskraft und verdrängt unliebsame Fakten. Das ist als "confirmation bias" altbekannt, wird aber erst seit wenigen Jahren nicht nur als (passives) kognitives Problem, sondern als aktive Strategie erkannt und untersucht.

"Strategische Unwissenheit" nennt sich das Phänomen, "Agnotologie" die Wissenschaft dazu. Auf persönlicher Ebene dient diese Strategie – eigentlich als Ignoranz ebenfalls schon lange bekannt – dem Schutz des eigenen Weltbilds sowie der Vermeidung von Handlungen, etwa in Bezug auf Wohltätigkeit, Flüchtlingsfragen, Klimawandel und ganz allgemein politischem und gesellschaftlichem Engagement. Kurzformel: "Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß!"

Unwissenheit lässt sich – und das ist die brisante gesellschaftspolitische Ebene – aber auch aktiv erzeugen. Die direkte Lüge ist dafür nur das klassische, sozusagen primitive Mittel, das sofort versagt, wenn die Wahrheit ans Licht kommt.

Moderner und wirkungsvoller sind die Schaffung "alternativer" Fakten und die Förderung von Zweifel. Nachgewiesen wurden solche Strategien zuerst bei Tabakkonzernen, die durch die Förderung von wissenschaftlichen Untersuchungen zur Krebsgefahr vieler weiterer Stoffe die Krebsgefahr des Rauchens zu relativieren suchten, was auch Erfolg hatte.

Ähnlich gingen Konzerne gegen Studien vor, die vor zu hohem Zuckerkonsum oder der Gefährlichkeit von Asbest und Blei warnten (hier eine Dokumentation dazu). Es ist sehr wahrscheinlich, dass solche groß angelegten Täuschungsmanöver nicht nur zugunsten wirtschaftlicher, sondern auch politischer Ziele eingesetzt werden.

Wenn immer neue Interpretationen, immer neuer Indizien mal auf diesen, mal auf jenen Schuldigen an offensichtlichen Verbrechen verweisen (9/11, MH17, Giftgasangriffe in Syrien, Nowichok …), bewirkt das nur, dass die Rezipienten letztlich an allem zweifeln – an den echten Fakten (aber welche sind echt?) ebenso wie an den alternativen. Wer dann schlussfolgert "Politiker sind alle Verbrecher", wählt zumindest nicht die Gegenpartei und wird schlimmstenfalls Nichtwähler. Oder Verschwörungstheoretiker. Oder Holocaust-Leugner.

Hannah Arendt hat dies schon 1964 gewusst. In ihrem Essay "Wahrheit und Politik" schreibt sie:

Wo Tatsachen konsequent durch Lügen und Totalfiktionen ersetzt werden, stellt sich heraus, daß es einen Ersatz für die Wahrheit nicht gibt. Denn das Resultat ist keineswegs, daß die Lüge nun als wahr akzeptiert und die Wahrheit als Lüge diffamiert wird, sondern daß der menschliche Orientierungssinn im Bereich des Wirklichen, der ohne die Unterscheidung von Wahrheit und Unwahrheit nicht funktionieren kann, vernichtet wird. (…) Konsequentes Lügen ist im wahrsten Sinne des Wortes bodenlos und stürzt Menschen ins Bodenlose, ohne je imstande zu sein, einen anderen Boden, auf dem Menschen stehen könnten, zu errichten.

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