Nepal: Ein Jahr zum Vergessen
Politisch gesehen war 2021 im Himalaya-Staat reine Zeitverschwendung. Wie die politische Klasse sich erneuern soll, wird immer ungewisser
"A forgettable year" lautete am Silvestermorgen der Titel des Leitartikels der Kathmandu Post, der wichtigsten englischsprachigen Tageszeitung. Man konnte den Widerwillen der Redakteure herauslesen, die die undankbare Aufgabe hatten, das politische Schlussresümee zu ziehen.
Selbst mit viel Verständnis und weitem Entgegenkommen war es für sie unmöglich, im politischen Prozess einen einzigen positiven Aspekt zu erkennen. Stattdessen verfestigt sich in der Presse und allgemein immer weiter die Vorahnung, dass es mindestens mittel-, wenn nicht sogar langfristig bei diesen trostlosen Jahresrückblicken bleiben wird.
Die Politik hat sich in eine Sackgasse manövriert, aus der es kein Entrinnen zu geben scheint. Spätestens 2021 hat sich das letzte bisschen Hoffnung auf Besserung verflüchtigt. Wenn sich überhaupt etwas ändert, dann mit höchster Wahrscheinlichkeit zum Schlechteren. Zum Glück hängt das Wohlbefinden der Bürger immer weniger von Politik, Parteien und Regierung ab.
Auf der schiefen Bahn
Nepal und seine Menschen haben eine äußerst mühselige Entwicklung hin zur Demokratie hinter sich. Die politischen Parteien treiben diesen Prozess zwar mit an, zumindest versuchen sie es, in der Regel wirken sie jedoch mehr als Bremsklotz.
Sie fordern den Wandel, ohne zu verstehen, was er bedeutet, sind nicht bereit, ihn in den eigenen Parteiorganisationen umzusetzen und sind in der Regel nach Erreichen der politischen Macht mit ihrer Ausübung überfordert.
So folgte bald auf die hoffnungsvollen Anfänge 1990 die erste Ernüchterung, die in einem zehnjährigen Bürgerkrieg mündete. In diesem standen sich konstitutionelle Monarchie und demokratische Parteien einerseits und die damals radikale maoistische KP gegenüber.
Dieser Konflikt endete 2006 mit einem Friedensschluss und der Abschaffung der Monarchie. Politische Stabilität blieb ein Wunschtraum, stattdessen folgte eine Dekade politisches Chaos, während der mehrfach die Existenz des Landes auf der Kippe zu stehen schien.
Trügerische Hoffnungen
Ein Aufatmen war im ganzen Land zu vernehmen, als 2017 die Wahl zum Nationalparlament zum ersten Mal seit Beginn der Demokratie im Jahr 1990 eine stabile Regierung an die Macht brachte. Vor der Wahl waren die gemäßigten Sozialisten von UML (Vereinte Marxisten-Leninisten) und die ehemals radikalen Maoisten, vormals Gegner im Bürgerkrieg, ein Wahlbündnis eingegangen und hatten zur neuen NCP (Nepal Communist Party) fusioniert.
Wenig bis nichts an diesem Bündnis war links (geschweige denn linksradikal), aber die Zweidrittelmehrheit der NCP versprach, was sich alle, ob Befürworter oder Gegner, erhofften: politische Stabilität.
Die Jahre 2018 und 2019 gingen für örtliche Verhältnisse relativ ruhig über die Bühne, wobei allerdings von richtig großen Würfen der Regierung nichts zu vernehmen war. Allgemein wurde ihr aber zugutegehalten, nicht wie sonst in Flügel- und Cliquenkämpfen zu versinken und man war zufrieden nach dem Motto "No news is good news".
Ab 2020 fragte sich dann doch ein größer werdender Teil der Bevölkerung, wann die Früchte der Stabilität zu ernten sein würden. Um diese Zeit begann freilich die weltweite Corona-Krise, und es zeigten sich erste Risse in der Regierung und vor allem in der neu formierten NCP.
Was genau zum Twist zwischen dem UML-Patriarchen K.P. Sharma Oli einerseits und seinem parteiinternen Widersacher Madhav Kumar Nepal und dem Vorsitzenden der Maoisten, Pushpa Kamal Dahal, andererseits, führte, lässt sich nicht mit konkreten Sachfragen oder Parteiideologie begründen. Stattdessen ging es wie immer um internen Machtproporz, um Verteilung von Pfründen und Posten und ganz simpel die Frage, wer was wem zu sagen hätte.
Auf der Höhe der ersten Corona-Welle war Nepal praktisch führungslos, ab Sommer 2020 weigerten sich Oli und Dahal, formal gemeinsam an der Regierung, zusammen einen Raum zu betreten. Ende Dezember 2020 folgte Olis mittlerweile "berühmt" gewordene Auflösung des Parlaments (später vom Obersten Gericht verworfen), in dem er eine komfortable Zweidrittelmehrheit besaß und die Ankündigung von Neuwahlen (ebenso vom Obersten Gericht verworfen), die, hätten sie stattgefunden, mitten in die zweite Corona-Welle gefallen wären.
2021 – ein neuer Tiefpunkt im politischen Prozess
Für das Schauspiel, das die politische Elite im vergangenen Jahr aufführte, gibt es keine Entschuldigung: Die Monarchie ist seit 2006 abgeschafft, die neue Verfassung seit 2015 in Kraft. Das Land ist föderal, der Konflikt mit den Madeshi beigelegt.
Der rechtliche Rahmen des Staates ist genau definiert, es gilt nur noch, ihn mit konkreter, der Gesellschaft dienlicher Politik auszufüllen. Dazu war 2021 keine einzige Partei in der Lage. Das parteiübergreifende Lavieren nach Olis voreiliger Parlamentsauflösung war für die meisten Bürger kaum mehr zu ertragen.
Ob UML, Maoisten, Nepali Congress oder die beiden Regionalparteien der Madhesi, ob auf National- oder Provinzebene, die unmöglichsten Allianzen wurden durchgespielt. Obwohl niemand weiterer Bestätigung bedurfte, zeigte sich erneut, dass Namen und Slogans inhaltsleer und alle Parteien im Kern eine Einmannshow sind, wo ein starker Mann am Ruder das Wohl der Mitglieder garantiert und völlig bedenken- und schmerzfrei Bündnisse mit anderen seiner Art schmieden und brechen kann.
Am 7. März löste das Oberste Gericht mit fadenscheiniger Begründung, aber zur Erleichterung aller Beteiligten, die nur noch formal bestehende NCP in die früheren Bestandteile CPN-UML unter Oli und CPN-MC (Maoist Centre) unter Dahal auf. Von der UML spaltete sich bald darauf die CPN-US (United Socialist) unter Olis Rivalen Madhav Kumar Nepal ab.
Vier Monate und unzählige Manöver später war der große Verlierer der Wahlen von 2017, der Nepali Congress (NC) unter Sher Bahadur Deuba, zurück an der Macht, und das mit Unterstützung von Dahal und Nepal. Man war einen weiten Weg gekommen und stand trotzdem wieder nur am Anfang.
Oli erwies sich als schlechter Verlierer. Die UML boykottierte das Parlament und legte dessen Betrieb lahm, mancher Beobachter nannte das verfassungsrechtlich bedenklich. Abgesehen vom Etat wurde im zweiten Halbjahr 2021 kein weiteres Gesetz verabschiedet.
De facto führungslos war das Land schon im Mai und Juni während der zweiten, weitaus heftigeren Corona-Welle, als die schlimmsten Befürchtungen wahr wurden und Menschen unversorgt auf den Gängen völlig überlasteter Krankenhäuser starben und es an so einfachen Hilfsmitteln wie Sauerstoff fehlte. Während sich die politische Elite völlig überflüssige Machtkämpfe lieferte, ging vielen Menschen buchstäblich die Luft zu atmen aus.
Hier soll übrigens nochmal extra unterstrichen werden, dass dem Autor auf keinen Fall die einen politischen Überzeugungen oder Akteure näher am Herzen liegen als andere. Wie im Text eigentlich schon ausreichend erwähnt wird: Gerade in Nepal sind Parteinamen und Ideologien nichtssagend und haben mit dem konkreten Verhalten von Parteien und Politikern nichts zu tun.