Nepal: Wochen der Wahrheit

Seite 2: Die Wurzeln des Übels

Weder Politik noch Gesellschaft haben aus der Misere nach dem Doppelerdbeben 2015 gelernt, was sich jetzt abspielt, ist ein schmerzliches Déjà-vu.

Die intellektuelle Elite hat ihr Urteil über Oli längst gefällt und seit seiner gescheiterten Parlamentsauflösung letzten Dezember gibt es in der ganzen Medienlandschaft kaum noch jemanden, der für ihn spricht. Aber ihm allein die Schuld für dieses Komplettversagen anzuhängen wäre für einen Politiker fast zu viel der Ehre. Soviel Schaden kann auch Oli nicht anrichten, selbst wenn er es wollte.

Es genügt jedoch nicht, allein die politische Klasse verantwortlich zu machen, schließlich fallen auch in Kathmandu die Politiker nicht vom Himmel. Das Land war zwar lange eine Monarchie und zeitweise auch eine Diktatur, doch seit 2008 geht zumindest theoretisch alles seinen verfassungsgemäßen Gang. Oli wurde demokratisch und legal vom Volk zum Premierminister des Landes gewählt.

Das ist der wunde Punkt: Warum sieht ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung in ihm und seiner UML ihre besten Interessenvertreter? Warum wird er im Herbst 2017 mit großer Mehrheit gewählt, obwohl er es war, der genau zwei Jahre zuvor die verheerende Wirtschaftsblockade durch Indien mitzuverantworten hatte?

Die überwiegende Mehrheit hat schon lange vor Covid resigniert und glaubt nicht mehr an die Reformierbarkeit der Politikerklasse, ob sie nun demokratisch, monarchistisch, kommunistisch, egal welcher Couleur sind.

Die Belange des einfachen Mannes erscheinen kaum auf deren Schirm, daran wird sich nach Meinung vieler bis auf Jahrzehnte nichts ändern. Wenn jemand in die Politik einsteigt, dann nur, um sich zu bereichern. Für viele ist der Staat, der 1768 als feudales Königreich gegründet wurde, trotz unzähliger Systemwechsel der gleiche geblieben.

Solche Analysen treffen im Prinzip die Zehn. Der darin enthaltene Fatalismus ist jedoch selber ein Problem - und eine Ursache für die momentanen Zustände. In Nepal hat sich sozial und ökonomisch seit seiner Öffnung 1950 noch viel mehr geändert als anderorts. Solange die ganze Bevölkerung aus Subsistenzbauern bestand, war es gleichgültig, was die Elite trieb.

Viele Bauern kannten diese nicht einmal als Steuereintreiber. Doch die Gesellschaft ist komplex und arbeitsteilig geworden. So normal es vor 70 Jahren war, in einem abgelegenen Tal ein paar Felder für die eigene Familie zu beackern und die Erträge selber zu verzehren, so normal ist nun ein langjähriger Arbeitsaufenthalt im Ausland, dessen Erträge an die Familie zuhause überwiesen werden. So verständlich und unausweichlich das fahrlässige und inkompetente Agieren der Politiker sein mag, Land und Gesellschaft können sich das nicht mehr leisten.

In guten Zeiten mag es funktionieren, wenn Bevölkerung und Regierung sozusagen getrennte Wege gehen. Bei Erschütterungen fällt das Kartenhaus in sich zusammen, ganz zu schweigen bei Katastrophen wie 2015 und der zweiten Welle von Covid. De facto besitzt das Land momentan keinen Staat.

Wochen der Wahrheit … womöglich

In Nepal fielen seit März 2020 ungefähr 4.500 Menschen der Covid-Pandemie zum Opfer. Auch das ist eine relativ geringe Zahl, wenn auch die Dunkelziffer vielfach höher ist und nicht absehbar, wie sich die Pandemie entwickelt. Das niedrige Durchschnittsalter wird wohl wieder die Bevölkerung vor dem Schlimmsten bewahren.

Die wirtschaftlichen Folgen werden sehr wahrscheinlich deutlich schmerzlicher als während der ersten Welle. Das Land braucht dringend äußere Hilfe bei der Fortführung der Impfkampagne. Deren Beginn war eigentlich vielversprechend, sie flaute jedoch ab.

Niemand kann dem Land dabei helfen, endlich die Regierung auf Vordermann zu bringen, das ist die Pflicht jedes verantwortungsbewussten Bürgers. In der Politik ist es unbedingt Zeit für einen Generationenwechsel.

Khadga Prasad Sharma Oli war 1969 Anführer des sogenannten "Jhapa Aufstands" im Südosten des Landes, der mit Enthauptungen von Großgrundbesitzern in Erscheinung trat, so wie kurz davor die Naxaliten im unmittelbar benachbarten indischen West-Bengalen. Wie viele kommunistische Anführer in anderen Ländern hat er seine Ansichten und Meinungen seit damals kaum geändert.

Mittlerweile missbilligt er selbst große Teile des offiziellen Programms seiner eigenen Partei! Er ist gegen Föderalismus und die Emanzipation der Terai-Bewohner. Er sieht die Welt noch immer wie der Dschungelkämpfer, der er vor über 50 Jahren war. Solches Führungspersonal hat ausgedient.

Der Autor befindet sich Mitte Februar 2021 in Nepal.