Netzpolitik an der Wende

Bericht von der Internetworld

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Einzelne Schritte sind getan, doch die Netzregulierung oder die gezielte Nicht-Regulierung des Internet wird die nationalen Gesetzgeber noch länger auf Trab halten. Auf der Internetworld zogen Deutschlands "Internet-Politiker" eine zwiespältige Zwischenbilanz der neuen Regierung, wenn es um die Förderung der "Informationsgesellschaft" geht.

Jedes Jahr im Mai freut sich das Bundeswirtschaftsministerium anläßlich der Internetworld in Berlin über den erfolgreichen Weg Deutschlands in die Informationsgesellschaft. Der Duktus und die Aussagen gleichen sich dabei fast bis ins Detail; man könnte meinen, daß zumindest im Wirtschaftsministerium das Internet tatsächlich den Politiktakt vorgibt. Nachdem Ex-Wirtschaftsminister Rexrodt (FDP) im vergangenen Jahr von "perfekten Rahmenbedingungen" geschwärmt und zu einer "Kultur der Selbständigkeit" aufgerufen hatte (Perfekte Rahmenbedingungen), zeigte sich der parlamentarische Staatssekretär im "neuen" Wirtschaftsministerium, Siegmar Mosdorf (SPD), dieses Jahr ebenfalls weitgehend zufrieden mit den Rahmenbedinungen für die Netzökonomie - nicht ohne jedoch die Notwendigkeit einer "Renaissance der Kultur der Selbständigkeit" zu unterstreichen.

Für die deutsche Wirtschaft sieht Mosdorf mit dem Internet eine geradezu goldene Ära anbrechen: Völlig neue Unternehmensformen könnten entstehen, die großen Veränderungen im Bereich der mit der Globalisierung immer wichtiger werdenden Dienstleistungsanwendungen würden gerade durch Startups, durch kleine und mittlere Unternehmen vorangetrieben. Die Netztechnik mache es möglich, Hierarchien zu reduzieren und dezentral mit Problemen fertig zu werden. Insgesamt rechnet Mosdorf, der es beim Rundgang durch die Ausstellungshallen gar nicht erwarten konnte, den Stand der den geplanten Börsengang nun endlich nicht mehr verheimlichenden ID-Gruppe mit dem relaunchten Cycosmos unter die Lupe zu nehmen, mit 250.000 bis 300.000 neuen Arbeitsplätzen in den nächsten Jahren im Bereich der Informations- und Telekommunikationstechnologie.

Doch noch scheint die Regierung nicht alle ihre Hausaufgaben gemacht zu haben. Im letzten Jahrzehnt habe Deutschland technologische und ökonomische Vorsprünge verloren, da die Gesellschaft "nicht mehr neugierig genug war." Nur so sei er zu erklären, daß erst 8 Prozent der Mittelständler am Netz seien. Mosdorfs Rezepte gegen die Müdigkeit: Medienkompetenz vermitteln - zum Beispiel über die 24 regionalen E-Commerce-Zentren - und Visionen verbreiten. "E-Commerce ist das G-Word für den Mittelstand", glaubt der Staatssekretär. Da im Mittelstand kaum einer verstehen dürfte, was man mit einem "G-Word" anstellen kann, bringt Mosdorf noch ein anschaulicheres Beispiel: E-Business habe dieselbe Bedeutung für mittelständische Unternehmen "wie Windows 21". Bleibt nur zu hoffen, daß es "Windows" im Jahre 2100 auch noch gibt.

Korrekturbedarf sieht Mosdorf noch beim "Scheinselbständigengesetz". Die Ursprungsidee sei zwar "legitim" gewesen, schließlich wolle sich keiner im nächsten Jahrhundert mit einem Heer von nicht-versicherten Rentnern konfrontiert sehen. Auf die "digitale Arbeitswelt" bereite das jetzige Gesetz allerdings nicht genügend vor, die Bedürfnisse von Startups würden nicht berücksichtigt. Um die geforderte Renaissance der Selbständigkeit voranzutreiben, will das Bundeswirtschaftsministerium deswegen bis zum Sommer eine neue Vorlage im Bundestag präsentieren.

Entspannung in der Kryptopolitik, Bauchschmerzen mit ENFOPOL

Im Bereich der Kryptopolitik sei es, so der Staatssekretär, dagegen gelungen, nach 200 Tagen der neuen Regierung die in der vergangenen Legislaturperiode entstandene "Lücke zur Wirtschaft" zu schließen. Im Juni sieht Mosdorf "Eckpunkte" für eine liberale Kryptopolitik im Kabinett, dann könne man einen vorläufigen Schlußstrich unter eine lange Debatte ziehen.

Auf nationaler Ebene scheinen die Wogen zwischen "Bedarfsträgern" und den wirtschaftlichen Interessen rund um Krypto tatsächlich geglättet zu sein. Auf einem parallel zur Internetworld stattfindenden Kongreß des Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI hatte Claus Henning Schapper, Staatssekretär im Bundesinnenministerium, erklärt, daß die Bundesregierung auf eine Kryptoregulierung verzichten, die Lage aber "beobachten" wolle. Ein "ganz wichtiges Signal", meint der SPD-Bundestagsabgeordnete Jörg Tauss, der in einem Panel Deutschlands Haltung im Bereich der Netzregulierung darstellte. Schließlich habe der ehemalige Innenminister Manfred Kanther am selben Ort vor genau zwei Jahren gegenteilige Ansichten verlauten lassen.

Sorgen bereitet Tauss dagegen, wie von "einem geschlossenen Kreis von Beamten aus dem Sicherheits-, Wirtschafts- und Außenpolitikbereich, die machen, was sie wollen," die umstrittene Telekommunikations-Überwachungsverordnung (TKÜV) im Rahmen der ENFOPOL-Planung zur Abhörung der Internetkommunikation vorangetrieben und international vertreten wird. "Technisch gefährlich, ökonomisch unmöglich und das Bürgerrecht gefährdend" seien die inzwischen auf EU-Ebene abgesegneten Ausgeburten der jenseits von Bundestag und letztlich hinter dem Rücken von Ministerialbeamten agierenden Bürokratengruppe. Für Tauss ist daher offensichtlich, daß die ENFOPOL-Beschlüsse "zurückgedrängt werden müssen." Es sei allerdings schwierig in einem Klima zu agieren, in dem zahlreiche Politiker und Meinungsmacher dem Mythos anhingen, daß das Internet ein rechtsfreier Raum sei, der beschränkt werden müßte. Diese in Deutschland weitverbreitete Sorge, daß dieses angebliche Vakuum nicht länger toleriert werden dürfte, sei dann oft die "Triebfeder für aktionistische Verhandlungen."

Dabei hätten das allgemeine Recht, die existierenden Regeln für Produkthaftung oder das Zivil- und das Strafrecht im Netz genauso ihre Gültigkeit wie in der physischen Welt: "Nichts macht grundsätzlich davor halt", weiß Tauss. Zudem seien mit dem Informations- und Kommunikationsdienstegesetz (IuKDG) sowie dem Mediendienste-Staatsvertrag bereits seit über einem Jahr zusätzliche Regelungen für die neuen Medien in Kraft. Die Unklarheiten zwischen beiden Gesetzen sowie die "zum Teil nicht zum Internet passenden" Vorschriften zeigten aber, daß politische Regulierung auch durchaus negativ sein könne und zugunsten von Selbstregulierungsbestrebungen wie etwa bei der momentanen Neuordnung des Adreßraums im Netz zurückzufahren sei. Wenig sinnvoll sei beispielsweise die Übertragung des Begriffs der "jugendgefährdenden Schriften" auf das Web, was zur Folge habe, daß entsprechende URLs nun im Bundesanzeiger veröffentlicht würden und eine Fundgrube für Päderasten darstellten.

Wenig glücklich ist Tauss auch über die faktische Belanglosigkeit Deutschlands und der EU, wenn es um die Setzung von Standards im Internet-Bereich geht. Die elektrotechnische Industrie sei beispielsweise jahrelang Träger der Wirtschaft in Deutschland gewesen, weil die heimische Industrie auch bei zahlreichen Standardisierungsbestrebungen vorgeprescht sei. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, daß die neue Vergabestelle für Top Level Domains im .com-Sektor, die Internet Corporation for assigned Names and Numbers (ICANN) zwar nächste Woche in Berlin tagt - allerdings mit Ausnahme von ECO und EuroISPA fast ausschließlich ohne deutsche Beteiligung (Dazu s.a. Cone of Silence. ICANN or Internet democracy is failing von John Horvath). Kaum ein deutsches Unternehmen scheint bisher erkannt zu haben, daß die Namen im Netz schlicht Gold wert sind und mit ihrer Verteilung große Macht verbunden ist. "Es gibt noch Defizite im Bereich Internetpolitik bei der Bundesregierung", räumt Tauss daher ein. Bisher habe man sich zu sehr auf Randgebiete wie Kinderpornographie beschränkt statt Konzepte für die Zukunft zu entwerfen.