Neue Technologie für die Psychotherapie

Seite 2: Kommen Online-Therapien bald in die Regelversorgung der Krankenkassen?

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Ein neunwöchiger Online-Kurs gegen Depressionen (inklusive wöchentlicher halbstündiger Telefongespräche mit einem Coach) ist ab 180 Euro zu haben. Die deutschen gesetzlichen Krankenkassen zahlen für nur eine Sitzung Gesprächs- oder Verhaltenstherapie bei einem niedergelassenen Psychologen 90 Euro. Eine ausgemachte Sache also, dass sich die billigere Variante durchsetzen wird?

Bislang werden die Online-Therapien von den Kassen höchstens auf Antrag als "Präventionsmaßnahme" erstattet. Einen Anspruch darauf haben die Versicherten nicht. Die Kassen bremsen, denn sie wollen sich nicht von den kommerziellen Online-Anbietern abhängig machen, die übrigens mit großen Pharmakonzernen verwoben sind. Außerdem existiert bisher keine wirkliche Qualitätssicherung. Zwar gelten für die Apps gesetzliche Vorschriften als Medizinprodukte, ihre psychiatrische Wirksamkeit dagegen wird nicht systematisch untersucht.

Der Fachverband der psychotherapeutischen und psychiatrischen Ärzte DGPPN hat eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die Qualitätskriterien für die Therapie-Programme entwickeln soll. Der Gemeinsame Bundesausschuss aus Krankenkassen, Ärzteverbänden und Krankenhäusern, der über die Erstattungsfähigkeit von Behandlungen entscheidet, macht bisher keine Anstalten, sich mit den Online-Psychotherapien zu beschäftigen. Bis sie Teil der Regelversorgung sind, wird es also noch dauern.

In anderen europäischen Ländern sieht das anders aus. In den Niederlanden etwa werden Online-Behandlungen von Depressionen und Angststörungen von den Kassen finanziert, ähnlich in Schweden, Dänemark und Großbritannien

Viele Krankenkassen haben dafür eigene "Online-Coaches" in ihr Angebot aufgenommen. Diese dienen allerdings nicht als Ersatz für eine regelrechte Psychotherapie, sondern kommen bei leichteren Erkrankungen ("Befindlichkeitsstörungen") zum Einsatz und um die Wartezeit bis zum Beginn einer herkömmlichen Therapie zu überbrücken. Dabei greifen die Kassen häufig auf private Dienstleister zurück, die teilweise auch die Betreuung der Patienten abwickeln.

Einige Online-Therapien deutscher Krankenkassen:

Krankenkasse Name Entwickler Betreuung der Patienten Technische Betreuung
AOK MoodGym Australian National University Selbstbedienung
DAK Deprexis / Veovita Gaia AG Gaia AG Gaia AG
Barmer Pro.Mind GET.ON Institut GET.ON Institut
TK Depressionscoach FU Berlin FU Berlin Arvato
Central initiative.seele Minddistrict, Universität Leuphana Asklepios Asklepios

Die jährlichen Nutzerzahlen liegen bisher selbst bei großen Krankenkassen wie der AOK lediglich im niedrigen vierstelligen Bereich - angesichts von insgesamt 1,7 Millionen Psychotherapien pro Jahr ist die Versorgung online bisher nicht wirklich von Belang! Dazu kommen allerdings die Patienten, die sich eine solche Behandlung selbst verordnen und sie aus eigener Tasche bezahlen; wie viele es sind, ist unklar.

Die neuen Akteure im Bereich Psychotherapien verändern auch das Berufsbild, was den Psychotherapeuten Sorgen bereitet. Zwar betonen die Anbieter der Online-Therapien, dass sie nur ausgebildete Psychologen beschäftigen. Tatsächlich decken sie ihren Personalbedarf teilweise mit Werkstudenten, Praktikanten und Fachpflegern aus den Psychiatrien. Die "psychologischen Online-Berater" und "Coaches" haben mit einem niedergelassenen, formal unabhängigen Psychotherapeuten jedenfalls wenig gemeinsam.

Umstrittene Wirksamkeit

Aber wirken die psychologischen Internetinterventionen überhaupt? Diese Frage lässt sich durchaus nicht einfach beantworten, denn mit der wissenschaftlichen Evidenz in diesem Bereich ist es so eine Sache. Zwar zeigen einige klinische Studien und Metaanalysen, dass die Online-Therapien Patienten mit Depressionen, Schizophrenie und posttraumatischen Belastungsstörungen helfen können. Allerdings fehlt bislang ein Nachweis, dass sie mit den herkömmlichen psychologischen Behandlungen - also denen von Angesicht zu Angesicht - mithalten können.

Dass es den Teilnehmern in klinischen Studien regelmäßig besser geht, wenn sie eine bestimmte Software benutzen, ist, für sich genommen, nicht sonderlich beeindruckend. Denn depressive Menschen profitieren in der Regel ohnehin davon, dass sie sich behandeln lassen. Die wissenschaftliche Evidenz für die Überlegenheit einer bestimmten Behandlungsform ist insgesamt ziemlich dünn.

Unschön und vieldeutig sprechen Mediziner vom Placebo-Effekt. Um diesen Effekt ranken sich viele Missverständnisse. Jede Behandlung beruht auch darauf, dass sie von den Patienten für heilsam gehalten wird. Dies gilt für eine Kopfschmerztablette ebenso sehr wie für die chirurgische Operation eines gebrochenen Knochens, für einen schamanischen Tanz ebenso wie für eine Psychoanalyse. (Dies bedeutet natürlich nicht, dass sich jede Behandlung in der Placebo-Wirkung erschöpft, weshalb bei Kopfschmerzen eine Aspirin-Tablette empfehlenswerter ist als ein Schamane.)

"Placebo / Nocebo" ist in Wirklichkeit ein vielfältiges Set von psychosozialen Effekten. Dieses Set ist nicht statisch, sondern dynamisch, weil bestätigte Erwartungen stärker werden: Je besser eine bestimmte Tablette die Kopfschmerzen lindert, umso größer der Glaube an ihre Wirksamkeit. Aus diesem Grund erzeugen "aktive Placebos", die Nebenwirkungen auslösen, deutlich größere Effekte als "inaktive" Mittel, die körperlich nicht wahrzunehmen sind. Wir haben gelernt, dass die Sinneseindrücke eine Besserung ankündigen, und bereits diese Erwartung lindert die Schmerzen.

Bei psychologischen und psychiatrischen Behandlung ist es besonders schwierig, die Wirkungen der Erwartungen von den Wirkungen der Intervention zu unterscheiden. Psychische Störungen zeichnen sich schließlich durch starre und einseitige Erwartungshaltungen und Wahrnehmungen aus - keine Depression ohne Hoffnungslosigkeit!

Wenn Depressive sich zum ersten Mal in Behandlung begeben, haben sie einen wichtigen Schritt bereits hinter sich gebracht: Sie werden aktiv und suchen nach Hilfe. Wie diese Hilfe dann aussieht - ob die Patienten Fluoxetin schlucken oder eine wöchentliche Gesprächstherapie durchführen - macht dann überraschend wenig Unterschied. Der amerikanische Psychiater Lester Luborkys zitierte in diesem Zusammenhang den schönen Satz aus "Alice im Wunderland": "Alle haben gewonnen und jeder muss einen Preis bekommen."

Um diese Behauptung rankt sich seit Jahrzehnten ein erbitterter Streit. Psychotherapeuten wenden typischerweise ein, dass statistische Verfahren nicht geeignet seien, um die individuellen Verbesserungen zu erfassen, weil sich ihre Interventionen kaum standardisieren und vergleichen lassen - Gesprächstherapie ist nun einmal nicht gleich Gesprächstherapie. Dieses Argument läuft allerdings natürlich lediglich darauf hinaus, dass Patienten hoffen dürfen, dass bei ihnen die Behandlung überdurchschnittlich erfolgreich sein wird.

Zu den schwer zu beurteilenden und in der Regel schwachen Wirkungen kommen noch zahlreiche methodische Schwierigkeiten, klinische Effekte durch psychiatrische Behandlungen hieb- und stichfest zu beweisen. So ist eine Verblindung wie in randomisiert-kontrollierten pharmakologischen Studien bei Psychotherapien nicht möglich. Objektive Biomarker gibt es nicht. Deshalb werden in den Studien die Symptome mit Messinstrumenten wie der Hamilton-Skala erfasst. Depressivität wird also auf einer kontinuierlichen Skala dargestellt, und alle Grenzwerte haben bekanntlich etwas Willkürliches an sich.

Einigermaßen klar ist jedenfalls: Bei Depressionen kann ein Placebo durchaus eine Verbesserung zwischen 30 und 40 Prozent bringen (definiert als Minderung der Symptome, erfasst mit Fragebögen). Psychotherapie und Antidepressiva schneiden mit Verbesserungen zwischen 40 und 50 Prozent ziemlich gleich ab. Die Kombination aus beidem wirkt am besten (wenn nicht nach verschiedenen Patentengruppen unterschieden wird).

Eine Besserung ihrer Leiden dürfen depressive Patienten, die sich zum ersten Mal in Behandlung begeben, also ohnehin erwarten. Andererseits sind Rückfälle durchaus häufig, etwa die Hälfte der Patienten (!) wird innerhalb von zwei Jahren nach einer abgeschlossenen Behandlung wieder depressiv (weshalb einige Psychiater bekanntlich die Antidepressiva am liebsten überhaupt nicht mehr absetzen).

Wie und warum wirken Internetinterventionen (nicht)?

Letztlich besteht der Beweis des Puddings in der Mahlzeit, wie der pragmatische Engländer sagt. Eine Psychotherapie ist erfolgreich, wenn die Patienten sich (subjektiv) besser fühlen und (objektiv) ihre verschiedenen sozialen Rollen ausfüllen. Ob Internet-Interventionen dazu ebenso gut taugen erreichen wie Pharmakotherapien oder "Face to Face"-Behandlungen, ist bislang unklar. Allerdings gibt es keinen Grund dafür, warum eine digitale Psychotherapie schlechter funktionieren sollte als beispielsweise eine Behandlung "face to face" durch einen unengagierten oder schlechten Verhaltenstherapeuten.

Oder doch? Wie funktioniert diese Art Psychotherapie überhaupt? Der nächste und letzte Teil der Serie beschäftigt sich mit den Eigenheiten der "automatisierten Psychotherapie" und dem Selbst- und Menschenbild, das hier zum Ausdruck kommt.