Neues Pestizid: Dieses Gift knipst Gene aus
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Wirkstoff tötet Kartoffelkäfer über Eingriff in Genom. US-Behörde verkürzt Testphase. Wie das Mittel wirkt und welche Gefahren es birgt.
Die USA stehen offensichtlich kurz vor der flächendeckenden Einführung einer neuen Klasse von Pestiziden. Diese greifen auf genetischer Ebene tief in den Stoffwechsel des zu bekämpfenden Organismus ein.
Dort verhindern die neuen Wirkstoffe die Ausprägung einzelner Gene zu Eiweißen, die für das bekämpfte Tier – in diesem Fall der berüchtigte Kartoffelkäfer – überlebenswichtig sind. In den USA wird derzeit eine befristete Zulassung eines solchen Mittels angestrebt, ohne dass vorher die sonst üblichen Sicherheitschecks verlangt werden.
Bisher wurden Nutzpflanzen bisher mit – mehr oder minder klug konzipierten – Giftstoffen behandelt, um sie vor Fressfeinden zu schützen. Doch der Wirkmechanismus namens RNA-Interferenz (RNAi) der neuen Pestizidklasse schaltet Gene ab, die der Käfer zum Überleben braucht.
Nachdem im Zellkern eine Kopie des fraglichen Genabschnitts hergestellt wurde, wird dieser als Boten-RNS (mRNA) in das Zellplasma transportiert. Sind die Kartoffelpflanzen mit dem neuen Pestizid behandelt, enthalten sie Genabschnitte, die der betreffenden Boten-RNS entsprechen.
Das erlaubt es ihnen, sich an diese Abschnitte anzuheften und sie dann mittels eines bestimmten körpereigenen Enzyms zerschneiden. Die Erbinformation kann also nicht mehr in lebenswichtige Eiweiße übersetzt werden (Translation) – der Kartoffelkäfer stirbt. Dieser Vorgang wird auch Gen-Silencing (Gen-Inaktivierung) genannt.
Keine giftigen Rückstände
Calantha ist ein Produkt des Unternehmens GreenLight Biosciences, und es enthält den Wirkstoff Ledprona – das erste Pestizidspray, das RNAi-Technologie einsetzt. Allerdings gibt es bereits Maispflanzen, die gentechnisch so verändert wurden, dass sie den RNAi-Mechanismus gegen den Maiswurzelbohrer nutzen und sich so schützen können. Auch wurde die RNAi-Technologie bereits in medizinischen Therapeutika und Impfstoffen eingesetzt.
Im Mai 2023 hatte die US-Umweltbehörde (EPA) hat eine Genehmigung für den experimentellen Einsatz erteilt. Diese gibt dem Unternehmen zwei Jahre Zeit, um Daten über den Einsatz des neuen Produkts auf Versuchsfeldern zu erheben und zu bewerten.
Doch die US-amerikanischen Aufsichtsbehörden wollen die Zulassung in einem unüblichen Schritt beschleunigen, so dass das Produkt drei Jahre lang kommerziell genutzt werden kann, bevor die Standardtestphase abgeschlossen ist. Das würde bedeuten, dass das neue Pestizid bereits im Frühjahr 2024 in den gesamten USA auf Kartoffelkulturen ausgebracht werden könnte. Diese Eile nährt natürlich Befürchtungen, dass Calantha auf den Markt kommt, ohne dass ausreichend untersucht wurde, ob das Insektizid für die menschliche Gesundheit und die Umwelt unbedenklich ist.
Die Unternehmen der Agrarchemie loben die Gen-Silencing-Pestizide als vielversprechende Lösung und als Antwort auf die Forderung der Verbraucher nach rückstandsfreien Produkten. Denn tatsächlich kommen keine Gifte im herkömmlichen Sinne mehr zum Einsatz, die dann in die Einkaufskörbe wandern.
Da sich alles auf der Ebene von Eiweißmolekülen abspielt, ist die Behauptung des Herstellers durchaus glaubwürdig, dass Calantha keine nachweisbaren Rückstände in Lebensmitteln, Böden, Wasser oder in der Atmosphäre hinterlässt. Auch große Unternehmen wie Bayer, BASF und Syngenta arbeiten an der RNAi-Technologie für den Pestizideinsatz.
Anders zu bewerten ist dagegen die Behauptung, Calantha habe keine schädlichen Auswirkungen auf Menschen, Bestäuber, Vögel, Fische oder andere Nicht-Zielorganismen. Selbstverständlich könnten Arten zu Schaden kommen, die nicht zur Zielgruppe gehören. Und auch die Gesundheit der Landwirte könnte gefährdet werden, fürchten die Kritiker:innen.
Bedenken hinsichtlich Immunreaktion und Wirksamkeit
Allgemein gilt als eine Art Faustregel: je spezifischer das Eiweiß ist, dessen Genese in der Biochemie des Kartoffelkäfers unterdrückt wird, desto weniger andere Organismen werden geschädigt. Betrifft das Gen-Silencing aber Eiweiße, die auch für enge Verwandte des Kartoffelkäfers oder gar für alle Käfer oder Insekten lebensnotwendig sind, sieht die Sache schon ganz anders aus.
Denn der Gen-Silencing-Mechanismus, der solchen Pestiziden innewohnt, wird nach der Aufnahme in den Körper immer dann ausgelöst, wenn sie auf eine passende oder auch nur ähnliche Gensequenz treffen.
Verbraucher:innen, die mit Calantha gespritzte Kartoffeln kochen oder entsprechende Kartoffelprodukte essen, haben nichts zu befürchten, denn die Eiweiße verlieren beim Kochen ihre Funktionalität. Doch für Tiere, die den RNAi-behandelten Kartoffelkäfer fressen, sieht das schon ganz anders aus und vor allem auch für die Farmer:innen, die Calantha anwenden.
Befürchtet wird, dass das neue Pestizid beim Menschen eine Reaktion des Immunsystems auslösen könnte. Eine Analyse von GreenLight Biosciences selbst hat zwei Boten-RNA-Abschnitte im menschlichen Stoffwechsel identifiziert, die möglicherweise von Ledprona beeinflusst werden könnten. Auch die EPA stellt fest, dass längere RNAi-Moleküle, wie die im Ledprona-Wirkstoff, "als Kandidaten für die Auslösung von angeborenen Immunreaktionen gelten". Deshalb sollten Menschen, die mit dem Pestizid arbeiten, Atemschutzmasken tragen.
Dessen ungeachtet und ungeachtet der nicht abgeschlossenen Standardtestphase kommt die EPA zu dem Schluss, dass es "eine begründete Erwartung gibt, dass es unwahrscheinlich ist, dass Ledprona diese Gene in vivo beeinflusst".
Im Umkehrschluss der oben angesprochenen Faustregel gilt aber auch, dass die Wirkung eines RNAi-basierten Pflanzenschutzmittels umso schneller nachlässt, je spezifischer das Eiweiß für den Organismus ist, der bekämpft werden soll. Denn je artspezifischer das gehemmte Gen ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass es einzelne Individuen gibt, die ohne es auskommen können – und folglich überleben.
In einer Studie aus dem Jahr 2021 wurde eine ähnliche genhemmende RNAi untersucht, die ebenfalls für ein Spray zur Bekämpfung desselben Kartoffelschädlings entwickelt worden war. Schon innerhalb von neun Generationen wurde die 11.100-fache Menge des ursprünglichen Wirkstoffs benötigt, um die gleiche Wirkung zu erzielen.
Es ist eine Binsenweisheit, dass man mit jeder landwirtschaftlichen Pflanzenschutzmethode gleichzeitig auch resistente Schädlinge quasi mitzüchtet – einfach, indem immer einige die Spritzung überleben und sich vermehren. Doch die hier beobachtete rasche Entwicklung und starke Ausprägung der Resistenz wurde selbst in der nüchternen wissenschaftlichen Untersuchung als "extrem" bezeichnet.
Es ist daher nicht verwunderlich, dass Friends of the Earth mahnt:
RNAi-Pestizide stellen ein genetisches Experiment unter freiem Himmel dar. Unbeabsichtigte genetische Konsequenzen könnten vererbt werden und in der Umwelt über Generationen fortbestehen.