New IRA: "Eine Streetgang, die die republikanische Sache benutzt"
Beobachter glauben nicht, dass die Gruppe in der Lage ist, in Nordirland einen neuen Bürgerkrieg anzuzetteln
Gestern Nachmittag wurde auf dem Carnmoney-Friedhof in der Nähe der nordirischen Hauptstadt Belfast die Journalistin Lyra McKee beerdigt. Ihre Familie ist katholisch, entschied aber, dass der Trauergottesdienst in der anglikanischen Sankt-Anna-Kathedrale stattfinden und nicht nur vom katholischen Pfarrer Martin Magill, sondern auch vom protestantischen Dekan Stephen Forde abgehalten werden soll.
Unter den Trauergästen befanden sich die britische Premierministerin Theresa May, der britische Oppositionsführer Jeremy Corbyn, die britische Nordirlandministerin Karen Bradley, der irische Ministerpräsident Leo Varadkar, der irische Staatspräsident Michael Higgins, der irische Außenminister Simon Coveney und die Köpfe der wichtigsten nordirischen Parteien Sinn Féin (katholisch) und DUP (protestantisch).
Dass die interkonfessionelle Trauerfeier so namhafte Gäste anzog, lag daran, dass Lyra McKee am 18. April durch einen Kopfschuss getötet wurde, als sie in der Nähe von Polizeifahrzeugen stand. Dort beobachtete sie, wie Steine und Brandsätze auf Polizisten flogen, die vorher im katholischen Creggan-Viertel der Stadt Derry nach Waffen und Sprengstoff suchen wollten, um Erinnerungsanschläge an den Osteraufstand von 1916 zu verhindern (vgl. Gebet für einen Sterbenden).
Möglichst große Panik
Der Mann, der den Schuss abgab, handelte im Auftrag einer "New IRA" (NIRA). Sie ließ der Zeitung Irish News ein Bekennerschreiben zukommen, in dem es heißt, die 29-Jährige sei "tragischerweise" bei einem "Angriff auf den Feind" getroffen worden, "während sie neben den feindlichen Kräften stand". Außerdem gab sie der Polizei die Schuld an den Angriffen auf sie, weil die Polizisten schwer bewaffnet gewesen seien und "provoziert" hätten. Die britische Regierung wies das zurück. Karen Bradley erklärte für sie: "Das war kein Unfall. Es gibt nichts, das diesen mörderischen Akt rechtfertigen kann."
Die NIRA ist eine relativ neue Gruppe, die im Januar eine Explosion in einem Auto in Derry verursachte und im März vier Brandsätze an Adressen in London und Glasgow verschickte. Obwohl Leitmedien damals von "Briefbomben" schrieben, handelte es sich tatsächlich nicht um solche, sondern um bloße Brandsätze. Dass die NIRA behauptete, einen fünften Brandsatz abgeschickt zu haben, der bislang nicht gefunden wurde, lässt den Schluss zu, dass es ihr vor allem um eine möglichst große Panik ging. Beobachter folgern daraus, dass die Kenntnisse und Möglichkeiten der NIRA sehr viel begrenzter sind als die der alten IRA, die ihren "bewaffneten Kampf" in den 1990er Jahren aufgab.
Finanziert durch Drogenhandel und andere Straftaten
Diese IRA wurde (anders als die NIRA) unter anderem vom ehemaligen libyschen Staatschef Muammar al-Gaddafi mit Material versorgt, mit dem sich sehr viel mehr Schaden anrichten ließ als mit primitiven Rohrbomben und brennenden Briefen. Zwischen 1972 und 1997 tötete sie damit fast 1.800 Menschen (vgl. UK: Debatte um Labour-Duldung durch Sinn Féin). Zu ihren Zielen zählten die Londoner Börse (1990) und die britischen Premierminister Margaret Thatcher (1984) und John Major (1991). Ein besonders beliebtes Ziel waren für sie aber Grenzposten, weshalb befürchtet wird, dass solche Einrichtungen bei einem Brexit zu WTO-Konditionen erneut angegriffen werden könnten.
Während die alte IRA über einen gewissen Rückhalt in der nordirischen und irischen Bevölkerung verfügte und von dort (aber vor allem von wohlhabenden irischstämmigen Amerikanern) Spenden bekam, finanziert sich die NIRA den Behördenerkenntnissen nach aktuell fast ausschließlich über Drogenhandel und andere Straftaten. Stratfor nennt sie deshalb "im Grunde eine Streetgang, die die republikanische Sache benutzt, um Kriminalität zu rechtfertigen".
"Unfall" bei der "Verteidigung gegen die Streitkräfte der Krone"
Als politischer Arm der NIRA gilt die 2016 gegründete Saoradh-Partei. Die katholischen Linksextremisten, die sich nach dem gälischen Wort für "Befreiung" benannten und bislang nicht an Wahlen teilnehmen, erkennen das Karfreitags-Friedensabkommen von 1998 ebenso wenig an wie die Regierung der Republik Irland. Saoradh verurteilte den Kopfschuss vom 19. April (anders als die Sinn Féin) nicht eindeutig, sondern rechtfertigte ihn als "Unfall" bei der "Verteidigung gegen die Streitkräfte der Krone". Vorher hatte die Partei die NIRA dazu aufgefordert, sich für den Todesschuss zu entschuldigen, was diese dann auch machte.
Ob zwei am Wochenende unter Rückgriff auf den Terrorism Act festgenommene und inzwischen wieder freigelassene junge Männer Verbindungen zu Saoradh haben, lässt die Polizei bislang offen. Gestern nahm sie im Zusammenhang mit dem Kopfschuss noch eine 57 Jahre alte Frau fest, wie sie via Twitter mitteilte. Außerdem hofft sie auf Hinweise aus der Bevölkerung.
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