New York Times lesen in Magdeburg: Leib, Stadt und Medien

Seite 3: IV.3 Berufspendler im Café

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Wenn meine Halbtags-Schicht bei einem Kommunikatonsdienstleister zu Ende ist und ich mich meinen freiberuflichen Jobs zuwende, gehe ich oft irgendwo Kaffee trinken. In Cafés kann ich mich am besten auf die anderen Aufgaben einstellen.

Die Entscheidung für ein Café und sogar der Weg dahin scheinen mir von der Aufgabe abzuhängen. Ich scheine mich unbewusst zu fragen, welche Art von Urbanität ich jeweils brauche, um in die entsprechende Arbeitsstimmung zu kommen. Trinke ich in wienerisch anmutender Kaffeehaus-Atmosphäre "Melange", lese die Süddeutsche und höre dabei anwesenden Medienschaffenden bei ihren Gesprächen zu? Oder setze ich mich in einen ortsneutral eingerichteten Coffee Shop, scrolle die New York Times-App auf dem Tablet durch, den Latte Macchiato in der Hand, und lasse mich von der Atmosphäre geschäftig wirkender Gründerteams anstecken?

Vielleicht aber gehe ich auch in dieses von Touristen, Familien und Rentnern besuchte Café mit historischen Fotos der Stadt an den Wänden, blättere, Filterkaffee trinkend, in der Lokalzeitung, und tue hinterher gar nichts, verwende weder Café noch Zeitung als Arbeitsmotivatoren, sondern als Auszeit von all dem Lärm und laufe danach ziellos durch die Stadt.

Mehrere Jobs, Arbeiten im Café, den Kaffee neben dem Tablet: Dieses Bild verweist seit "Wir nennen es Arbeit"21 auch auf viele abgedroschene Klischees, die aber doch ihre Funktion im persönlichen Alltag erfüllen. Als "globalisierter Informationsarbeiter" bin ich Berufspendler, ohne mich fortzubewegen: In allen Jobs pendelt meine Aufmerksamkeit zwischen lokaler Verankerung und globaler Orientierung hin und her.

Ich sitze an einem Ort, doch bin gedanklich bei Menschen, die überall auf der Welt sein können. Ich unterstütze sie im Umgang mit Kommunikationstechnik und Simulationen, an denen ich mitentwickle, weil es Spaß macht, Ortsgebundenheit virtuell aufzuheben, und weil man für solcherlei Luxus in der "nächsten Gesellschaft" (Dirk Baecker) wohl gern Geld ausgibt. Und dazwischen schreibe ich Texte, die mir beim Nachdenken über diese Gesellschaft helfen und mir noch in den kritischsten Leserkommentaren neue Anschlussmöglichkeiten verschaffen. Das Café als Inspirations- und Arbeitsort ist dabei immer wichtiger geworden, bloßes Rumhängen ist selten geworden.

Diese Entwicklung kann man bedauern. In einem Artikel für das ZEIT-Magazin stellt Matthias Stolz fest, dass Cafés heute weder gemütlich noch Orte der Kontaktaufnahme seien: "Im Kaffeehaus des 19. Jahrhunderts wollte der Gast andere Gäste treffen, im Oma-Café, Studi-Café und sogar noch im Starbucks-artigen Café wollte er es sich gemütlich machen. Im Third Wave Café will er zügig seinen perfekten Kaffee einnehmen. Als ein Aufputschmittel, das ihn noch konzentrierter arbeiten lässt."22

Stolz urteilt, dass Cafés heute Co-Working Spaces ähnelten, in denen man sich arbeitsam und fleißig gibt. Das ist wohl ganz passend für das Programm der "nächsten Gesellschaft", in der man sich selbst als Projekt gestaltet23, um eine Nische zum Überleben zu finden24 - auf einem "Einzelsit[z] […] ohne Rückenlehne"25.

Stolz' kurze Schilderung des Wandels der Cafékultur ist eine des Wandels vom Ort zum Nicht-Ort, im Sinne des Anthropologen Marc Augé26. Nicht-Orte sind Orte, in denen man nicht heimisch wird. Man sucht sie für einen bestimmten Zweck auf und verlässt sie bald wieder. Augé nennt Flughäfen, Autobahnen und Supermärkte als Beispiele, doch auch die geschilderte Art von Café lässt sich dazuzählen.

Anders als das Kaffeehaus oder das gemütliche Café des 20. Jahrhunderts ist das Café der "nächsten Gesellschaft" nicht mehr zum Verweilen geschaffen, weder durch das Mobiliar noch durch den dadurch geschaffenen Kontext der Vereinzelung. Es hat zu wenig Charakter, um vom abstrakten Raum zum persönlichen Ort zu werden. Es ist "in Bezug auf bestimmte Zwecke […] konstituiert"27 und es schafft "solitäre Vertraglichkeit". Der Kaffee ist Zeichen des Vertrags, das für den Zweck der Nutzung eingegangen wird: Der in stiller Übereinkunft als Arbeitsplatz verstandene Einzelsitz wird solange zur Verfügung gestellt, wie Kaffee konsumiert wird. Darüber hinausgehendes Verweilen ist nicht vorgesehen. Zielloses Umherschweifen des Blicks im Raum, gar das Betrachten der anderen einzelnen Arbeitenden, wäre subversiv (und geschieht dennoch).

Im Nicht-Ort ist man anonym und damit von anderen Zumutungen des Lebens entlastet. Man "genießt […] die aktiven Freuden des Rollenspiels"28, sich in leiblich enger Spannung als konzentrierter Arbeiter des 21. Jahrhunderts zu präsentieren und "macht […] die Erfahrung der ewigen Gegenwart und zugleich der Begegnung mit sich selbst"29: Diese angespannten Arbeitenden, die ihren "perfekten Kaffee" (Stolz) trinken, das sind sie selbst.30