Nicht "Neo-Liberal", sondern "Neo-Volkspartei"

Kommentar: Die österreichischen "NEOS" werden sich bei den EU-Wahlen als bessere Volkspartei etablieren - selbst wenn die ÖVP gewinnen sollte

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Wenn eine neu gegründete Partei bei ihrem ersten Wahlantritt auf Anhieb in ein Bundesparlament einziehen kann, ist das schon eher ungewöhnlich. Wenn das auch noch gelingt, ohne auf die EU loszugehen, den Euro zu verteufeln oder gegen Asylsuchende zu wettern, dann könnte das sogar etwas Anlass zu Hoffnung geben.

Denn genau das ist den österreichischen NEOS vergangenen Herbst gelungen, als sie weniger als ein Jahr nach ihrem Gründungskonvent bei den Nationalratswahlen 5,0 % der Stimmen erreichten. Seit sie mit 9 Mandaten im Parlament vertreten sind, können sie sich dort mindestens so viel Gehör verschaffen wie die anderen Oppositionsparteien. Bei den Prognosen zur EU-Wahl liegen sie mittlerweile Kopf an Kopf mit den Grünen und solide über zehn Prozent, weshalb sich mittlerweile die Österreichische Volkspartei (ÖVP), die SPÖ und die Grünen, die die NEOS vorher ignoriert hatten, auf die Newcomer einschießen.

Nachdem sich die Abstammung der NEOS unmittelbar auf die ÖVP zurückführen lässt, könnte man annehmen, dass diese am stärksten von allen Parteien unter der neuen Konkurrenz leidet. Wenn dies bei den EU-Wahlen doch nicht geschieht, dann deshalb, weil die ÖVP mit Othmar Karas diesmal einen Spitzenkandidaten ins Rennen schickt, der bislang vor allem durch Kompetenz und Fairness auffiel. Bei der letzten Wahl hatte die ÖVP noch auf Ernst Strasser gesetzt, der sich von britischen Journalisten als Geheim-Lobbyist hätte anheuern lassen, wofür er inzwischen (noch nicht rechtskräftig) zu einer unbedingten Haftstrafe von 3 Jahren und 6 Monaten verurteilt wurde. Damit Karas auf den Wahlplakaten nicht zu sehr mit der alten Strasser-ÖVP identifiziert wird, affichiert man ihn überwiegend ohne Parteilogo. Das scheint zu funktionieren - jedenfalls liegt Karas derzeit bei den Umfragen knapp vorn.

Würde Karas gewinnen, wäre das für die ÖVP aber möglicherweise nur ein sehr rasch vorübergehender Hoffnungsschimmer. Denn sollten die NEOS dennoch auf ein zweistelliges Ergebnis kommen, wäre klar, dass die neue Gruppierung eine "Volkspartei" sein kann, der es gelingt, ein sehr breites Meinungsspektrum unter einem Dach zu vereinen und zu integrieren. Zu verdanken ist der Erfolg in erster Linie dem Vorarlberger Matthias Strolz, Jahrgang 1973, der schon in seiner Schulzeit für die ÖVP aktiv war und 1996 zum Vorsitzenden der Hochschülerschaft der Universität Innsbruck gewählt wurde.

Seine starke Neigung zur Politik ist offensichtlich; er redet gerne und mit Begeisterung und wenn er einmal inhaltlich wenig zu sagen hat, ist er nicht um ein paar launige Gemeinplätze verlegen. Er verzichtet zudem betont auf Kritik und sucht selbst bei seinen Gegnern gerne positive Seiten, wobei auch seine Berührungsängste gegenüber der FPÖ nicht übermäßig stark sein dürften, war er doch 2000/2001, in der Zeit, als sich ÖVP-Chef Schüssel als Wahlverlierer von Jörg Haider zum Bundeskanzler hatte machen lassen, als parlamentarischer Mitarbeiter eines ÖVP-Nationalratsabgeordneten tätig und hatte begeistert am Aufbrechen des rot-schwarzen Machtmonopols mitgewirkt, wie er dem Standard Jahre später eingestand.

Matthias Strolz. Foto: Nicole Heiling / NEOS. Lizenz: CC BY-SA 2.0.

Strolz macht jedoch geltend, inzwischen "gescheiter" geworden zu sein, wozu auch seine Spezialisierung auf Organisationsentwicklung samt entsprechender Trainertätigkeit beigetragen haben mag. Seither sei es zu einer Entfremdung von der ÖVP gekommen, die vor etwa zwei Jahren eskaliert sei, weil die ÖVP das differenzierte Schulsystem weiterhin als Nonplusultra verkaufe, während der NEUS-Gründer es für "letztklassig" hält, "Kinder mit zehn Jahren in gute und schlechte Schüler einzuteilen".

Tatsächlich stauen sich in der ÖVP die Probleme, ohne dass bislang viel Hoffnung auf Abhilfe aufkommt. So ist die Partei seit 1987 durchgängig in der Regierung - und zwar (mit Ausnahme des siebenjährigen Haider-Zwischenspiels) als Juniorpartner der SPÖ, die (davon abgesehen) bereits seit 1970 durchwegs den Bundeskanzler stellt.

Die berühmte österreichische Konsenskultur, die sich in der institutionalisierten "Sozialpartnerschaft" und den weltweit wenigsten Streiktagen manifestiert, hat es den beiden Regierungsparteien erlaubt, sich weite Teile der Republik untereinander aufzuteilen, was zu durchwegs unsauberen Verhältnissen führte. Aufstieg und Einfluss ist in der ÖVP jedenfalls nur über die bedingungslose Mitgliedschaft in einer der starken Interessengruppen möglich, die von überkommenen Vorstellungen und Besitzstandwahrung bestimmt sind und ihren hoffnungsvollen Kandidaten wohl intellektuelle und ethische Flexibilität abverlangen, die anscheinend immer weniger Menschen aufzubringen bereit sind.

Die Probleme sind freilich allgemein bekannt - und längst haben offizielle Kommissionen diverse Lösungsvorschläge erarbeitet, die nur allesamt auf Nimmerwiedersehen in irgendwelchen Schubladen verschwanden. Mittlerweile wird die ÖVP auch von vielen konservativen (Noch-) Stammwählern mit Filz und Stillstand identifiziert und nur noch aus Mangel an Alternativen gewählt. Aus diesem Reservoir schöpfte einst Jörg Haider seine - oft zutreffende - Kritik an den Missständen, die nun von den NEOS abgearbeitet werden.

Anders als der charismatische Krawallmacher Haider setzen sie jedoch auf ein rational-gemäßigtes Programm mit vielen Freiheitsgraden. Abgesehen von den langfristig angestrebten "Vereinigten Staaten von Europa" dürften ihre Forderungen niemanden besonders beunruhigen und für jeden wirtschaftlich konservativ und sozial eingestellten Menschen zustimmungsfähig sein: So wollen sie generell effizienter wirtschaften, Schulden und Steuern senken, die Bildung stärken und Pensionen für die Jungend sichern. Dazu sollen alle Sozialleistungen durch eine bedarfsorientierte Grundsicherung ersetzt werden, die, wie Strolz gegenüber Telepolis betont, aber nicht "bedingungslos" ausgezahlt werden soll, so lange Arbeitsfähigkeit besteht.

Auch wenn Strolz die Eigenverantwortung ins Zentrum seiner Politik stellen will, ist er in seinem Selbstbild gerade das Gegenteil von "Neoliberal". Denn das steht ihm zufolge heute vor allem für Gier, Ausnutzen und nicht-nachhaltiges Wirtschaften - und das sei ja genau das, wogegen er ankämpfe. Um schöne Worte sind er und die NEOS dabei nicht verlegen, weshalb die Grünen zuletzt bereits angemahnt hatten, mehr über Fakten und weniger über "rosa Luftblasen" zu schwadronieren.

Indes bewegt sich Strolz durchaus im aktuellen Konsens der gemäßigten Wirtschaftspolitik. So halte er viel von Keynes’ Vorschlag, in Krisenzeiten mit staatlichen Investitionen einzuspringen, nur müsse ihm auch dahingehend gefolgt werden, die Schulden in Zeiten der Hochkonjunktur wieder abzubauen um über den Konjunkturzyklus ein ausgeglichenes Budget zu erreichen. Privatisierungen von Staatsunternehmen fordert er zwar - aber nicht bei natürlichen Monopolen. Außerdem kann es ihm zufolge sinnvoll sein, bei strategisch relevanten Unternehmen (etwa aus dem Energiesektor) eine qualifizierte staatliche Minderheitsbeteiligung zu halten.

Trotz seiner langfristigen Vision eines europäischen Staates nach dem Muster der USA kann er Eurobonds nichts abgewinnen. Sollten sie kommen, würde er sie für europäische Infrastrukturprojekte einsetzen. In der Asylfrage möchte er am liebsten in den Herkunftsländern der Geschleusten helfen, räumt jedoch ein, dass das frühestens in einer halben Generation positive Folgen haben könne. Bis dahin müsse Europa Lösungen finden, die "gerecht und zumutbar" wären - wobei er meint, dass Österreich hier bereits einen anständigen Beitrag leistet.

Interessant ist, dass sich die Absetzbewegung von der ÖVP hin zu den NEOs bislang auf die Wähler beschränkt und noch nicht die Funktionäre ergriffen hat, wie es vor einem Jahr beim BZÖ der Fall war. Diese FPÖ-Abspaltung hatte sich nach Haiders Tod als "liberale" Partei geriert. Noch vor ihrem Scheitern an der Vier-Prozent-Hürde