Nicht mal halb Europa hat gewählt
Herbe Niederlage für die Sozialdemokraten bei den Europawahlen. Rechte Parteien legen vielerorts zu
Nach den Wahlen zum Europaparlament dürften die Debatten in Brüssel schärfer werden. Gewinnen für dezidiert pro-europäische Parteien aus dem grünen und liberalen Spektrum steht ein erstarkter rechter Rand gegenüber. Die britischen Konservativen wollen überdies eine EU-kritische Fraktion gründen.
Einen Mangel an Kontroversen hatte Martin Schulz im Wahlkampf beklagt. Gäbe es mehr zugespitzte Debatten, hoffte der Spitzenkandidat der deutschen Sozialdemokraten, ließe sich das Interesse der Bürger an europäischer Politik leichter wecken. An Polarisierung dürfte es künftig in Straßburg und Brüssel kaum mangeln. Schließlich wurden bei den Wahlen zum Europaparlament vom 4. bis zum 7. Juni sehr gegensätzliche Kräfte gestärkt. Zugewinne verbuchten einerseits die sehr europafreundlichen Grünen und die liberalen Pro-Europäer von der holländischen D66. Andererseits legten diverse rechte Parteien zu, die in Europa wahlweise eine bessere Freihandelszone oder die Bühne für einen Kulturkampf sehen.
Erheblichen Anteil am grünen Wahlerfolg hatte die französische Liste um Daniel Cohn-Bendit und den prominenten Globalisierungskritiker José Bové. Sie erhielt 16,2 Prozent und blieb damit nur knapp hinter den Sozialisten auf Platz drei. Die deutschen Grünen konnten ihr ohnehin gutes Ergebnis von 2004 sogar leicht verbessern und erreichten 12,1 Prozent. Erstmals vertreten sind die griechischen Grünen, die einen Sitz holten.
Die Europäische Linkspartei konnte entgegen mancher Erwartungen in der Wirtschaftskrise nicht zulegen. Sie wird mit 35 Abgeordneten die kleinste Fraktion unter den etablierten europäischen Parteien bilden. Die deutschen Linken steigerten ihr Ergebnis auf 7,5 Prozent. Auch der portugiesische Linksblock konnte zulegen, er erreichte ebenso über 10 Prozent wie die vom Schriftsteller José Saramago unterstützte traditionalistische KP des Landes. Ein Desaster erlebten hingegen die von internen Kämpfen zerrütteten italienischen Linken. Die bislang von Rifondazione Comunista gehaltenen sieben Sitze werden wohl sämtlich verloren gehen.
Deutliche Verluste für die Sozialisten
Die Sozialisten kassierten deutliche Verluste. Sie bleiben aber zweitstärkste Fraktion. Eine herbe Niederlage fuhr die SPD ein. Sie unterbot das Rekordtief von 2004, als sie für die Agenda 2010 abgestraft worden war, nochmals und fiel auf 20,8 Prozent. "Mobilisierungsprobleme" führte Franz Müntefering am Wahlabend für das schlechte Ergebnis der SPD ins Feld. Die eigene Klientel sei für Europawahlen traditionell nur schwer zu begeistern, hieß es auch von anderen führenden Genossen. Das dürfte allenfalls die halbe Wahrheit sein, wie ein Blick auf die Ergebnisse in anderen Ländern zeigt. Es scheint eher so, als ob der europäischen Sozialdemokratie ihr Flirt mit dem Neoliberalismus nachhaltig geschadet habe.
Einen Negativrekord stellten nicht nur die deutschen Sozialdemokraten ein, sondern auch ihre österreichischen Parteifreunde mit 23,8 Prozent und die französischen Sozialisten mit schmachvollen 16,8 Prozent. Die niederländische Arbeitspartei verlor gleich 11 Prozentpunkte auf 12,1 Prozent, Ungarns regierende Sozialisten fielen auf magere 17,4 Prozent.
Selbstkritischer als ihre deutschen Genossen äußerte sich Martine Aubry. Die Chefin der französischen Sozialisten erklärte, ihre Partei brauche eine "tief greifende Erneuerung".
Wenig überraschend kam nach dem Spesenskandal der vergangenen Wochen hingegen das Desaster für Labour in Großbritannien.
Auf Malta und in Griechenland trotzten die Sozialisten dem europäischen Trend und wurden je stärkste Kraft. In beiden Ländern befinden sie sich allerdings in der Opposition. Zugewinne konnten auch die tschechischen Sozialdemokraten verbuchen, wenn auch gegenüber einem schwachen Ergebnis in 2004.
Die Europäische Volkspartei und die Neugründung einer rechtskonservativen Fraktion
Stärkste Fraktion bleibt die Europäische Volkspartei. Oben auf der "blauen Welle" in Europa schwamm Nicolas Sarkozy. Seine UMP wurde mit 28 Prozent stärkste Kraft in Frankreich, ebenso wie die CDU in Deutschland, trotz eines historisch schlechten Ergebnisses von 37,9 Prozent. Die polnische Bürgerplattform von Regierungschef Donald Tusk legte genauso zu wie die ÖVP und die spanische Volkspartei, die den Unmut über die Wirtschaftskrise für sich nutzen konnte und 42,03 Prozent verbuchte.
Neben den Abgeordneten christdemokratischer Parteien gehören der Fraktion auch einige Rechtsausleger an. Dazu zählt die ungarische Fidesz, die triumphale 56,4 Prozent erreichte. Die rechtskonservative Partei um Oppositionsführer Viktor Orban versäumt es seit Jahren, klare Distanz zum erstarkenden Rechtsextremismus im Land zu wahren. Darin ähnelt sie Silvio Berlusconi, der Pakte mit der Neofaschistin Allessandra Mussolini nicht scheut. Der Cavaliere war im Europawahlkampf als Spitzenkandidat aufgetreten. Seine neue Partei Volk der Freiheit erzielte etwa 36 Prozent und siegte damit weniger deutlich als erwartet. In ihrem Verbund werden auch die Postfaschisten der Alleanza Nazionale der EVP beitreten.
Geschwächt wird die EVP durch die angekündigte Neugründung einer rechtskonservativen Fraktion. Britische Tories, die tschechische ODS von Präsident Vaclav Klaus und die polnische PiS der Kaczynski-Brüder wollen die EVP verlassen. Unter dem Namen European Conservatives soll eine Gruppe im Europaparlament entstehen, die eine weitere politische Integration der EU bekämpft und für nationale Souveränität streitet.
David Cameron, der Vorsitzende der britischen Konservativen, will nicht zuletzt den Vertrag von Lissabon überarbeiten lassen. Sein künftiger Fraktionskollege Mirek Topolanek (ODS) erklärte den Vertrag gar für "tot". Wirtschaftspolitisch strebt man weitere Deregulierung an.
ODS und Tories wurden in ihren Ländern jeweils stärkste Kraft, die PiS zweitstärkste. Als Partner werden einige rechtspopulistische Parteien gehandelt, die sich auf nationaler Ebene als Mehrheitsbeschaffer konservativer Regierungen empfohlen haben, so die Dänische Fortschrittspartei, die von 5,8 auf 15 Prozent zulegen konnte. Dazu könnten rechte Kleinparteien aus Belgien und dem Baltikum stoßen.
Wilders, BNP und Jobbik: deutliche Gewinne auf der rechten Seite
Offen bleibt die Zukunft eines anderen EU-Kritikers. Die Libertas-Partei, hervorgegangen aus der irischen Nein-Kampagne beim Referendum über den Lissabon-Vertrag, wollte sich europaweit etablieren. Ihr Gründer, der Millionär Declan Ganley, hoffte allein in Irland auf drei Mandate und auf 106 in ganz Europa. Dazu hatte er mit Lech Walensa einen illustren Mitstreiter gewonnen und war Kooperationen mit rechten Kleinparteien eingegangen. Am Ende reichte es jedoch nur zu je einem Abgeordneten in Irland und Frankreich.
Deutlichen Zuwachs hat der rechte Rand erhalten. Die FPÖ konnte ihr Ergebnis mit 13,1 Prozent verdoppeln, die Großrumänienpartei legte auf 7,2 Prozent zu. Da auch der Vlaams Belang über 10 Prozent verbuchte, ist die Kerngruppe der ehemaligen rechtsextremen ITS-Fraktion trotz der Schwäche des Front National (6,5 Prozent) weiterhin stark vertreten. Als Partner für eine rechtspopulistische Gruppe bietet sich unter anderem die erstarkte Lega Nord (deutlich über 9 Prozent) an. Auch Geert Wilders, der in den Niederlanden aus dem Stand 17 Prozent und vier Mandate holte, wird von der FPÖ bereits umworben.
Erstmals zogen auch die rassistische British National Party und die ungarische Jobbik ins Europaparlament ein. Jobbik verbuchte 14,8 Prozent und drei Mandate für ihre unverhohlene Hetze gegen Roma und Juden. Die Partei unterhält mit der Ungarischen Garde sogar einen paramilitärischen Arm.
Begünstigt wurden die Ultrarechten von einer Rekordabstinenz. Lediglich rund 43 Prozent der EU-Bürger gaben ihre Stimme ab; in Griechenland beteiligten sich trotz Wahlpflicht nur 55 Prozent der Bürger. Viele Wähler betrachteten den Urnengang zudem als nationale Angelegenheit, bei der nicht die Arbeit eines europäischen Parlaments, sondern die jeweilige Regierung und Opposition bewertet wurden. In der Tat konnten sie ausschließlich zwischen nationalen Parteien wählen. Europapolitiker wie der Sozialdemokrat Jo Leinen fordern daher, zukünftig solle über europäische Listen abgestimmt werden. Andere beklagen, die europäischen Politiker hätten im Angesicht der Wirtschaftskrise überzeugende pro-europäische Visionen vermissen lassen.