Nichts war gut in Afghanistan. Niemals.

Dé·jà-vu: Protest von Frauenrechtlerinnen 1998 gegen die Einnahme von Kabul durch die Taliban im Jahr 1998. Bild: Rawa, CC BY 3.0

Über den Fall von Kabul, das Versagen von Politik und Medien, außenpolitische Positionierungen und die Ursachen von Ehrenmorden. Der Telepolis-Wochenrückblick mit Ausblick

Zersprengt ist unser ganzes Heer / Was lebt, irrt draußen in der Nacht umher / Mir hat ein Gott die Rettung gegönnt / Seht zu, ob den Rest ihr retten könnt.

Theodor Fontane: Das Trauerspiel von Afghanistan (1859)

Liebe Leserinnen und Leser,

der Fall von Kabul und damit von Afghanistan in die Hände der Taliban an diesem Sonntag ist eine in mehrerlei Hinsicht absehbare Katastrophe sowie ein Fanal für westliche Staaten und deren Regime-Change-Agenda.

Die Geschehnisse der vergangenen Stunden und Tage belegen auf erstaunliche wie erschreckende Weise den Selbstbetrug der westlichen Militärallianz, die Afghanistan seit Ende des Jahres 2001 zunächst militärisch besetzt und dann dominiert hatte.

In Folge dieses historischen Scheiterns ausländischer Akteure in Afghanistan wird auch über den medialen Blick auf die vergangenen zwei Jahrzehnte zu sprechen sein.

Zwar gab es in diskursbestimmenden Medien stets auch viele kritische Beiträge über die verschiedenen nicht-robusten, robusten, Ausbildungs-, Friedens, Sicherungs- und Stabilisierungsmissionen am Hindukusch.

Nie aber wurde das Nato-Narrativ einer Intervention ernsthaft infrage gestellt, die auf Menschenrechte und Frieden abzielte. Beispielhaft hielt das Nachrichtenmagazin Der Spiegel noch am Tag nach dem Fall von Kabul an die Radikalislamisten am heutigen Montag am Nato-Framing fest: Ein Autorenbeitrag befasste sich mit dem "Warten auf die Barbaren", das Foto zeigte einen Afghanen, der ein Plakat einer Frau an einem Schönheitssalon mit weißer Farbe übermalt.

Doch die Barbaren waren nie vertrieben aus Afghanistan. Sie herrschten, wenn auch nicht mehr überall, sie folterten, sie unterdrückten Frauen und Mädchen, man verhandelte mit ihnen und ließ sie, wenn sie gemordet hatten, wieder frei, wenn dies politisch opportun erschien.

"Nach 18 Jahren des sogenannten Krieges gegen den Terrorismus und der angeblichen Befreiung der afghanischen Frauen durch die USA und die Nato, findet sich unser Land noch immer auf den führenden Plätzen in Sachen Korruption, Analphabetismus, Menschenrechtsverletzungen, Frauenunterdrückung, Unsicherheit und so fort", sagte die afghanische Frauenrechtlerin Malalai Joya bei einem Berlin-Besuch vor zwei Jahren.

Wie halten wir es mit Autokraten – und mit welchen?

Geopolitische Fragen, die angesichts der Geschehnisse in Afghanistan nun aufgeworfen werden, haben Telepolis auch in der vergangenen Woche befasst. Von unserem Autor Ulrich Hottelet erschien ein Text, der sich kritisch mit der außenpolitischen Positionierung von CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet befasste.

Vage Aussagen und Positionen seien geradezu ein Markenzeichen des CDU-Vorsitzenden, heiß es darin, auch zur Außenpolitik äußere er sich lieber "sehr allgemein und unkonkret. Ausgerechnet Autokraten und Diktatoren hat er aber schon oft vor Kritik in Schutz genommen", so Hottelet.

Unser Autor kritisierte die zurückhaltende Position des Christdemokraten zu einer härteren Linie gegenüber den Regierungen etwa in China, Russland und Syrien. Dieses "Wegschauen" stehe "im Widerspruch zu den christlichen Werten seiner Kirche", so Hottelet über Laschet.

Widerspruch kam vom ehemaligen SPD-Bundestagabgeordneten Jörg Tauss, der in einer Replik auf die Rolle der USA verwies und einige der außenpolitischen Positionen Laschets verteidigte:

Beispiele von Menschenrechtsverletzungen durch die alliierte US-Regierung zeigten das Dilemma deutscher "und vor allem grüner vermeintlich werteorientierter" Außenpolitik auf, hielt er der Argumentation Hottelets entgegen:

"Böse" sind eigentlich immer die anderen. Wie es gerade eben zum Narrativ passt. Vor allem gilt das natürlich bei den Russen. Suspekt ist, wem zu Russland nicht zunächst sämtliche Reizworte westlicher Narrative von der Krim bis hin zu Skripal, Nawalny & Co einfallen.

Jörg Tauss

Egon Bahr habe einst auf den Punkt gebracht, was "in der heutigen Zeit außenpolitischer Doppelmoral vollständig übersehen" werde: "In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten."

Wer mordet für die "Ehre"?

Nach der Ermordung einer aus Afghanistan stammenden Berlinerin durch zwei ihrer Brüder brandete in der vergangenen Woche eine Debatte um sogenannte Ehrenmorde auf.

Wie oft im politischen Betrieb arbeiteten sich die Akteure aneinander ab und verfehlten das Thema: den Schutz von Frauen und Mädchen vor solchen anachronistischen Bluttaten. Darauf ging Telepolis-Redakteurin Claudia Wangerin ein.

In zwei Essays widmeten wir uns in Folge dem Thema Ehrenmorde. Der Islamwissenschaftler und Telepolis-Autor Fabian Goldmann, der gängige Thesen zum Thema aufgriff und teilweise widerlegte.

Zwar stammten viele der Täter aus dem arabischen Kulturraum, so Goldmann. Er verwies zugleich aber auf die Soziologin Ayfer Yazgan, nach der die Wurzeln dieser Taten aber in ländlichen Gegenden mit einer eher archaisch-patriarchalen Sozialstruktur liegen.

"Unter Muslimen, die nicht in Ost-Anatolien oder abgelegenen Gegenden Afghanistans, sondern in Istanbul oder Damaskus sozialisiert wurden, ist das Phänomen fast unbekannt", schickte Goldmann hinterher.

"Nur ist diese Region der Welt seit 1.400 Jahren vom Islam geprägt", wandte Telepolis-Autorin Birgit Gärtner ein. Religionen fielen eben nicht vom Himmel, sondern seien Produkt einer kulturellen Entwicklung sowie bestimmter patriarchaler Traditionen.

"Das bedeutet, die kulturelle Prägung überträgt sich auch auf nicht-islamische Communities, sofern diese nicht von alters her gleichermaßen patriarchal geprägt sind", stellt Gärtner fest, um die von der politischen Rechten einseitig auf den Islam bezogene Kulturkritik auf unser Lebensumfeld zu erweitern:

Religionen sind Herrschaftsinstrumente, insbesondere der Herrschaft der Männer über Frauen. Das haben wir hierzulande etwas aus den Augen verloren, weil wir den Einfluss der Kirchen halbwegs eindämmen konnten. Aber es ist noch gar nicht so lange her, da war Jungfräulichkeit ein Wert an sich, Sex vor der Ehe - für Frauen - verpönt, das weiße Kleid und der Schleier stehen immer noch für die "Reinheit" der Braut, auch wenn das im Jahre 2021 reichlich albern klingt.

Birgit Gärtner

Viele relevante Themen bei Telepolis

Zu erwarten ist, dass die Themen und Debatten in der noch jungen Woche vom Geschehen in Afghanistan geprägt sein werden, aber natürlich auch weiterhin von der Corona-Pandemie. Sicherlich werden wir auf die Entscheidung der Ständigen Impfkommission eingehen, die zugelassenen Vakzine nun auch für Zwölf- bis 17-Jährige zu empfehlen. Oder den Umstand, dass Israel, obgleich früh und fast vollständig durchgeimpft, von der Bundesregierung auf einmal zum Hochinzidenzgebiet erklärt worden ist.

Angesichts des "Krisenhoppings" gab der Sprachphilosoph und Politologe Paul Sailer-Wlasits bei Telepolis übrigens zu bedenken: "Viel stärker und schneller als die Corona-Viren hat sich die Gleichgültigkeit in Form von Relevanz- und Interessenverlust in der Gesellschaft ausgebreitet. Das Fenster der Aufmerksamkeit für viele Teile der uns umgebenden Lebenswirklichkeit schließt sich in Zeiten der Krise immer rascher."

Wir werden also wie bisher dagegenwirken und ein breites Spektrum relevanter Themen abdecken. Dass dazu auch wissenschaftliche Beiträge gehören, merkte nach der letzten Wochenkolumne, in der ich stark auf die Berichterstattung über geopolitische Themen rekurrierte, ein Kollege zu Recht an.

Mit der zu Ende gehenden Urlaubszeit und dem sich schließenden Sommerloch bereiten wir uns zudem auf ein wichtiges Datum vor. Telepolis feiert dieses Jahr sein 25-jähriges Bestehen. In einigen Beiträgen werden wir demnächst auf diese Zeit zurückblicken und die Zukunft unserer Redaktion skizzieren.

Dabei ist uns Ihre Meinung wie immer wichtig. Schreiben Sie also gerne, was Sie an den redaktionellen Inhalten von Telepolis schätzen, was sie missen, was Sie gut finden, was zu verbessern wäre. Und vor allem:

Bleiben Sie uns gewogen, Ihr

Harald Neuber

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