No Balance: Deutschland, die Ukraine, die USA und der Rest der Welt

Soll er etwa seinen Blick erweitern? Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) mit Indiens Premier Narendra Modi in Neu-Delhi. Foto: Bundesregierung / Kugler

Ein Tunnelblick garantiert maximales Unverständnis für viele Länder. Aus westlicher Sicht scheint nur deren Positionierung zum Ukraine-Krieg interessant. Zur "Einsicht" führt diese Erwartungshaltung nicht.

Für viele deutsche Medienkonsumenten klingt es sicher sehr kalt und ignorant, wenn ein österreichischer Journalist bei einer Konferenz in Indien zu hören bekommt: "Der Krieg in Europa? Sie meinen den in der Ukraine?" Bestenfalls klingt es uninformiert und desinteressiert.

Nur, dass es die Menschen in Asien, Afrika und Lateinamerika von "uns" nicht besser gewöhnt sind. Die meisten Deutschen könnten spontan nicht sagen, wo gerade überall Krieg ist (vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine hatten Konfliktforscher bereits 20 Kriege weltweit gezählt) und worum es dort jeweils geht.

Wer in Deutschland über den Jemen-Krieg sagt: "Das ist nicht unser Krieg", muss sich in der Regel nicht anhören, dass diese Haltung doch irgendwie unsolidarisch sei. Dabei ist es nicht so, dass Deutschland in diesem Fall keine Waffen an Kriegsparteien geliefert hätte.

Die Befürworter von Waffenlieferungen an Staaten der von Saudi-Arabien geführten Koalition im Jemen-Krieg haben nur keinen Wert auf eine hochemotionale Debatte darüber gelegt. Es wäre auch schwierig gewesen, ein absolutistisches Königreich als hoffnungsvolle junge Demokratie zu framen, die sich verteidigen muss.

So wurde der Sachverhalt fast nur von den "üblichen Verdächtigen" thematisiert, die bei jeder Gelegenheit versuchen, den "Wertewesten" mit schnöden Kapitalinteressen in Verbindung zu bringen.

Am Beispiel der Ukraine wollen Rüstungskonzerne wie Rheinmetall gerade beweisen, wie gut sich Kapitalinteressen und "Solidarität" miteinander verbinden lassen: "We stand with Ukraine", twitterte das Social-Media-Team der Waffenschmiede in den Nationalfarben des von Russland angegriffenen Landes, als sich die Invasion zum ersten Mal jährte.

Wenige Tage später wurde der Aufstieg von Rheinmetall in den Deutschen Aktien Index (Dax) vermeldet. Niemand bestritt ernsthaft den Zusammenhang zwischen diesem Aufstieg und der "Zeitenwende", die Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) ein Jahr zuvor in einem Atemzug mit der Bereitstellung des Sondervermögens von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr verkündet hatte.

"Sind in Lateinamerika alle Putin-Versteher?"

Im Globalen Süden kassierten Scholz und andere westliche Regierungschefs allerdings im Folgejahr Körbe: Das Desinteresse der dortigen Amtskollegen, sich in den Konflikt hineinziehen zu lassen, war deutlich – wenn auch nicht unbedingt überraschend. Manche, darunter Indiens Premier Narendra Modi, wären als Vermittler zu haben gewesen, hatten aber kein Interesse am Status indirekter Kriegsparteien.

Da ging es Linken nicht anders als Hindu-Nationalisten. Auch der brasilianische Präsident Luiz Inácio Lula da Silva gab Scholz einen Korb, als dieser versuchte, ihn als Verbündeten für die militärische Unterstützung der Ukraine zu gewinnen, brachte sich aber als Vermittler ins Spiel.

Dies versuchte die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vor allem als Erfolg russischer Propaganda erklären. Nicht etwa dadurch, dass Lula gerade nach einem rechten Putschversuch das größte Land Südamerikas zu stabilisieren hat – und dass er dafür soziale Wahlversprechen einhalten muss, ohne für kurzfristiges Wirtschaftswachstum den Amazonas-Regenwald zu opfern. Denn auch den Erhalt dieser "Lunge der Welt" hat er versprochen; und er wird auf internationalen Klimakonferenzen von westlichen Regierungschefs daran erinnert werden.

Dass diese Herausforderungen möglicherweise reichen, ließ die FAZ nicht gelten. Stattdessen hieß es in einer Überschrift: "Sind in Lateinamerika alle Putin-Versteher?"

"Antiamerikanismus" ist das nach gängigem Sprachgebrauch nicht – denn dieser Vorwurf wird in der Regel nur erhoben, wenn es um Kritik an den USA und deren Regierung geht. Nur weil Lula das größte Land Südamerikas regiert, ist er demnach noch lange kein richtiger Amerikaner. Da es so gut wie nie dieselben Leute sind, die Lula und Joe Biden kritisieren, ist dieser Kampfbegriff auch eigentlich Nonsens. Das ändert aber nichts daran, dass ihn deutsche Transatlantiker lieben.

Es ist ein Sprachgebrauch, der nicht einmal als "False Balance" kritisiert werden kann, weil er es nicht einmal nötig hat, falsche Ausgewogenheit zu suggerieren. "No Balance" wäre hier passender. Im vergangenen Jahr wurde die öffentliche Wahrnehmung im deutschsprachigen Raum von etablierten Parteien und Massenmedien zunehmend auf Deutschland, die Ukraine und die USA sowie Russland als gefährlichen Gegenspieler verengt.

Der Vorwurf des "Whataboutismus" kam so sicher wie das Amen in der Kirche, so bald die moralische Motivation des Westens mit Verweis auf andere Kriege in Zweifel gezogen wurde. Der politisch-mediale Tunnelblick ist demnach kein Fehler, sondern eine Tugend.

"Gibt es ein neues Afrika-Problem?"

Ganze Kontinente sind seither fast nur noch in Bezug auf ihre Positionierung zum Ukraine-Krieg interessant. Für kleinere Redaktionen, die diesen Tunnelblick kritisch sehen, ist das ein Dilemma: Berichte aus Ländern des Globalen Südens erzielen bei weitem nicht dieselben Klickzahlen, wenn es mal um deren eigene Probleme geht. Was zählt, ist das Problem, das der Westen mit ihnen hat.

So stellte der stern nach der Abstimmung über die UN-Resolution zum Ukraine-Krieg am Jahrestag der russischen Invasion die Frage: "Gibt es ein neues Afrika-Problem?"

Was war passiert? – Auffallend viele Enthaltungen kamen von afrikanischen Ländern, deren eigene Sorgen man in Deutschland vor allem vom Wegschauen kennt. Wer den schlechten Fraß im Kindergarten nicht essen wollte, bekam schließlich immer zu hören, dass sich die armen Kinder in Afrika darüber freuen würden – und es schmeckte einfach trotzdem nicht.

Neben bewusstem oder unbewusstem Rassismus macht vielleicht auch das die Identifikation so schwer. Mit weißen, weniger ausgehungerten Opfern von Krieg und Gewalt, die vor nicht allzu langer Zeit noch ein Leben gelebt haben, das unserem viel ähnlicher war, scheint vielen die Identifikation leichter zu fallen. Das könnten ja fast wir sein – und dann verweigern afrikanische Länder denen einfach die Solidarität!

Afrikanische Länder interessiert im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg nicht zuletzt ihre Ernährungssicherheit. Wenn diese durch das Kriegsgeschehen an sich beeinträchtigt wird, weil die Ukraine und Russland bisher zu den weltweit wichtigsten Getreideexporteuren gehörten und die Produktionsmengen kriegsbedingt sinken, dann haben die betroffenen Importländer kein Interesse an einer Verlängerung des Krieges – auch nicht, wenn der Westen betont, damit sei ein besseres Ergebnis für die Ukraine zu erzielen.

"Ressentiments gegenüber der internationalen Ordnung"

Dass ehemalige Kolonialmächte sich vor der Abstimmung für die Ukraine ins Zeug gelegt hatten, war vielleicht in ehemals kolonisierten Ländern auch nicht die beste Sympathiewerbung. Zwar stimmten 141 von 193 Staaten der UN-Resolution zu, aber so eindeutig wie von westlichen Staaten erhofft fiel die Isolation Russlands nicht aus. Mali stimmte sogar gegen die Resolution. Die Militärregierung des westafrikanischen Landes hatte im vergangenen Jahr ein Verteidigungsabkommen mit Frankreich aufgekündigt und sämtliche Soldaten der ehemaligen Kolonialmacht ausgewiesen.

Dass anstelle Frankreichs nun Russland seinen Einfluss in der Region ausbauen kann, ist aus europäischer Sicht eine schlechte Wahl. Aber die europäische Sicht ist eben für die Regierung Malis genauso wenig ausschlaggebend, wie es die Meinung des Kreml zum Nato-Beitrittswunsch der Ukraine für die Regierung in Kiew ist.

Da können "wir" es noch so ungerecht finden, nicht überall auf der Welt sofort als "die Guten" erkannt zu werden. Im Munich Security Report 2023 sprach der Veranstalter der Münchner Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen, von "Ressentiments" in Ländern Afrikas, Lateinamerikas und Asiens "gegenüber der internationalen Ordnung" – er gab aber auch selbst zu, dass diese Ordnung "ihren Interessen nicht immer gedient" habe.