Noch ein Versuch, das Endspiel zu verstehen

Beim Schach siegt das Gedächtnis über die Analyse

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"Computer sind die einzigen Gegner, die nicht immer eine Ausrede auf Lager haben, wenn sie gegen mich verlieren", meinte Bobby Fischer. Inzwischen brauchen Menschen Ausreden, wenn sie gegen Computer verlieren. Etwa Garry Kasparow, der 1997 im historischen Fight "Mensch gegen Maschine" von "Deep Blue" zusammen geschoben wurde: "IBM hat mich betrogen. Der Wettkampf war nicht fair, es gab bei 'Deep Blue' menschliche Eingriffe. Niemals würde ein Computer sich für einen von ihm schlechter bewerteten Zug entscheiden. 'Deep Blue' tat es, und deshalb glaube ich, dass Menschen diesen Zug vorgegeben haben und so meine Strategie gegen 'Deep Blue' entscheidend störten." Die weltmeisterliche Erklärung ist erheblich grotesker als die Standardausrede von geschlagenen Großmeistern, die ihre Niederlagen allein aus momentanen Unpässlichkeiten heraus erklären können.

deep Blue

Aber was ist das Geheimnis des königlichen Spiels, das Goethe als "Probierstein des Gehirns" deutete und von dem Bobby Fischer sagte: "Am wohlsten fühle ich mich, wenn ich sehe, wie sich mein Gegner im Todeskampf windet." Christian Morgenstern hielt wie unzählige, weniger bellizistische Verehrer des virtuosen Spiels den Sieg des tiefen, genialen Gedankens über die Nüchternheit, den Sieg der Persönlichkeit über das Triviale für entscheidend. Aber vielleicht ist doch alles viel nüchterner, als es der Mythos einer Kunst will, die vermeintlich Spiel, Sport, Kampf, Mathematik, Psychologie, Inspiration und vor allem menschliche Persönlichkeit vereinigt.

Ein Wissenschaftlerteam der Uni Konstanz hat, wie sie in Nature berichten (Amidzic, O. et al. Pattern of focal gamma bursts in chess players. Nature, 412, 603, 2001), mit Hilfe neuer Techniken der Magnetenzephalographie sowohl Spitzenspieler wie Kaffeehauszocker während des Spiels beobachtet. Die Profis verließen sich bei ihren Kampfkünsten vor allem auf ihren Gedächtnisschatz unzähliger Spielstellungen. Denken mussten dagegen die Amateure, um für sie neue Stellungen zu analysieren und sich anzueignen.

Könner und Patzer wurden von dem Team um Ognjen Amidzic mit starken Computerprogrammen konfrontiert. Fünf Sekunden nach dem Zug des Computers beobachteten die Wissenschaftler den jeweiligen Ort der Hirnaktivität der sehr unterschiedlichen Spieler. Bei den Amateuren zeigten sich starke Regungen in den medialen Temporal- bzw. Schläfenlappen, die analytische Leistungen und den Aufbau von Gedächtnisinhalten steuern. Vielleicht sprach Jean Paul von diesen Spielern, als er im Schach ein "Treibmittel des Gehirns" erkannte. Bei den Profis spielten sich dagegen die Vorgänge in den Arealen der Großhirnrinde ab, die für das Langzeitgedächtnis zuständig sind. Die Unterschiede bei den jeweiligen Gehirnaktivitäten korrelierten eindeutig mit den ELO-Zahlen (Wertungszahlen gemäß einer internationalen Spielerauflistung), die die Spielstärke anzeigen.

Für die Forscher ist klar, dass gute Schachspieler mehr oder weniger wie Datenspeicher funktionieren, die Eröffnungen, Kombinationen, zwingende Endspielfolgen etc. zur gegebenen Zeit abrufen können. Der sowjetische Großmeister David Bronstein wurde einmal gefragt, warum er über den ersten Zug einer Wettkampfpartie eine ganze Stunde gebrütet habe. Die erstaunliche Antwort des Spielers, der seinerzeit als "Schachmaschine" bezeichnet wurde: "Ich habe die früheren Partien meines Gegners noch einmal in Gedanken nachgespielt, um ihn besser einschätzen zu können." Die "Genialität" eines herausragenden Schachspielers besteht nach der vorliegenden Studie letztlich in der guten Organisation und dem schnellen Abruf der im Langzeitgedächtnis gespeicherten Spielkonstellationen.

Nun ist die Erkenntnis in Insiderkreisen nicht ganz neu. Als Kasparow im Zenit seiner Karriere stand, ließ ein Hamburger Nachrichtenmagazin des Weltmeisters Intelligenz in allen Aspekten vermessen. Heraus kam, dass Kasparow zwar einen überdurchschnittlichen, aber keinesfalls horrenden IQ hatte. Eindeutig überdimensioniert waren indes seine wundersamen Gedächtnisleistungen. Mühelos erinnerte er Tausende von Stellungen, konnte auch eine Vielzahl nur kurz eingeprägter neuer Stellungen sofort memorieren, aber war selbst bei der Rekapitulation von literarischen Texten höchst präzise. Auch der legendäre Amerikaner Robert J. Fischer, dessen selbst erklärte und unter Beweis gestellte Lebensaufgabe es war, sowjetische Großmeister zu demütigen, war so ein Gedächtnistier. Als er während der von ihm grandios gewonnenen Weltmeisterschaft 1972 in Reykjavik einen Telefonanruf in isländischer Sprache entgegennahm, merkte er sich den Text, obwohl er kein Wort der Landessprache beherrschte und ließ ihn sich erst viel später von einem Sprachkundigen übersetzen.

Bekannt ist, dass Großmeister nach schweißtreibenden Simultanspielen Dutzende und mehr Partien ohne jede schriftliche Notation memorieren können. Der Großmeister Vlastimil Hort klagte einmal nach einem solchen Marathonmatch, das sogar Hunderte von Partien umfasste, das Schrecklichste sei, dass sich einige Züge in sein Gedächtnis einbrennen und sich ohne seinen Willen nach dem Kampf immer wieder vor seinem inneren Auge abspielen. Arnold Zweigs unbekannter Schachmeister, der das Spiel während seiner Gefangenschaft lernte im Kopf zu spielen, war mithin kein monströses Literatenprodukt, sondern der Prototyp des genialen Gedächtniskünstlers.

Deep Memory

Die Historie künstlicher Gedächtniskunst im Kampf gegen das menschliche Hirn begann mit einem "Fake". Der ungarische Hofrat Wolfgang von Kempelen (*1734, †1804) präsentierte auf Wunsch der österreichischen Kaiserin Maria Theresia einen vermeintlichen Schachautomaten mit einer eindrucksvollen Mechanik. Hinter dem mechanischen "Türken", verbarg sich im Inneren der Maschine ein kleinwüchsiger Schachmeister, der die Brettschlachten relativ souverän beherrschte.

Nach dieser Täuschung entwickelte sich das Computerschach gleichsam als "Drosophila" der Künstlichen Intelligenz. 1950 wurde das erste Schachcomputerprogramm von Alan Turing verfasst. Obwohl das Programm ein elendiger Patzer war, erbrachte Turing der Beweis, dass Computer überhaupt Schach spielen können. Die darauf folgende Geschichte ist eine einzige Blamage der menschlichen Prätention, dass nur der menschliche Geistesblitz und die Vereinigung aller Persönlichkeitsmomente eines Spielers zu wirklich herausragenden Leistungen in der Lage seien. So hielt es der ehemalige russische Schachweltmeister Botwinnik, der zugleich Mathematiker und Schachprogrammierer war, für unmöglich, dass Maschinen einst die genialen Inspirationen von Menschen übertreffen könnten. Noch 1978 wettete der Internationale Meister Levy erfolgreich mindestens ein Remis im Kampf gegen die immer unheimlicheren Maschinen erzielen zu können.

1988 machte "Deep Thought" mit Großsprecher Levy kurzen Prozess. 1989 polierte Weltmeister Garry Kasparow gegen dieses Programm zwar den gekränkten Narzissmus des Menschen wieder auf. Aber die Ehre der Menschheit währte nicht allzu lange. Der geniale IBM Gedächtnisriese "Deep Blue", der 250 Millionen Stellungen in einer Sekunde berechnet, verwies den Weltmeister, der in dieser Zeit gerade mal drei bis vier Konstellationen verinnerlicht, auf die Plätze. Aus die Maus.

Menschliche Gehirne haben Speichergrenzen, die für Computer nicht gelten. Die Geschichte des Mensch-Maschinen-Wettkampfs ist vor allem aber paradigmatisch für die Demontage einer Semantik, die den blinden Flecken in der Selbstbeobachtung des Menschen besonders deutlich macht. So sagte der große Meister Richard Reti im Schachspiel offenbare sich, ob jemand Fantasie und Initiative habe. Der eigentliche, feinste Reiz des Schachspiels liege darin, dass man dabei geistig produktiv tätig ist. Zwischen Vatermord und Kastrationsangst wurde Schach als menschliches Urdrama beschrieben und der französische Psychologe Alfred Binet meinte: "Wenn wir in den Kopf eines Schachspielers schauen könnten, würden wir eine ganze Welt aus Gefühlen, Bildern, Emotionen und Leidenschaften sehen." Mag sein, aber Schachprogramme kommen auch ohne diese bunte Welt erfolgreich zu beeindruckenden Ergebnissen. Der Jahrhundertspieler Akiba Rubinstein, dessen Kombinationen mitunter um die Welt telegrafiert wurden, um die Virtuosität des menschlichen Geistes unter Beweis zu stellten, hatte eine Einstellung, die nach den genannten Erkenntnissen dem Wesen des Spiels wohl sehr viel näher kommt: "Gegen wen spielen Sie heute Abend?" Rubinstein antwortete wie ein emotionsloser Rechner: "Heute Abend spiele ich gegen die schwarzen Steine!"

Wer heute Rubinsteins geniale Kombinationen einem in jedem besseren Spielzeugladen erhältlichen Schachcomputerprogramm einspeist, muss regelmäßig nur wenige Sekunden warten, bis das Programm die "menschlichen Geistesblitze" ausspuckt. Reuben Fines großmeisterliche Einschätzung, beim Schach keine "leblose mathematische Übung" zu sehen, sondern den Triumph des Geistes über die Materie" vereinbart sich keineswegs mit dem Bild von dumpfen Gedächtnisleistungen der Maschine. Die Maschinen haben mit ihren Siegen über menschliche Gegner längst den Turing-Test bestanden. Ihre Kombinationen, "Opferfreude und Waghalsigkeit" lassen eine Differenz zu menschlichen Strategien nicht mehr erkennen.

Im Oktober 2001 wird der amtierende Schachweltmeister Vladimir Kramnik gegen das Computerprogramm "Deep Fritz" zu einem Match über acht Partien im Golfstaat Bahrain antreten. Ob er sich dabei wohl auf die menschliche Gegenüberstellung von Psychologie, Persönlichkeit und Geistesblitz versus Algorithmen, Prozessorgeschwindigkeiten und bewusstlose Speicherleistungen verlassen kann? Auf den 64 Feldern, die die Welt bedeuten, regiert vor allem das bessere Gedächtnis. Allein wie es erfolgreich mobilisiert wird, entscheidet über Sieg oder Niederlage. Und die menschlichen Siegeschancen werden immer schlechter...