Nord Stream 2: Eine Zwischenbilanz

Solitaire installiert die Pipeline im Finnischen Meerbusen. Bild (2018): © Nord Stream 2 / Thomas Eugster

Der Konflikt um die Pipelineerweiterung Nord Stream 2 scheint sich vorerst zu entspannen

Die Pipeline-Erweiterung Nord Stream 2 wird fertiggestellt. Diese Nachricht dürfte nicht nur im Bundeskanzleramt und im Kreml für Entspannung sorgen. Vor allem haben die beteiligten Firmen und Investoren ein paar Sorgen weniger, denn erstmals hatte die US-Regierung ernsthaft massenhaft Sanktionen gegen Firmen in der EU angedroht. Die Investoren aus Frankreich, den Niederlanden, Österreich und Deutschland mussten damit rechnen, dass das Großprojekt an politischen Blockaden scheitert.

Die amerikanische Regierung und einzelne Abgeordnete bedrohten immer wieder am Bau beteiligte Firmen mit Sanktionen, darunter selbst öffentliche Unternehmen wie die Fährhafen Sassnitz GmbH, wo die Rohre für den Weiterbau der Pipeline lagern. Im Dezember 2019 hatte die Schweizer Firma Allseas ihre Verlegearbeiten ausgesetzt und ihre Schiffe zurückgezogen, später stieg der Versicherungskonzern Zurich Insurance Group aus, der norwegische Zertifizierer DNV GL und das dänische Ingenieurbüro Ramboll suspendierten ebenfalls die Verträge.

Für das russische Staatsunternehmen Gazprom und seine europäischen Partner endet nun vorläufig eine Zitterpartie. Die unterzeichnete Vereinbarung ist tatsächlich ein beeindruckender Schlussakkord für die deutsche Bundeskanzlerin.

Angela Merkel hatte das Projekt in ihrer sachlichen und diskreten Art durch die vergangen beiden Legislaturperioden gelotst und dabei mit drei völlig unterschiedlichen US-Präsidenten zu tun. Aber auch für die beteiligten Außen- und Wirtschaftspolitiker der Fraktionen im Bundestag kehrt vorerst Ruhe ein. Immerhin stellte das Thema auch innerhalb der Parteien eine ernste Belastungsprobe dar.

Unstimmigkeiten innerhalb der Parteien

Anders als es sich sonst gelegentlich darstellt, herrschte nur in der Fraktion Die Linke weitgehend Einigkeit, dass das Projekt wirtschaftlich und außenpolitisch sinnvoll ist. Allein der klimapolitische Sprecher Lorenz Gösta Beutin merkte an, dass auch Erdgas keineswegs eine CO2-neutrale Energiequelle sei. Fraktionschef Dietmar Bartsch, der seinen Wahlkreis wie auch Angela Merkel in Mecklenburg-Vorpommern hat, verteidigte das Projekt kompromisslos gegen äußere Einmischungen.

Der Vorsitzende des Wirtschaftsausschusses, Klaus Ernst, beraumte eigens eine parlamentarische Anhörung zum Thema an und Sahra Wagenknecht gehörte zu den Ersten, die darauf aufmerksam machten, dass es der US-Regierung vor allem darum geht, den Absatz der amerikanischen Fracking-Industrie in Europa zu verbessern.

Von solcher Einigkeit können andere Fraktionen nur träumen. Während die Bundeskanzlerin beharrlich darauf bestand, es würde sich um ein rein wirtschaftliches Projekt handeln, ließ ihr ehemaliger Primus Norbert Röttgen keine Gelegenheit aus, im Chor mit der Bild-Zeitung katastrophale Folgen an die Wand zu malen. Eine "geopolitische Waffe gegen osteuropäische Staaten" sei diese Pipeline.

Noch im Februar wollte er das Projekt beenden. Es sei "nie im deutschen Interesse" gewesen, so der gescheiterte Kandidat für den Parteivorsitz. Außenpolitiker Johann Wadephul, ebenfalls CDU, betonte praktisch zeitgleich, wie wichtig eine enge politische Verständigung mit der Russischen Föderation sei, dies liege im "beiderseitigen, wohlverstandenen Interesse".

Noch unübersichtlicher war die Lage in der SPD. Frank Walter Steinmeier und Sigmar Gabriel hatten als Außen- und Wirtschaftsminister maßgeblich Anteil daran, dass die Pipelineerweiterung überhaupt zustande kam. Ihr Nachfolger als Außenminister, Heiko Maas, nutzte jede Gelegenheit, die Beziehungen zu den großen kontinentalen Mächten Russland und China zu vergiften.

Egal, ob es um Sanktionen oder Auftritte mit aus dem Ausland unterstützten Oppositionellen ging, der oberste deutsche Diplomat stürmte voran. In der undurchsichtigen Causa Nawalny agierte der ausgebildete Jurist gar als unmittelbar Beteiligter, der anschließend der russischen Regierung Ultimaten stellte und als Erster einen Stopp von Nord Stream ins Spiel brachte.

Den größten Schaden haben sich in Sachen Nord Stream vermutlich jedoch Die Grünen zugefügt. Kein Argument gegen die Pipeline war abwegig genug, dass Annalena Baerbock es nicht vorbrachte. Egal, ob es um Belarus, das Klima, Nawalny oder EU-Politik geht, seit Jahren fordert die grüne Spitzenkandidatin ein Ende des Projektes.

Ganz besonders liegt ihr dabei am Herzen, dass die ukrainische Regierung weiterhin Milliarden an Durchleitungsgebühren für die uralten Pipelines Bratstvo und Yamal erhält, die tonnenweise Methan emittieren, nicht zuletzt, weil das Staatsunternehmen Naftogaz die Gebühren nicht für deren Sanierung und Instandhaltung verwendet.

Unterdessen veröffentlichte der ehemalige Umweltminister Jürgen Trittin immer wieder Beiträge, in denen er Nord Stream 2 verteidigte. Wirtschaftlich sei Erdgas möglicherweise sinnvoll, die Abhängigkeit sei bei Pipelines eine gegenseitige und der amerikanische Botschafter verhalte sich "wie ein Haustürvertreter für amerikanisches Fracking-Gas", so das Mitglied im Auswärtigen Ausschuss.

Auch dass die Durchleitungsgebühren für die Ukraine notwendig sind, bezweifelt Trittin, denn leider lande dieses Geld "nicht einmal ansatzweise im Haushalt der Ukraine". Da gebe es "viele, die - freundlich formuliert - sehr viel abgreifen". Gerade wer Nord Stream 2 für überflüssig halte, müsse sich gegen das "Brachial-Marketing für klimaschädliches US-Fracking-Gas" wehren, so Trittin.

Wie weiter für die amerikanische Energiepolitik?

In der aktuellen Vereinbarung konnte die Bundesregierung noch einen zweiten Akzent setzen, der durchaus bemerkenswert ist. Zukünftig sind Zuwendungen der EU und der Bundesregierung für die osteuropäischen Energieprojekte daran gekoppelt, dass es sich um Infrastrukturen für erneuerbare Energien handelt.

Bisher vergab Brüssel die großzügigen Zuschüsse aus strategischen Töpfen wie "Connecting Europe" dafür, neue Infrastrukturen für Erdgas in den mittelosteuropäischen Staaten zu schaffen, die kompatibel mit dem amerikanischen Interesse waren, mehr Flüssiggas (LNG) aus der amerikanischen Fracking-Förderung anzulanden.

Seit dem Jahr 2010 verfolgt die Energiepolitik der USA das Ziel, einen Korridor aus Infrastrukturen durch diejenigen osteuropäischen Staaten zu schaffen, die traditionell einen sehr hohen Anteil an Importen aus Russland hatten. Die Vorreiterfunktion dabei hatte Polen übernommen, das sich selbst mit dem Visegrad+-Bündnis als ein Verteiler für Erdgas etablieren will.

Inzwischen nennt sich der Zusammenschluss "Drei-Meere-Initiative" und reicht vom Baltikum bis nach Kroatien am Mittelmeer und Bulgarien und Rumänien am Schwarzen Meer. An den Küsten wurden mit EU-Unterstützung LNG-Häfen gebaut. Im Januar wurde der LNG-Hafen im kroatischen Krk eröffnet, der unmittelbar Fracking-Gas aus den USA abnahm. Die dortige Kapazität beträgt immerhin 2,6 Milliarden Kubikmeter pro Jahr, was aktuell dem gesamten kroatischen Verbrauch entspricht.

Kai Olaf Lang von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) sieht in dem "fortgesetzten und intensivierten Engagement der USA in dem Format" ganz klar geostrategisch geprägte Motive, Leitmotiv für die USA sei der globale Wettbewerb mit Russland und China. Die Drei-Meere-Initiative eröffne den USA neue Möglichkeiten, mit Staaten der Region bei wirtschaftlichen oder infrastrukturbezogenen Themen zusammenzuarbeiten.

Auf diese Weise könnten nicht nur bilaterale Kontakte, sondern auch die Kooperation in der Nato ausgebaut werden. Mit mehreren Ländern habe Washington Erklärungen zur Sicherheit von Telekommunikationsinfrastruktur unterzeichnet, die sich faktisch gegen den chinesischen Anbieter Huawei richten.

Die Bundesregierung hat inzwischen einen Beobachterstatus bei der Drei-Meere-Initiative. Heiko Maas durfte auf dem letzten Treffen Anfang Juli ein Videostatement halten, in dem er meinte, die Initiative sei ein strategisches Ziel, weil "Europa dadurch stärker, einiger und wettbewerbsfähiger wird".

Klar ist allerdings spätestens seit der Regierung Donald Trump, dass die USA gemeinsam mit der polnischen nationalkonservativen Regierung hier eine intensive Paralleldiplomatie innerhalb der EU betreiben, die sich vor allem aus polnischer Perspektive nicht zuletzt gegen Deutschland richtet.

Nachdrückliche Unterstützung für die Drei-Meere-Initiative

In ihrer aktuellen Erklärung betonen Angela Merkel und Joe Biden "ihre nachdrückliche Unterstützung für die Drei-Meere-Initiative". Deutschland verpflichte sich, deren Projekte in den Bereichen regionale Energiesicherheit und erneuerbare Energien finanziell zu unterstützen.

Außerdem werde sich die Bundesregierung dafür einsetzen, dass von 2021 bis 2027 bis zu 1,77 Milliarden US-Dollar aus dem EU-Haushalt in diese Projekte fließe. Zusätzlich wollen Deutschland und die USA einen "Grünen Fonds" für die Ukraine auflegen, der mit mindestens einer Milliarde Dollar ausgestattet wird.

Abgesehen von diesem doch beträchtlichen Schmerzensgeld läuft die Erklärung darauf hinaus, dass sich Angela Merkel und Joe Biden darauf einigten, dass beide Seiten jeweils ihr Projekt weiterführen.

Deutschland erhält die Nord-Stream-Erweiterung und nimmt es dafür hin, dass die US-Regierung ihre energiepolitische Parallelpolitik in der Region zwischen Westeuropa und der Russischen Föderation vorantreibt, die auch darauf hinausläuft, dort die Nachfrage nach russischer Energie zu reduzieren, wie es in der Erklärung heißt. Ob dies tatsächlich, wie jetzt angedeutet, eine klimapolitisch notwendige Umstellung auf erneuerbare Energien in Gang setzt, bleibt erst einmal abzuwarten.

Mit den beiden Nord Stream-Strängen können jährlich etwa 110 Milliarden Kubikmeter Erdgas nach Mitteleuropa kommen. Im Jahr 2020 belief sich der gesamte Verbrauch der EU-Staaten auf rund 380 Milliarden Kubikmeter. Zusammen mit Blue Stream und den älteren Pipelines haben die russischen Unternehmen also langfristig einen sehr starken Einfluss auf die Preise im europäischen Gasmarkt, mit dem sie die deutlich teureren und klimaschädlicheren LNG-Angebote aus Übersee vom Markt drücken könnten.

Falls der Gasverbrauch innerhalb der EU wie allseits erwartet weiter sinkt, kann sich ein großer Teil der aktuell 36 LNG-Terminals als Investitionsruinen erweisen. Andererseits werden niedrige Gaspreise natürlich nicht dazu beitragen, den Umbau zu regenerativen Energien zu beschleunigen.

Allerdings unterliegt der Energiemarkt vor allem politischen Gesetzmäßigkeiten. Wie bisher auch, braucht es politischen Druck, um die Energiewende durchzusetzen. Aktivisten aus der Klimabewegung haben die Frage der Methanemissionen und die Rolle von Erdgas zunehmend erkannt.

Am kommenden Wochenende vom 29. Juli bis 2. August mobilisiert die Initiative Ende Gelände zum Standort des geplanten LNG-Terminals in Brunsbüttel. Unter Verweis auf eine aktuelle Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaft erklären die Aktivisten, dass Methan über einen Zeitraum von 20 Jahren 87-mal so klimaschädlich ist wie CO2.

Zu den geplanten LNG-Terminals heißt es, dass es "keine energiewirtschaftliche Notwendigkeit für den Ausbau der Importinfrastruktur" gibt. Sie kündigen Aktionen im ChemCoast-Park bei Brunsbüttel und in Hamburg an.