Nord-Stream-Pipelines: Es entweicht kein Gas mehr

Forscher warnen vor erheblichen ökologischen Folgen der Explosion. Die Suche nach den Verantwortlichen geht weiter, westliche Medien legen sich bereits auf einen Täter fest.

In einer Hinsicht hat sich die Lage an den beschädigten Nord-Stream-Pipelines beruhigt: Es tritt kein Gas mehr aus. Zumindest bei Nord Stream 2 soll der Austritt komplett gestoppt sein, hatte die Betreiberfirma am Samstag mitgeteilt.

Der Druck in der Gasleitung sei mittlerweile auf das gleiche Niveau wie der Wasserdruck entfallen, sagte Ulrich Lissek, Sprecher der Betreiberfirma, am Samstag der Nachrichtenagentur AFP. Durch den Wasserdruck sei die Rohrleitung "mehr oder weniger verschlossen, sodass das Gas im Inneren nicht entweichen kann".

Bei Nord Stream 1 ist der Austritt von Erdgas zwar nicht gestoppt – aber verringert. Am Freitag schrumpfte die Gasblase an der Meeresoberfläche auf einen Durchmesser von etwa 600 Metern. Zuvor lag er bei etwa einem Kilometer.

Wie viel Gas bislang ausgetreten und wie viel noch in den Leitungen ist, lässt sich nicht genau sagen. Die riesigen Mengen Methan, die freigesetzt wurden, lösen unter Forschern große Besorgnis aus.

Einmal, weil Methan ein stärkeres Treibhausgas ist als Kohlendioxid. Laut Umweltbundesamt wirkt es etwa 25-mal so stark. Dagegen sprachen Forscher kürzlich von einer rund 82-fachen Klimawirksamkeit. Dass es mit 12,4 Jahren wesentlich kürzer in der Atmosphäre verbleibt als CO₂, beruhigt die Wissenschaftler nicht.

Ein anderer Grund: Erdgas enthält neben Methan auch andere Spurengase, wie Benzol. Sie können in der Tier- und Pflanzenwelt der Ostsee erhebliche Schäden verursachen, auch die Gesundheit der Menschen kann beeinträchtigt werden. Die Gesamtschäden lassen sich nicht leicht abschätzen, erklärten Wissenschaftler gegenüber AFP.

Es ist aber davon auszugehen, dass sich das krebserregende Benzol in Fischen und maritimen Ökosystem anreichen wird – und eines Tages auch den Weg auf die Teller der Menschen finden wird.

Unsicherheit besteht auch deshalb, weil nicht klar ist, wie viel Methan tatsächlich in die Atmosphäre gelangt und wie viel vom Meerwasser aufgenommen wird. Hier gehen die Meinungen der Wissenschaftler und Behörden auseinander.

US-Forscher schätzen, dass zwischen 50 Prozent und fast 100 Prozent des Methans in die Atmosphäre gelangen wird. Die dänische Regierung geht davon aus, dass die komplette Menge die Luft erreichen wird. Deutsche Behörden gingen am Donnerstag von einer etwas geringeren Menge aus.

Die Suche nach den Verantwortlichen

Wer für die Explosionen verantwortlich ist, ist noch immer nicht geklärt und ist Gegenstand zahlreicher Spekulationen. Russland und westliche Länder schieben einander die Verantwortung zu.

Klar sind vor allem nur zwei Dinge: Die Gasleitungen wurden beschädigt und das geschah durch eine gewaltige Explosion. Laut einem dänisch-schwedischen Bericht für den UN-Sicherheitsrat wurden die Lecks durch Explosionen mit einer Sprengkraft wie "hunderte Kilo" Sprengstoff verursacht.

Näheres will die Bundesregierung klären lassen und kündigte eine gemeinsame Untersuchung mit Dänemark und Schweden an. "Mit meinen Amtskollegen ist vereinbart: Wir wollen jetzt ein Joint Investigation Team bilden – eine gemeinsame Ermittlungsgruppe nach EU-Recht, in die alle drei Staaten Ermittler entsenden", hatte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) der Bild am Sonntag (BamS) gesagt.

Doch noch bevor diese Ermittlungen begonnen und zu einem Ergebnis geführt haben, wird die Schuldfrage in den Medien diskutiert. Und der vermeintlich Schuldige ist schnell gefunden: Russland.

Eine große Mehrheit von Experten halte "eine Beteiligung Russlands für die naheliegendste Option", berichtete das ZDF. Anderen Vermutungen wird im selben Atemzug das Etikett "russische Propaganda" oder "Verschwörungsideologie" angeheftet.

Teile des Internets und die russische Propaganda entwerfen jedoch ein alternatives Szenario: die USA könnten dahinterstecken. Und diese Theorie verfängt. Verschwörungsideologische Alternativmedien, der Fox-News-Journalist Tucker Carlson, individuelle Politiker der AfD und Linken und Ex-Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen - sie alle suggerieren mehr oder weniger offen Beteiligung oder Mitwisserschaft von USA und Nato.

ZDF, 01.10.2022

Ein Land zum Schuldigen erklären, bevor es überhaupt eine Untersuchung gab, wird in anderen Weltregionen nicht gutgeheißen. Song Zhongping, chinesischer Militärexperte, sagte der Zeitung Global Times: "Wenn eine Untersuchung von der Politik als Geisel genommen wird, kann die Wahrheit verborgen bleiben".

Song bezog sich in seiner Kritik darauf, dass sich die russische und die US-amerikanische Regierung auf höchster Ebene gegenseitig für die Sabotage der Nord-Stream-Pipelines verantwortlich machen. Und wenn für die Politik gelten soll, die Ergebnisse der Untersuchung abzuwarten, dann sollte das auch für die Medien gelten.