Nordirak: Referendum für kurdischen Staat unter schlechten Vorzeichen

Erbil (auch: Arbil, Hewlêr), Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistan im Irak. Bild: Myararat83 / CC BY-SA 3.0

Gegenwind kommt aus vielen Staaten: Aus der Türkei, aus Iran, dem Irak, aus Syrien und auch aus Deutschland

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Der 25. September 2017 könnte zu einem wichtigen Datum in der Geschichte des kurdischen Volkes werden. Der (nicht mehr offiziell legitimierte) Präsident der Autonomieregion Irakisch-Kurdistans (KRG), Massoud Barzani, ruft zum Referendum für einen kurdischen Staat auf.

Viele Kurden und Kurdinnen sehen darin die Chance, einen unabhängigen kurdischen Staat Realität werden zu lassen. Doch die internationale und nationale Diplomatie steht dem Ansinnen skeptisch bis ablehnend gegenüber. Keine guten Vorzeichen für ein - im Prinzip berechtigtes - Anliegen. Viele Fragen müssten im Vorfeld des Referendums geklärt werden, damit die kurdische Bevölkerung und die internationale Politik weiß, mit wem und womit sie es künftig zu tun haben wird.

Kurden sind das größte Volk der Erde ohne Staat

Nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches und nach dem Ersten Weltkrieg wurde den Kurden von den Siegermächten ein eigener Staat versprochen. Die Pläne landeten aber schnell wieder in der Schublade. Spätere Aktivitäten für einen kurdischen Staat in den vier Ländern mit kurdischer Urbevölkerung - der Türkei, Irak, Syrien und Iran - scheiterten meist blutig. Mit dem erneuten Vorstoß riskiert Barzani neue Konflikte in der krisengeschüttelten Region.

Auch innerhalb der kurdischen Bevölkerung hat Barzani als Stammesfürst nicht nur Befürworter. Um die Gemengelage zu verstehen, muss man wissen, dass vor allem im Irak die kurdischen Stammesfürsten das Sagen haben. Der Barzani-Clan hat im Nordirak das Sagen. Alle wichtigen Ämter in der KRG sind von Stammesmitgliedern besetzt. Im Süden, an der Grenze zu Iran, hat der zweite wichtige Clan der Talabani den Hut auf.

Dann gibt es noch kurdische Oppositionelle, die sich eher den politischen Richtungen verschrieben haben, wie z.B. die Anhänger der Gorran-Partei. Teile der Eziden (Jesiden) fühlen sich als verfolgte religiöse Minderheit von keinem der Beteiligten repräsentiert und riefen am vergangenen Wochenende die demokratische Autonomieregion Shengal aus, die sich am Modell der Nordsyrischen Demokratischen Föderation (vormals Rojava genannt) orientiert.

Angesichts der vielen Versprechungen verschiedenster Regierungen in den letzten 100 Jahren, die letztendlich Schall und Rauch waren, ist der Wunsch nach einem eigenen Staat durchaus berechtigt und muss ernst genommen werden. In der Diaspora in Europa wird das Referendum auch von vielen kurdischen Organisationen aktiv unterstützt und beworben. In der KRG kann sich Barzani einer satten Mehrheit sicher sein, obwohl viele Bürger und Bürgerinnen das Ansinnen kritisch hinterfragen.

Das Gefühl der Zusammengehörigkeit

Dabei wird nicht die Unabhängigkeit an sich hinterfragt. Dazu hat die Bevölkerung im Nordirak schon im Jahr 2005 bei einer Volksbefragung klar Position bezogen. An dem damaligen Referendum nahmen zwei Millionen Menschen teil, die mit 98,98 % für eine Unabhängigkeit stimmten. Wichtig für uns Europäer ist zu wissen, dass viele Kurdinnen und Kurden sich in erster Linie emotional mit ihrem Volk verbunden fühlen.

Das geht über politische Differenzen hinaus - mit Ausnahme der sunnitischen islamistischen Kurden von z.B. Hüda Par in der Türkei oder den Roj-Peschmergas in Syrien und Irak, die gegen ihre kurdischen Brüder und Schwestern auch militärisch vorgehen.

Die Kurden in allen vier Ländern empfinden sich mit Recht als unterdrücktes Volk ohne Chancen auf Anerkennung ihrer Kultur und Sprache, ohne Würdigung und Bewahrung ihrer Kulturdenkmäler. Das macht die Diskussion und kritische Fragen sehr schwer. Fragen, wie so ein Staat aussehen soll, werden vom Tisch gewischt mit dem Argument, "wir brauchen erst mal einen Staat, und dann sehen wir weiter".

Viele offene Fragen im Vorfeld des Referendums

Betrachtet man das Anliegen der kurdischen Bevölkerung wohlwollend, stellt sich die Frage, ob es sinnvoll ist, einen neuen Zentralstaat zu schaffen. Denn das ist das Ziel Barzanis. Für wen steht so ein Staat, wenn die kurdische Bevölkerung über 4 Länder verteilt lebt und alles andere als homogen - weder politisch noch religiös oder kulturell - ist?

Müsste nicht vor dem Referendum zuerst ein neues Parlament und ein neuer Präsident gewählt werden, das dem Referendum dann auch eine Legitimität verleihen würde?

Barzani fungiert seit 2005 als Präsident der KRG, obwohl seine Amtszeit bereits 2015 abgelaufen ist. Ohne offizielle Legitimation leitete er nicht nur das neue Referendum ein, er gab auch bekannt, dass am 6. November Präsidentschafts- und Parlamentswahlen stattfinden werden.

Die Entscheidung für das Referendum wurde nicht vom Parlament festgelegt, wie es in einem Rechtsstaat üblich ist, sondern bei einem Treffen von Politbüromitgliedern verschiedener Parteien. Das Parlament tagt seit 2 Jahren wegen politischer Differenzen mit der führenden KDP von Barzani nicht mehr.

Weitere Fragen, die vor dem Referendum geklärt werden müssten, lauten: Wie sehen die Rechte und der Schutz der Minderheiten (Christen, Eziden, Shabak und andere Minderheiten) aus? Wie wird die sunnitisch arabische Bevölkerung in einen kurdischen Staat eingebunden? In welcher Beziehung steht ein kurdischer Staat auf irakischem Gebiet zu seinen kurdischen Brüdern und Schwestern in den anderen Ländern?

Welche Stellung hat die Opposition und wie kann die uneingeschränkte Arbeit der verschiedenen NGOs in den Bereichen Ökologie, Gleichstellung der Frauen, Menschenrechte etc. gewährleistet werden?

Will man verhindern, dass ein "kurdischer Erdogan" mit seinem Netzwerk eine ähnliche Entwicklung nimmt, wie sie gegenwärtig in der Türkei zu beobachten ist, müssen solche Fragen von den Initiatoren und Unterstützern des Referendums beantwortet werden. Schon heute ist die demokratische Opposition erheblichen Repressionen ausgesetzt.

Ablehnung nicht nur von der Türkei

Die Türkei ist der vehementeste Gegner. Und das, obwohl Erdogan und Barzani, die KDP und die AKP politisch nicht weit auseinander liegen.

Wirtschaftlich ist die irakische Autonomieregion (KRG) für die Türkei wichtig, denn die KRG bezieht nahezu alles aus der Türkei. Selbst das Trinkwasser in Flaschen kommt aus der Türkei. Da in der KRG nichts produziert wird, ist sie von der Türkei komplett abhängig.

Ein Embargo seitens der Türkei würde das gesamte Gebilde der KRG zum Einsturz bringen. Der türkische Energieminister Berat Albayrak warnte Mitte August, das Referendum würde für die KRG direkte Konsequenzen in der Zusammenarbeit auf dem Energiesektor haben. "Der Nord-Irak weiß, dass der einzige regionale Verbündete die Türkei ist", sagte Albayrak.

Die politische Unterstützung aus Ankara für Barzani war stets strategischer Natur. Die KRG war für Ankara der Garant, dass die Macht der irakischen Zentralregierung nicht zu groß wurde. Heute mutet es scheinheilig an, wenn der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu am Mittwoch vergangener Woche dem Fernsehsender TRT Haber erklärt, das Referendum könnte zu einem Bürgerkrieg im Irak führen. Schließlich ist die Türkei selbst einer der Akteure, die im Irak die Konflikte mit anheizen.

Erinnert sei an die Forderung der Türkei, bei der Rückeroberung von Mossul beteiligt zu werden und die damit verbundene Stationierung türkischer Soldaten im Nordirak - gegen den Willen der irakischen Regierung. Ein unabhängiger Kurdenstaat stand für die Türkei nie zur Debatte.

Ablehnung in Iran

Iran lehnt die Unabhängigkeitsbestrebungen ebenfalls ab. Diese Woche empfing Erdogan erstmals seit der Islamischen Revolution 1979 Irans Armeechef Mohammad Bagheri mit neun weiteren Generälen in seinem Palast in Ankara. Eigentlich sind sich Iran und die Türkei spinnefeind. Moslembruder Erdogan mag die Schiiten nicht. Weder im Iran noch im Irak.

Doch der gemeinsame Feind, die Kurden, lässt die beiden Kontrahenten im Buhlen um Macht und Einfluss im Nahen Osten näher zusammenrücken. Nach den Gesprächen in Ankara erklärte Bagheri, Iran und Türkei seien sich einig, dass das Referendum über eine Unabhängigkeit der KRG der Sicherheit in der Region schaden würde. Im iranischen Staatsfernsehen sagte er dem Irak eine neue Welle der Spannungen und Konflikte voraus.

Dabei hat Irans Armeechef, wie Erdogan auch, die iranischen Kurden im Auge. Auch der Iran befürchtet, dass ein Kurdenstaat in unmittelbarer Nachbarschaft Einfluss auf die Kurden im Iran haben könnte. Die iranische Regierung unterdrückt die kurdische Minderheit mit martialischen Methoden. Hinrichtungen kurdischer Oppositioneller häufen sich in jüngster Zeit.

Besonders betroffen ist die iranisch-kurdische PJAK (Partei für ein freies Leben in Kurdistan), die ideologisch der PKK nahe steht und sich ebenfalls für eine demokratische Selbstverwaltung einsetzt. Um zu verhindern, dass sich PKK-Kämpfer oder Schmuggler über die türkisch-iranische Grenze bewegen, lässt die Türkei gerade eine 680 Kilometer lange Mauer bauen. Teheran begrüßte dies als Beitrag zur Erhöhung der Sicherheit.

Bagdads Befürchtungen

Die irakische Regierung lehnt das Referendum ebenfalls ab. Bagdad befürchtet, dass Barzani das Referendum als Druckmittel benutzen wird, um von Bagdad mehr Zugeständnisse zu bekommen, vor allem in der Frage der Kontrolle über die umstrittenen Gebiete, die kurdisch besiedelt sind, aber nicht unter KRG-Verwaltung stehen - darunter Shengal und Kirkuk. Die Turkmenen wollen nach einer Meldung der Nachrichtenagentur Rudaw das Referendum boykottieren, da sie insbesondere Kirkuk als turkmenische Stadt betrachten.

Des Weiteren fürchtet Bagdad Forderungen aus Erbil nach weiteren Öleinnahmen. Die Autonomieregion steckt wirtschaftlich in einer tiefen Krise, die nicht zuletzt dem Ölpreisverfall geschuldet ist.

USA: Tillerson für Verschiebung

Die USA stehen dem Referendum skeptisch gegenüber. US-Außenminister Rex Tillerson gab zu bedenken, dass das Referendum zum gegenwärtigen Zeitpunkt vom Kampf gegen den IS ablenken könnte. Tillerson bat in einem Telefonat mit Barzani, das für den 25. September geplante Referendum zu verschieben. Probleme zwischen der KRG und Bagdad sollten besser im Dialog gelöst werden.

Barzani verlangte für den Fall einer Verschiebung "Garantien und Alternativen für die Zukunft der Kurden". Sich offen gegen das Referendum zu positionieren, dürfte für die USA schwierig sein, da sie sich bislang als Schutzmacht der irakischen Kurden begriff. Andererseits wollen sie ihren Konflikt um Einfluss in Nordsyrien mit der Erdogan-Türkei nicht noch ausweiten. Dort unterstützen die USA die kurdischen Einheiten YPG/YPJ der SDF (Syrian Democratic Forces) der nordsyrischen demokratischen Föderation.

Gabriel: "Nicht der richtige Weg"

Deutschland lehnt das geplante Referendum ebenfalls ab. Bundesaußenminister Gabriel warnte vor einem solchen Schritt: "Die Einheit des Irak infrage zu stellen, ja sogar Staatsgrenzen neu ziehen zu wollen, ist nicht der richtige Weg und kann eine ohnehin schwierige und instabile Lage nur verschärfen, in Erbil genauso wie in Bagdad." (vgl. Wem nützt ein kurdischer Nationalstaat)

Sorgen in Damaskus

Die syrische Regierung betrachtet die kurdischen Bestrebungen im Nordirak mit Sorge und lehnt die Unabhängigkeitspläne ebenfalls ab. Zwar lehnen die syrischen Kurden einen kurdischen Nationalstaat auf syrischem Territorium ab, trotzdem bereitet Assad die Nordsyrische Demokratische Föderation einiges an Kopfzerbrechen. Er befürchtet, dass die Forderungen nach Autonomie und einem föderativen Modell für Syrien auch in anderen Teilen Syriens Sympathisanten finden könnten.

Israel: Für ein unabhängiges Kurdistan

Israel hat sich dagegen für ein unabhängiges Kurdistan ausgesprochen. Israels Interesse liegt dabei in der Schwächung der arabischen Zentralstaaten. Möglichst viele kleine Staaten sind besser in Schach zu halten als mächtige Zentralstaaten wie bspw. Iran. Wenn der Einfluss der schiitischen Regierung im Irak geschmälert wird, ist dies im Interesse Israels.

Israel unterhält schon seit den 1960er Jahren Beziehungen zur Barzani-Familie. In den letzten Jahren intensivierten sich die Kontakte stetig. Schon 2014 soll der ehemalige Ministerpräsident Netanjahu gesagt haben, Israel würde einen unabhängigen Kurdenstaat im Nordirak sofort anerkennen.

Fazit

Grundsätzlich ist eine kurdische Unabhängigkeit im Nordirak zu befürworten. Dazu gehört auch eine unabhängige Ökonomie. Ein unabhängiger kurdischer Staat benötigt dazu allerdings ein Mindestmaß an Selbstversorgung. Eine Ökonomie, die nur auf Öl-Dollars und Importen beruht, wird in Klientelismus und Korruption versinken - wie dies gegenwärtig bereits der Fall ist.

Grundpfeiler eines unabhängigen Staates müssen Demokratie, Rechtstaatlichkeit und Freiheit sein. Solange die kurdische Führung einzelne Familienmitglieder finanziell und mit Ämtern begünstigt, meint Michael Rubin vom amerikanischen Thinktank AEI, werde man eine historische Chance vertun und letztendlich als "failed state" enden.

In den USA würde man auch keine Hoffnung auf Besserung durch den Sohn Barzanis, Masrour Barzani sehen. Menschenrechtsorganisationen werfen dem Geheimdienstchef Masrour Barzani vor, für zahlreiche Menschenrechtsverletzungen verantwortlich zu sein.