Nordirak: Türkei nur in der zweiten Reihe?

US-Army, "Mosul-Offensive", Oktober 2016. Bild. US-Army/gemeinfrei

Umwege in der Intervention sind angesagt. "Im Notfall werden wir Maßnahmen ergreifen", kündigt Ministerpräsident Binali Yildirim an

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Die Offensive auf Mosul läuft. Nach offiziellen Angaben sind während der ersten fünf Tage 75 Dörfer befreit und 772 Kämpfer des sogenannten IS getötet worden. Mosul stellt eine für alle Regionalmächte bedeutende Stadt dar. So auch für die Türkei. Wie in Nordsyrien möchte Erdogan auch im Nordirak sein Territorium ausweiten, ganz im Sinne seines neo-osmanischen Projektes. Im Unterschied zu Syriens Regierung ist es der irakischen Regierung jedoch gelungen, die Türkei bei der Rückeroberung Mosuls und der Region Shengal in die zweite Reihe zu beordern.

Der irakische Präsident Al Abadi bedankte sich für das Angebot Erdogans, die Eroberung Mosuls mit aktiv zu unterstützen, lehnte dies jedoch nach einem Gespräch mit US-Verteidigungsminister Carter ab. Erdogan ist erbost. Schließlich betrachtet er irakisches Gebiet von Mosul bis nach Kirkuk als potentielles türkisches (Einfluss-)Gebiet - im Geiste des osmanischen Reiches. Dass er sein Land ins politische Abseits bugsiert, scheint er ob seines Größenwahns und seiner Kurdenphobie nicht wahrzunehmen.

Der Einmarsch türkischer Truppen im Verbund mit islamistischen Milizen ins syrische Jarablus Ende August sollte der Auftakt sein, um die türkische Einflusssphäre auszudehnen. Ilham Ahmed, die Kovorsitzende des Demokratischen Rates Syriens erklärte, dass Erdogans Ziele nicht nur auf Syrien beschränkt sind. "Er will die gesamte Region zwischen Aleppo und Mosul sowie Mosul selbst."

Dieses Ziel formulieren regierungsnahe Medien in der Türkei ganz offen: "Eine türkische Teilnahme an der Militäroperation würde 'einen frischen Wind nicht nur nach Mosul, sondern in die gesamte Gegend bringen", kommentierte Mahmut Övür in Daily Sabah", zitiert die Junge Welt.

Permanente Erfolgsmeldungen

Kurz vor Beginn der Offensive log sich dann auch der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim die Realität zu recht. Auf der Fraktionssitzung der islamisch-konservativen AKP sagte er: "Unsere Luftwaffe hat sich im Rahmen der Koalitionskräfte außerdem an den Luftschlägen beteiligt. Die, die sagen, die Türkei habe in Mosul nichts verloren, haben ihre Antwort erhalten."

Davon wusste aber offensichtlich außer Yildirim niemand etwas, so dass er auf Nachfrage zurückrudern musste. Auf die Frage, ob türkische Kampfflugzeuge an der Operation beteiligt seien, antwortete er:

Wenn es notwendig ist, werden sie das ohnehin sein. Es gibt ein Abkommen, wonach sie prinzipiell an der Koalition beteiligt sind.

Binali Yildirim

Immer wieder vermeldet die Türkei eine Beteiligung im Einsatz auf Mosul. Aufgrund der Dementi von allen anderen Beteiligten bleibt der Wahrheitsgehalt solcher Behauptungen allerdings begrenzt. Möglicherweise sind diese Behauptungen auch vor allem nach Innen gerichtet, die Regierung möchte der Bevölkerung wie im Krieg gegen die kurdische Opposition sich selbst durch permanente Erfolgsmeldungen stark präsentieren - egal ob die Realität anders aussieht.

Große Teile der Bevölkerung der Türkei bekommen keine anderen Nachrichten mehr als diejenigen der Agenturen der Regierung, da alle oppositionellen Sender und Zeitungen mittlerweile entweder verboten oder unter Regierungskontrolle gestellt wurden.

US-Verteidigungsminister Ashton Carter stellte bei seinem Überraschungsbesuch in Bagdad allerdings klar, die Entscheidung, wer an der Mosul-Offensive teilnehmen soll, obliege der irakischen Regierung. Ähnlich wie in Syrien ist auch im Irak der Machtkampf zwischen dem türkisch-sunnitischen Block und dem iranisch-schiitischen Block eine wichtige Dimension des Konflikts.

"Die türkischen Soldaten werden in der Region bleiben"

Die irakische Regierung hat mehrmals deutlich gemacht, dass das türkische Militär nichts in der Region verloren hat. Der Aufenthalt der türkischen NATO Armee ist also völkerrechtswidrig und provoziert einen Krieg. Nuri Al Maliki, der Vorsitzende der gesetzgebenden Versammlung hat angekündigt, dass ein aktiver Militäreinsatz "die Türkei in eine Katastrophe stürzen" werde und auch weitere Vertreter der irakischen Regierung haben mit Krieg gedroht, wenn die Türkei ihren Einsatz fortsetze.

Binali Yildirim hat sich offen zum Bruch des Völkerrechts bekannt, indem er dem Irak die Souveränität aberkannte:

Soll die irakische Regierung sagen was sie will, soll Bagdad sagen was es will, die türkischen Soldaten werden (…) in der Region bleiben.

Binali Yildirim

Während die USA in Nordsyrien/Rojava der Türkei große Zugeständnisse gemacht haben, versuchen sie im Irak den Machteinfluss der Türkei zu begrenzen. Die beteiligten Armeen sind vom Süden aus die irakische Armee, vom Osten aus die Peschmerga, vom Norden die Peschmerga. Die HPG (PKK) und die YPG sind an dem Einsatz bisher zumindest offiziell nicht beteiligt - allerdings verteidigt die HPG Kirkuk und ist gemeinsam mit der ezidischen YBS am Schutz des Shengal Gebietes beteiligt.

Die PKK ist auch vertreten

Die PKK fordert insbesondere, dass die ezidischen Kräfte der YBS ein Recht haben, an der Befreiung Mosuls mitzuwirken, dass aber auch die HPG mitwirken können. Dass die Volksverteidigungseinheiten HPG mit offizieller Unterstützung der irakischen Regierung in Kirkuk am Kampf gegen den IS beteiligt sind, ist eine Ohrfeige für Erdogan, der seit Jahren rechtswidrig in nordirakisches Territorium mit Kampfjets eindringt und PKK-Stellungen im nordirakischen Kandil-Gebirge bombardieren lässt.

Die Guerilla ist in Kirkuk. Sie kamen nach Kirkuk und befinden sich seitdem in Stützpunkten und Stellungen und dies auf Erbitten des Gouverneurs von Kirkuk, Necmettin Kerim, sie halfen und helfen den Peshmerga im Kampf gegen den IS.

Westa Resul, Frontkommandant der Peshmerga

Der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim behauptet nun entgegen anderer Meldungen, dass die USA und die irakische Regierung der türkischen Regierung zugesagt haben, dass weder die schiitische Volkswehr, noch die PKK an der Offensive teilnehmen werden. Dies berichtet jedenfalls die deutsch-russische, regierungsnahe Nachrichtenagentur sputniknews. Die Türkei hält demnach weiter am Plan fest, ebenfalls eine entscheidende Rolle in Mosul zu spielen:

Im Notfall werden wir Maßnahmen ergreifen. Wir sind dazu bereit, da die Versprechungen der USA und des Irak, dass die schiitische Volkswehr und die Arbeiterpartei Kurdistans nicht an der Militäroperation in Mosul teilnehmen werden, uns nicht zufriedenstellen.

Binali Yildirim, türkischer Ministerpräsident

Die Türkei behauptet weiterhin, sich an Angriffen auf den IS in Mosul effektiv zu beteiligen. Wie die Süddeutsche Zeitung unter Berufung auf ANF schreibt, hätten die Peschmerga der KDP die Türkei zum Eingreifen gebeten, während die KDP dies dementiert.

Erdogan und die Kontrolle von Mosul durch Barzani

ANF will beobachtet haben, wie IS-Stellungen vom türkischen Trainingslager aus beschossen wurden. Damit würde die KDP erneut ihr Bündnis mit der AKP-Regierung der Türkei deutlich machen und zeigen, dass Barzani die Unabhängigkeit Südkurdistans vom Irak auf der Basis einer Abhängigkeit zur Türkei zu errichten sucht.

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Barzani zuvor ein Dekret erlassen hat, dass im Zusammenhang mit der Befreiung Mosuls nur der Name der "Peschmerga" fallen dürfe. Dies weckt den Verdacht, dass für Erdogan die Kontrolle von Mosul durch Barzani durchaus interessant sein könnte, da die Stadt damit quasi zum türkischen Klientelbereich gehören würde.

Verwaltungstechnisch erinnert dies an die relative Unabhängigkeit der Provinzen des osmanischen Reiches.

Erdogans Plan B und C

Mit der 2. Reihe gibt sich Reis (Sultan) Erdogan, wie er von seinen Anhängern genannt wird, nicht zufrieden:

Sie sagen, wir sollten uns aus Mosul heraushalten. Warum sollten wir? Wir haben eine 350 Kilometer lange Grenze mit dem Irak.

Erdogan

Umwege in der Intervention sind angesagt. Was genau Erdogan mit Plan B und C im Schilde führt, kann man nur mutmaßen. Da wäre der Angriff des IS am Wochenende auf Kirkuk zu nennen. Offenbar hatte der IS in der kurdischen Stadt, 200 km südlich von Mosul, Schläferzellen, die als Ablenkungsmanöver bei der Mosul-Offensive dienen sollten. Nun kam durch die Aussage eines gefangen genommenen IS-Kämpfers heraus, dass die Türkei an diesen Operationen offensichtlich beteiligt ist. Nach einer Nachricht von ANF wurde der gefangen genommene IS-Kämpfer von einem türkischen Hubschrauber in die irakische Stadt Kirkuk verbracht.

Neben dem Kampf gegen die Arbeiterpartei Kurdistans, PKK, die ihr Hauptquartier im Nordirak hat, versucht die türkische Regierung den Einfluss der irakischen Regierung, die mehrheitlich schiitisch geprägt ist, im Nordirak zu verhindern. Die Regierung in Ankara befürchtet, dass Mosul mit seiner mehrheitlich sunnitischen Bevölkerung nach einer Befreiung vom IS schiitisch werden könnte. Dies sei die eigentliche Intention, warum die Türkei bei der Mosul-Offensive gerne mitmischen möchte.

Erdogan behauptete, es gäbe von der irakischen Regierung Bemühungen, die demografische Zusammensetzung von Mosul zu verändern. Die Türkei werde alles tun, das zu verhindern. Anfang Oktober hatte Erdogan öffentlich gesagt, nach einer Befreiung Mosuls dürften dort nur sunnitische Araber, Turkmenen und sunnitische Kurden leben - ein Affront gegen den Irak, in dem mehrheitlich Schiiten leben.

Bemühungen, die demographische Zusammensetzung in sensiblen Regionen zu verändern, kann sich Erdogan selbst ans Revers heften. Denn nichts anderes passiert im Moment im Südosten der Türkei mit der Vertreibung der Kurden durch die Zerstörung ihrer Städte und Dörfer. Oder in Nordsyrien durch die Festsetzung von FSA-Stämmen in Jarablus und Umgebung. Die irakische Regierung stellte indes unlängst in Aussicht, dass in der Niniveh-Shengal-Region eine autonome Region, ähnlich wie die Kurdische Autonome Region im Nordirak denkbar sei (Nordirak: Christen und Eziden fordern autonome Provinzen).

Größte christliche Stadt des Irak ist befreit

Auch christliche Milizen beteiligen sich an der Offensive auf Mosul. Auf Seiten der irakischen Armee beteiligen sich die christlichen Milizen der "Verteidigungseinheit Ninive" und die "Karakosch Schutzeinheit", an der Seite der Peschmerga kämpft die christlichen Miliz Dwekh Nawsha. Am 19. Oktober wurde Karakosch (al-Hamdaniya / Bakhdida) im Nordosten der Ninive-Ebene befreit.

Sie war einmal die größte christliche Stadt des Iraks, bis der IS sie im August 2014 überrollte. Vor der Eroberung durch den IS lebten 50.000 Menschen in der Stadt. Die Stadt liegt 15 km südöstlich von Mosul. Hunderte geflüchtete Christen aus der Stadt Karakosch feierten die Befreiung in einer Kirche in Erbil. Der ehemalige syrisch-katholische Bischof von Mosul, Georges Casmoussa, wagt einen Blick auf die Zeit nach der Befreiung der Ninive-Region:

Sobald die Rückeroberung zu Ende sein wird, wird dann die Diskussion losgehen, wer denn die gesamte Provinz regieren wird. Mit größter Wahrscheinlichkeit wird es nach den sozialen und politischen Umständen so sein, dass die Ninive-Region aufgespalten wird. Dieses Vorhaben stand nämlich schon vor der Ankunft des IS im Gespräch. Da gibt es auf der einen Seiten die sunnitischen Araber, auf der anderen Seite die turkmenische Gruppe und dann auch die Jesiden sowie die Christen.

Doch diese Aufteilung wird meiner Meinung nach sehr schmerzlich vonstatten gehen…Alle Minderheiten müssten in der ersten Phase aufpassen, nicht mit Rache auf den Nachbarn zuzugehen. Es ist Tatsache, dass es auf jeder Seite Sympathisanten und Kollaborateure des IS gab.

Es gab sicherlich den einen oder anderen, der eine Kirche zerstört hat oder ein Zuhause. Das ist nicht einfach, dann so zu tun, als ob nichts geschehen sei, aber es muss jedem garantiert werden, dass er unangetastet bleibt und sich die Justiz um diese Täter kümmern soll. Die Basis des friedlichen Zusammenlebens muss von der lokalen Bevölkerung ausgehen.

Georges Casmoussa

Shengal: Êzîdische Frauen errichten ersten Kontrollpunkt

Die Selbstverteidigungseinheiten der êzîdischen Frauen von Şengal (YJŞ) errichteten Mitte Oktober einen Kontrollpunkt an der Straße zwischen Xane Sore und Şengal, am Eingang zum Şengal-Gebirge. Dies berichtet Arin Şengali, Mitglied der YJŞ, die zur Einheit des Kontrollpunktes gehört. Für die Gesellschaft der Êzîden sei es etwas ganz Neues, von Frauen beschützt zu werden.

Denn auch diese religiöse Minderheit lebte vor dem Überfall des IS im August 2014 in streng patriarchalen Strukturen. Dies ändert sich gerade. Die grausamen Erfahrungen der Frauen, die vom IS gefangen genommen und versklavt wurden, haben dazu geführt, dass sich die Frauen nach dem Vorbild von Rojava selbst organisierten und eigene Strukturen, wie z. B. den êzîdischen Frauenrat schufen. Die ezidischen Selbstverteidigungseinheiten der YBS und YJS fordern eine Beteiligung an der Mosul Operation ein, sie erklären dazu:

Der Massenmord und Besatzungsversuch gegen unser Volk wurde von Mosul aus organisiert, unsere Menschen wurden dort umgebracht, wurden verbrannt und tausende Gefangene aus unserer Bevölkerung befinden sich dort. … Das Verwaltungssystem, das nach einer Eroberung von Mosul errichtet wird, betrifft uns direkt. An einem Ort, an dem es starke Widersprüche zwischen den Völkern und den Konfessionen gibt, kann ein System, das den Willen unseres ezidischen Volkes, seine Kultur und seinen Glauben nicht akzeptiert, nicht demokratisch sein und ein undemokratisches System werden wir nicht akzeptieren. Ein Mosul, indem es keine Kräfte gibt, die den Willen unserer Bevölkerung vertreten, kann auch unser Ezdisches Volk nicht repräsentieren.

ezidische Selbstverteidigungseinheiten

Zusammen mit der YPG/YPJ und der HPG versuchen sie, die IS-Kämpfer auf der Flucht an einem Eindringen in die Shengal-Region und Rojava zu hindern. Hediye Yusif, die Co-Vorsitzende des Rates der demokratischen Föderation von Rojava befürchtet, dass die IS-Kämpfer von Mosul Richtung Rojava und Shengal getrieben werden könnten: "The Mosul operation has begun from one side. In this situation the terror group is being pushed towards us. This is a great danger for Rojava and Sinjar. It seems that the coalition hasn't taken this into account. Daesh (ISIS) will most likely try to escape through this route in the coming days. Our forces will take the necessary action just like they did in the past. We will not wait for Daesh to attack us."

Unbegründet sind diese Befürchtungen nicht: Die der syrischen Regierung nahestehende Website Al-Masdar News berichtet, dass mehr als 9.000 Militante des Islamischen Staates aus Mosul in die Ostregion Syriens verlegt werden sollen, um eine Großoffensive auf Deir Essor und Palmyra durchzuführen. Gleichzeitig ist es hoch bedenklich, dass dem IS in Richtung Westen Fluchtwege offengelassen werden. So war schon vor der Offensive immer wieder auf die Gefahr hingewiesen worden, dass der IS dies zu Angriffen auf Rojava und Shengal nutzen könnte.

Nun bewahrheitete sich diese These. Am 24.10. griff der IS in fünf Kolonnen erneut die vom Genozid traumatisierte kurdisch-ezidische Region Shengal an. Es kommt zu schweren Gefechten, die immer noch andauern.

Auch Turkmenen wünschen sich eine autonome Provinz

Iraks Turkmenen möchten eine eigene autonome Province in der Region um Tal Afar, westlich von Mosul, im Zentrum der Ninive-Provinz nach dem Vorbild der Forderungen der Christen für die Nineve-Ebene und der Sindjar-Provinz der Êzîden. Die Turkmenen sind teilweise Sunniten und teilweise Schiiten. Sie sind nach den Arabern und Kurden die drittgrößte Volksgruppe im Irak, die laut den Daten des irakischen Ministeriums für Planung etwa 3 Millionen von insgesamt 34,7 Millionen ausmachen.

Währenddessen bereitet sich das belagerte Rojava auf mehr als 50.000 Flüchtlinge aus Mosul vor.