Nordirland und Großbritannien: Die Lage droht zu eskalieren
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Ein Vergeltungskonflikt, ein Kulturkonflikt, ein Souveränitätskonflikt, ein Brexit-Konflikt: Der Druck zur Veränderung ist enorm. Warum Scheiterhaufen brennen, wie Analogien zur Ukraine gesponnen werden und warum die EU handeln muss.
Seit einer Woche geht es wieder heiß her in Nordirland. Nicht unbedingt seitens der Politiker in dieser Gegend, die sich hier traditionell bekämpfen. Vielmehr hat es mit dem brenzligen Thema zu tun, inwieweit Nordirland zu Großbritannien zugehörig sein soll.
Der Konflikt ist ein Vergeltungskonflikt, ein Kulturkonflikt, ein Souveränitätskonflikt, ein Kolonialkonflikt, ein Brexit-Konflikt, ein Grenzkonflikt, ein Konfessionskonflikt, ein Wirtschaftskonflikt, ein Britannienkonflikt und nicht zuletzt ein irisch-irischer Konflikt.
Dieser Bericht handelt von einem Scheiterhaufen, auf dem am letzten Samstag ein Schiff und eine Fahne vom irischen Premierminister Leo Varadkar verbrannt wurde. Und er handelt vom 333. Jahrestag der Schlacht am Fluss Boyne, dem gewaltigsten Symbol für die Unterdrückung Irlands durch England.
Die Scheiterhaufen und die Missmutigen
In der Nacht des 11. Juli brennen in Nordirland jedes Jahr Hunderte Scheiterhaufen. Traditionell dient das Ritual dazu, radikalen Kräften im Land die Gelegenheit zu geben, ihren Missmut auszudrücken, ähnlich der Besänftigung von Hooligans durch Duldung ihrer homophoben Aktionen in deutschen Fußballstadien.
Dieser Missmut der Nordiren richtet sich gegen Katholiken, gegen wirtschaftliche Not im Allgemeinen, gegen die neuen Regeln moderner Kulturpolitik wie die gleichgeschlechtliche Ehe in Südirland, überhaupt gegen die ganze Wiedervereinigung Nordirlands mit der Republik Irland, und neuerdings auch gegen Einwanderer wie die große polnische Einwanderergemeinschaft.
Die Missmutigen sind gleichzeitig für den Verbleib Nordirlands im Vereinigten Königreich, was stark mit den Milliarden an Subventionsgeldern zu erklären ist, die Nordirland jedes Jahr aus London erhält. Erst kürzlich wieder bestärkte London 1,1 Millionen Nordiren, Nordirland bleibe im Vereinigten Königreich.
Wiedervereinigung und Bürgerkrieg
Der Druck, die Zustände zu ändern, ist enorm. In der Republik Irland ist ein Großteil der Bevölkerung für eine Wiedervereinigung Irlands, ebenso steigt der Anteil der Wiedervereinigungsbefürworter in Nordirland.
Im stark polarisierten Parlament von Nordirland hat die katholisch-stämmige Partei Sinn Féin mittlerweile die meisten Stimmen. Sinn Féin, der politische Arm der Irisch-Republikanischen Armee (IRA), will die Wiedervereinigung, selbst wenn sie dies nicht immer deutlich sagt.
Eine Wiedervereinigung beider Teile Irlands ist theoretisch auf zweierlei Wegen möglich. Entweder würde das kleinere Nordirland ins größere Südirland eingegliedert – das ist die allgemein diskutierte Version –, oder Südirland wird zusammen mit Nordirland ins Vereinigte Königreich eingegliedert.
Letztere ist eine undenkbare Version, denn sofort würde der Bürgerkrieg wieder aufflammen. Das Denkspiel verdeutlicht, wer den Druck macht.
Der Herr im Haus
Verlöre Großbritannien ihr Territorium Nordirland, wäre es nicht mehr das Vereinigte Königreich. Mit Sezessionsbestrebungen in Schottland und in diversen Ländern von verbündeten Commonwealth-Staaten bröckelt der Einfluss von London.
Nachdem die Iren vor ziemlich genau 100 Jahren in einem kurzen und heftigen Krieg ihre Unabhängigkeit von der britischen Krone erkämpft hatten, mussten die Briten 26 von 32 Countys gehen lassen.
Seit 1922 erfreut sich Südirland einer Selbstregierung, während Nordirland von London aus ferngesteuert wird. Jedes Mal, wenn das Regionalparlament in Belfast nicht arbeitsfähig ist, springt Westminster ein und übernimmt. So wie vor 333 Jahren, als König William III. nach Irland segelte, um hier aufzuräumen. Seine Verbündeten wiesen seinen Truppen durch Leuchtfeuer den Weg.
Am 12. Juli, also jedes Jahr ein Tag nach dem 11. Juli der großen Feuer, marschiert eine fünfstellige Zahl von Mitgliedern der Bruderschaften durch rund zwanzig Städte, um der siegreichen Schlacht des englischen Königs William III. zu gedenken.
Die meisten der Marschierenden sind in einer der über tausend Loyal Orange Lodges (LOL) organisiert, also in Loyalen Oranier-Logen. Die Bruderschaftler tragen die Farbe Orange, da der siegreiche Feldherr der Schlacht am Boyne, Willem bzw. William, aus dem Hause Oranien-Nassau stammte.
Lange vor dem Jahre 1690 hat England Irland spüren lassen, wer der Herr im Hause ist.
Die Ressentiments sitzen tief
Die Ressentiments sitzen tief, denn alte Wunden bekommen kaum Zeit zu heilen.
Als zum Beispiel vor vier Jahren auf einer Demonstration in der symbolträchtigen Stadt Derry mal wieder dem Osteraufstand von 1916 gedacht werden sollte, untersuchten Polizisten Demonstrationsteilnehmer auf Waffen und Munition. Es fielen Schüsse, die nebenbei die Journalistin Lyra McKee tödlich trafen.
Iren und Nordiren lassen sich ungern entwaffnen, Paramilitärs sind in Irland weitverbreitet. Eine beliebte Ballade singt: "Hinter Irland verbittert und militant, ist Irland poetisch, leidenschaftlich, erinnernd, idyllisch, fantasievoll, und immer patriotisch."
Analogie zur Ukraine
Das ist nun mal so – und es ergründet sich sehr stark aus dem Konflikt Irland gegen England. Eine Analogie ist der ewige Freiheitskampf der Ukraine gegen Russland. Viele Iren fühlen derzeit sehr intensiv für Ukrainer, schließlich habe man ebenso wie sie einen "großen Nachbar".
Wer heute in Großbritannien Urlaub macht, wird nur sehr selten irische Kraftfahrzeugschilder entdecken. Iren meiden in der Regel einen Besuch des Nachbars Großbritannien, es sei denn, sie arbeiten dort.
Überhaupt sind Arbeit und das Geld die traditionellen Hauptprobleme Irlands. Ähnlich wie in den Nahost-Konflikten wird die Religion nur vorgeschoben, wenn es um die typischen irischen Konflikte geht. Immer weniger Menschen auf der irischen Insel sind wirklich religiös.
Wer die Menschen in Belfast oder Derry fragt, warum sie denn im Vereinigten Königreich bleiben wollen, also gegen eine Wiedervereinigung sind, der hört nicht selten Antworten wie, man wolle nicht wie in Südirland jedes Mal 80 Euro zahlen müssen, wenn man zum Arzt geht.