Nordirland und Großbritannien: Die Lage droht zu eskalieren

Seite 2: Folgen des Brexit

Bei der Abstimmung zum Brexit votierte eine Mehrheit in Nordirland für den Verbleib in der Europäischen Union. Auch die Vertragsklausel im Brexitvertrag namens "Protokoll zu Irland/Nordirland", wurde von Nordiren unter der Prämisse bewertet, ob es ihnen eher Vorteile oder Nachteile bringt.

Gleiches gilt für das neuere Windsor-Abkommen aus diesem Jahr, welches das Nordirland-Protokoll verbessern wollte.

Wichtig war der Aspekt der Grenzen. Das Karfreitagsabkommen und das Protokoll bewirkten, dass die 500 Kilometer lange Grenze unsichtbar wurde. Die einzige Landgrenze, die es im Vereinigten Königreich gab, verschwand und mit ihr die Zollkontrollen.

Was den Wählern ihr Geld ist, ist den Politikern die Macht. Letztere umschleicht in Nordirland – vielleicht noch mehr als anderswo – die Angst des Machtverlustes. Nehmen wir einmal die Democratic Unionist Party (DUP). In London sitzen ihre Vertreter in Unterhaus und Oberhaus. Und im nordirischen Parlament stellen sie derzeit die zweitgrößte Fraktion.

Die DUP sieht sich als wichtigstes Sprachrohr zur Lösung der eingangs beschriebenen Konfliktlagen. Als nach Einführung des Nordirland-Protokolls an irischen Küsten Hafenkontrollen eingeführt wurden, wuchs der Papierkram, mehrere große britische Einzelhändler stellten darauf hin ihre Lieferungen nach Nordirland ein.

Folglich leerten sich zeitweise die ersten Supermarktregale, was zu gewaltsamen Protesten führte. Die DUP erkannte die Konsequenz. Nordirland war auf einmal vom Festland Großbritannien abgeschnitten. Das erklärt wohl die Verbrennung eines Schiffes auf dem Bonfire.

Die DUP sieht sich als beschützender Mahner vor der salamitaktischen Degradierung des nordirischen Sonderstatus. Von Boris Johnson, dem englischen Premierminister, fühlte sich die DUP verraten.

Die EU und auch Südirland spielen in dieser Sichtweise der Welt ihre ureigene Rolle. Das wiederum dürfte die Bildverbrennung des irischen Premiers erklären.

Übrigens ermittelt die Polizei zur Bildverbrennung wegen Hasskriminalität. Derweil haben diverse Paramilitärs angekündigt, das Freitagsabkommen aufzukündigen. Die breit angelegte Wiederaufnahme von Waffen ist denkbar.

Im April reiste der irischstämmige US-Präsident Joe Biden nach Nord- und Südirland, um das Karfreitagsabkommen zu retten.

Und so wurden am vergangenen Mittwoch in Belfast und anderen 17 Städten wieder Fahnen geschwenkt – mit so Aufschriften wie "West Belfast", "Duke of Manchesters Invincible" oder: "If god be for us, who can be against us?"

Marschierende bei Battle of the Boyne Marsch 2022 in Belfast. Bildrechte: Rainer Winters

2022 war ich Zeuge des Oraniermarsches. Laut Aussage eines Polizisten am Straßenrand gebe es heute noch streng getrennte Stadtviertel, wobei die Protestanten in ihrem Bezirk bleiben und die Katholiken dies aus Sicherheitsgründen ebenfalls so praktizieren.

Der Friedensprozess in Irland ist kein friedlicher Prozess

Die Stimmung Downtown Belfast ist mal wieder angespannt, aber das ist in Belfast nicht nur am 11. und 12. Juli so. Obwohl Belfast einige recht nette Gebäude vorzuweisen hat, bleibt sie in ihrer Ausstrahlung eine finstere Stadt, die an ständigen Bürgerkrieg erinnert.

Nach dem Marsch treffe ich eine Gruppe erschöpfter Marschierender. Die Marschstrecke von Belfast City zum Stadtrand und zurück ist lang. Ich stehe noch unter dem Eindruck eines Blumentopfwurfes gegen die Marschierenden.

Angesprochen auf die bitteren Erfahrungen eines getrennten Deutschlands, ist die Reaktion der Teilnehmer ablehnend und trotzig. "Im nächsten Jahr sind wir wieder da", ist alles, was sie zu sagen haben.

Der Friedensprozess in Irland ist kein friedlicher Prozess. Die Gräben sind tief, die Menschen unversöhnt und der Marsch scheint emotionaler denn je.