Nordirland zwischen Frieden und Brexit
Provokationen, Ignoranz und Rechtsbrüche bestimmen die Politik in Belfast. Das Konfliktpotenzial ist erheblich
In Nordirland sorgt die fundamentalistische Democratic Unionist Party (DUP) mit ihrem inzwischen auch in Europa bekannten Krawallstil wieder einmal für Schlagzeilen: Es geht nicht nur um den erneuten Bruch internationaler Vereinbarungen, sondern um die Fortsetzung einer dauernden Regierungskrise, die in den letzten Jahren nur noch durch kurze Phasen des Funktionierens der Institutionen unterbrochen wurde.
Um die erratisch anmutenden Handlungen der DUP nachvollziehen zu können, muss man sich vergegenwärtigen, dass der Brexit in Nordirland seit dem ersten Tag eine gänzlich andere politische Bedeutung und Dynamik entfaltet als im restlichen UK. In der Retrospektive ist das Brexit-Referendum als erster Kristallisationspunkt einer breiteren Krise in Europa, im Vereinigten Königreich und in Nordirland bemerkenswert.
Der nordirische Landwirtschaftsminister Edwin Poots von der DUP verkündete am vergangenen Mittwoch in Belfast, Lebensmittelimporte aus Großbritannien nicht mehr durch den Zoll kontrollieren zu lassen. Handelsverbände twitterten am Vorabend des Inkrafttretens der Anordnung, Importeure sollten den offensichtlichen Rechtsbruch schlicht ignorieren:
Ungeachtet der Ereignisse ist unser rechtlicher und verwaltungstechnischer Rat, dass es sich um internationale Verpflichtungen für Händler handelt. Sie sollten diesen Verpflichtungen weiterhin nachkommen, unabhängig davon, ob sie am Hafen von einem Mann im Blaumann begrüßt werden oder nicht.
Nur wenige Stunden nach Poots Anweisung trat der Erste Minister Nordirlands, Paul Givan, ein Parteifreund und enger Vertrauter von Poots, am Donnerstag nach nur 231 Tagen von seinem Amt zurück. Givan begründete seinen Rücktritt damit, dass das Konsensprinzip, das den Regierungsinstitutionen zugrunde liegt, durch den Brexit auf die Probe gestellt werde.
Am selben Tag reiste die britische Außenministerin Liz Truss nach Brüssel, um über das Nordirland-Protokoll zu verhandeln. Ihr Amtskollege Maroš Šefčovič in der Europäischen Kommission erklärt hinterher, dass die Instruktionen des nordirischen Landwirtschaftsministers kontraproduktiv ("very unhelpful") seien und man erwarte in Brüssel, schleunigst wieder auf den Boden gemeinsamer Vereinbarungen im Nordirland-Protokoll zurückzukehren.
Sehr wenig hilfreich ist der Bruch des Nordirland-Protokolls nicht nur im Hinblick auf die Beziehungen zur EU.
In Belfast ist die Krise der Dauerzustand
Givans Rücktritt als Vorsitzender der nordirischen Regierung in Stormont wird gemäß den Vereinbarungen im Karfreitagsabkommen von 1998 den Rücktritt der stellvertretenden Ersten Ministerin, Michelle O'Neill von Sinn Féin, nach sich ziehen. Dies könnte zu vorgezogenen Neuwahlen führen und die für Mai angesetzten Parlamentswahlen vorverlegen. Einmal mehr ist die dezentrale Regierung in Nordirland handlungs- und entscheidungsunfähig, bis eine neu gewählte Regierung ihre Arbeit aufnehmen kann.
Aktuelle Themen, die nun auf Eis liegen, sind dringliche Fragen im Gesundheitswesen und die Verabschiedung eines Dreijahreshaushalts, der unter anderem die Unterstützung ärmerer Haushalte zur Abfederung der steigenden Energiekosten vorsieht. Auch die Hoffnungen der Opfer von institutionellem Missbrauch während der "Troubles" auf die Ernennung eines Opferbeauftragten und eine Entschuldigung platzen ein weiteres Mal.
Dies ist der Höhepunkt der monatelangen Proteste der DUP gegen die Warenkontrollen in der Irischen See. Die Entscheidung kam zu einem Zeitpunkt, als Umfragen darauf hindeuteten, dass Sinn Féin bei den im Mai anstehenden Kommunalwahlen die DUP als größte Partei in Nordirland ablösen könnte, was den Anspruch der Partei auf den Posten des ersten Ministers bedrohen würde.
Der Streit um die Zollunion geht in die nächste Runde
Schon zu Beginn der Austrittsverhandlungen wurde seitens der EU ein zeitlich unbefristeter Verbleib Nordirlands in Zollunion und Binnenmarkt als Grundlage jeder weiteren Verhandlung über die zukünftigen Beziehungen zum Königreich formuliert. Diese Garantie, bekannt als Backstop, sollte zumindest so lange greifen, bis in der Grenzfrage eine Lösung erreicht sei, die die Landgrenze zwischen der Republik Irland als EU-Mitgliedsstaat und Nordirland weiterhin unsichtbar und kaum wahrnehmbar und damit die Grundpfeiler des Friedensabkommens von 1998 unangetastet beließe.
Diese Bedingung war für viele Brexit-Befürworter inakzeptabel, weil Freihandelsphantasien ausgeträumt waren, bevor sie Kontur annehmen konnten. Dem Vorschlag, Grenz- und Zollkontrollen in der Irischen See durchzuführen, verweigerte sich vor allem die nordirische DUP (Democratic Unionist Party), die die territoriale Integrität und Einheit Großbritanniens und Nordirlands in Gefahr wähnt. Nachdem bis Ende 2020 keine Einigung über einen geregelten Austritt Großbritanniens und Nordirlands aus der EU erzielt wurde, ist auch nach dem Ablauf der einjährigen Übergangsperiode keine Lösung gefunden worden.
Die Geschichte des Brexits liest sich dato als eine Abfolge fehlgeleiteter politischer Kalküle und nicht-intendierter Folgen, die sich immer mehr zum Fiasko entfalteten. Beginnend mit dem Irrtum des damaligen Premierministers David Cameron, er könne mit der Volksbefragung Euroskeptikern in den eigenen Reihen den Wind aus den Segeln nehmen, die konservative Partei einen und eine Abwanderung von Wählern zur UK Independence Party (Ukip) verhindern.
Es folgte der Missgriff seiner Nachfolgerin Teresa May, die sich mit vorgezogenen Parlamentswahlen 2017 eine Wahlschlappe einhandelte, die sie dazu zwang, die nordirische DUP an der Regierung zu beteiligen – ein offener Affront gegen das irische Friedensabkommen.
Auch der jetzige Premierminister Boris Johnson täuschte sich in seiner Annahme, dass ihm sein launig wiederholtes Mantra "Lets get Brexit done" die intensive Arbeit an Details mit den Partnern in der EU ersparen würde.
Verkürzt ausgedrückt kommt seine Botschaft, jahrzehntelang gewachsene wirtschaftliche, politische und rechtliche Verflechtungen mit der EU einfach auf einen Streich zu kappen, dem Vorschlag gleich, das beigesteuerte Ei aus einem gemeinsam gebackenen Kuchen zurückzuwollen und nicht etwa ein Stück des Kuchens.
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