Nordirland zwischen Frieden und Brexit

Seite 3: Die Architektur des Friedens in Nordirland ist europäisch

Wenn auch die Idee von Europa als Friedens- und Sicherheitsprojekt in Zeiten fiskaler Scharmützel und Uneinigkeit über Migrationspolitik unter den Mitgliedsstaaten ihre Strahlkraft einbüßte; für Nordirland hatte das Karfreitagsabkommen von 1998, das die Regierungen der Republik Irland und Großbritanniens als gemeinsame Bürgen und Partner im Rahmenwerk der Europäischen Union in die Pflicht nahm, einen Möglichkeitshorizont eröffnet, den jahrzehntelang gewaltsam ausgetragenen Konflikt einzuhegen.

Der Friedensvertrag ist ein international anerkanntes Abkommen. Allerdings sind die Regierungen Großbritanniens und Irlands die einzigen, die über die Implementierung des Abkommens wachen und es durchsetzen.

Beide ethnonationalen Gemeinschaften, probritische Loyalisten und Unionisten sowie proirische Republikaner und Nationalisten, teilen sich die Regierungsmacht und arbeiten (so zumindest das Ideal) zusammen.

Zwar lässt sich mit Identitätspolitik keine politische Entwicklung und kein gesellschaftlicher Fortschritt realisieren. Auch die Beobachtung, dass die Tit-for-Tat-Mentalität der Konfliktgegner nur von der Straße ins Parlament verschoben wurde, trifft zu. Aber immerhin: Das Verdienst des Powersharing ist es, dass die interkommunale Gewalt eingehegt werden konnte.

Der zäh ausgehandelte Friedensvertrag war jedoch nicht nur der Beginn eines Aussöhnungsprozesses. Beide Lager sahen die Kompromisslösung von vornherein als temporär an: In die Geschichte der Provinz trat mit dem Friedensprozess ein "Fukuyama-Moment" – ein Moment vom Ende der Geschichte: Ein Aufschub des Konfliktes in die Zukunft, in der ein Referendum den konstitutionellen Status Nordirlands nicht mit Gewalt, sondern an der Wahlurne entscheiden würde.

Das stillschweigende Übereinkommen der Konfliktparteien, das Fortlaufen der Geschichte vorübergehend aufzuheben und sich auf ein ‚Steckenbleiben im Jetzt‘ zu einigen, schien angesichts der verfahrenen Situation Mitte der 1990er-Jahre angebracht und ausweglos. Seither sehen beide Konfliktparteien, Loyalisten wie Republikaner, die Zukunft ambivalent ebenso als Bedrohung und als Versprechen mit Hinblick auf ihre diametral entgegenstehenden Ziele.

Ungeachtet der politischen Ungewissheit hat der Brexit das Fenster zur Zukunft (wieder) geöffnet: Das Fukuyama-Moment ist vorbei und damit auch der Friedensprozess, wie er 1998 begonnen wurde. Der Austritt aus der Europäischen Union könnte, so die oft geäußerte Sorge, die Epoche des Friedens beenden und die Gewalt zurückkehren.

Die Rückkehr zur Gewalt stellt in jedem Augenblick eine Option dar. Lokale Einflussgrößen sind nach wie vor frühere paramilitärische Veteranen, die auch in der jüngeren Vergangenheit nach Bedarf Gewalt auf den Straßen orchestrierten und wieder zurückpfiffen.

Unbestreitbar ist mit dem Brexit eine Zeitenwende für den lange Zeit sehr fragilen irischen Friedensprozess und damit eine neue politische Gegenwart angebrochen. Die politischen Implikationen und zu erwartenden Konsequenzen machten das Referendum für Nordirland zu einer Zäsur, das den einerseits international als gelungen und erfolgreich porträtierten und andererseits langwierigen Friedensprozess am nachhaltigsten erschüttert und auf die Probe stellt, indem sich auf beiden Seiten das Sensorium für territoriale und Souveränitätsansprüche wieder schärfte.

Aus nordirischer Perspektive kann der Brexit unumwunden als hervorstechendstes kritisches Ereignis seit dem Ende der Troubles, den über 30 Jahre währenden bewaffneten Konflikt, betrachtet werden.

Brexit und Karfreitagsabkommen stehen in Widerspruch

Zentrale im Friedensabkommen verankerte Vereinbarungen sind seit dem Referendum gebrochen worden. Der Friedensvertrag verpflichtet beide Regierungen zur Einhaltung der Menschenrechtskonventionen. Großbritannien beabsichtigt mit dem Brexit auch, die Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aufzukündigen.

Dies ist eine klare Verletzung des Friedensabkommens, das seit 2016 zusehends erodiert. Auch die im Abkommen festgelegten grenzübergreifenden Beziehungen und Institutionen stehen auf dem Spiel. Die Voraussetzungen, unter denen jahrelang um eine Konfliktlösung gerungen wurde und die 1998 im Friedensvertrag und schließlich in einem Friedensprozess mündeten, sind ausgehebelt.

Für den Frieden in Nordirland ist das Brexit-Referendum ein transformativer Moment gewesen. In der Folge des Referendums erlitt der Friedensprozess empfindliche Risse. Nicht nur die gebetsmühlenartig wiederholte Friedens- und Fortschrittserzählung in Nordirland ist ins Wanken geraten – der Brexit war ein Erdrutsch für das politische Arrangement.

Das ohnehin schon angeschlagene Vertrauen in die Politik in Nordirland ist seit Jahren auf einem Tiefpunkt. Die ohnehin bestenfalls lapidare Kooperation der Regierungsparteien DUP und Sinn Féin kommt immer wieder vollständig zum Erliegen. Die politischen Institutionen funktionieren seit 1998 die meiste Zeit nicht. Sämtliche Verhandlungen scheiterten bislang an Nordirland; der Streit um die Grenze durch Irland wirkt sich auf beiden Seiten der Grenze aus.

Zwischen den Regierungen wird der Tonfall deutlicher. Dem Northern Ireland Office (NIO) wurde im Zuge des Karfreitagsabkommens die Rolle der Exekutive zur Implementierung des Abkommens zugewiesen. Das NIO ist jedoch in den letzten Jahren eher durch gegenteiliges, nämlich parteiisches, Handeln in Erscheinung getreten.

Auch für die irische Regierung in Dublin hat im Zuge des Brexit-Referendums Nordirland wieder eine höhere Priorität und man engagiert sich mehr für den Norden. Als EU-Mitgliedsstaat ist Irland in einer relativ entspannten Verhandlungsposition gegenüber London.

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