Nordirland zwischen Frieden und Brexit

Seite 2: Die wirtschaftspolitische Bedeutung des Brexits im UK

Der Brexit hatte in Nordirland und im Vereinigten Königreich immer sehr unterschiedliche Bedeutungen. In London war die ökonomische Identität des Vereinigten Königreichs das zentrale Thema, das beide Lager, "Remain" und "Leave", beschäftigte.

Referenzpunkte waren unterschiedliche wirtschaftspolitische Traditionen Großbritanniens, einer Wirtschaftsnation, deren Selbstverständnis historisch sowohl von Nationalismus als auch von Globalismus, sowohl von Liberalismus als auch von Interventionismus geprägt wurde und die daher nach gleichzeitiger ökonomischer Öffnung und Schließung strebt.

So wurde auch beim Aspekt Migration nicht auf kulturelle oder staatsbürgerliche Bedenken, sondern immer auf die ökonomischen Folgen vermeintlich unregulierter Zuwanderung abgehoben und ausschließlich wirtschaftliche Konsequenzen wie Arbeitsplatzverluste, Wohnungsnot, und die ökonomische Überlastung von Sozial- und Bildungssystemen thematisiert.

Souveränität wurde von der Leave-Fraktion vor allem als Möglichkeit verstanden, über den nationalen Wirtschaftsraum und die nationale Wirtschaftspolitik selbst zu bestimmen. Gefordert wurde entlang verschiedener Themen einerseits immer wieder wirtschaftlicher Interventionismus und ein stärkeres Eingreifen des Staates.

Dazu wurde Kritik an allzu freien Märkten, Deregulierung und Privatisierung geübt. Mit der fast gleichen Vehemenz wurde – ebenfalls im Lager der Brexiteers – für wirtschaftlichen Liberalismus getrommelt: Die EU wurde als zu interventionistisch abgelehnt.

Die Befürworter des Austritts zogen sich durch das gesamte politische Spektrum. Neben der euroskeptischen, rechtspopulistischen Ukip, die 1993 einzig mit dem Ziel gegründet worden war, den Austritt Großbritanniens aus der EU voranzutreiben, agierte ein bemerkenswert heterogenes Bündnis von EU-Kritikern, das so gegensätzliche Gruppierungen wie die gewerkschaftsnahen "Trade Unions against EU" als auch die rechtsliberale Bruges Group vereinte.

Wenngleich die Integration beider Extreme des politischen Spektrums ein besonderes Charakteristikum des Leave-Lagers darstellt, präsentierten sich auch die Brexit-Gegner als heterogenes Bündnis. Insgesamt verliefen die Konfliktlinien weitestgehend quer zu etablierten Parteien und klassischen Rechts-Links-Zuordnungen. Den Friedensprozess in Irland schien lange Zeit niemand auf dem Schirm zu haben.

Nordirland: Referendum als Absage an den Friedensvertrag

Dagegen hatte die Mehrheit der Wähler (56 Prozent) in Nordirland für einen Verbleib in der EU gestimmt. Lediglich drei von 15 Parteien sprachen sich gegen den Verbleib in der EU aus: Neben der Ukip wollten nur die zwei probritischen Hardliner-Parteien Nordirlands, DUP und TUV (Traditional Unionist Voice) den Austritt.

"The English have placed a bomb under the Irish peace process", titelte Die britische Tageszeitung The Guardian nur einen Tag nach dem Brexit-Referendum, bei dem knapp 52 Prozent der Briten am 23. Juni 2016 für den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union votierten.

Die Verkündung des Ergebnisses empfanden viele Nordiren als einen Moment des Bruchs, der einen unmittelbaren Einfluss auf ihr Leben haben würde. Der Brexit schuf eine enorme Ungewissheit.

Der damalige stellvertretende Vorsitzende der Lokalregierung in Nordirland, Martin McGuinness (2017 verstorben), stellte fest, man dringe in "unbekannte Gewässer" vor, um direkt im Anschluss ein weiteres Referendum, nämlich über die Wiedervereinigung der sechs Grafschaften im Norden mit der Republik Irland, zu fordern.

Sofort war der alte Konflikt um die nationale Souveränität präsent und in aller Munde. Schon bald wurden Befürchtungen laut, dass im Falle eines Austritts Großbritanniens aus der EU die Gewalt wieder losbrechen und der mühsam errungene Frieden auf dem Spiel stehen könne.

Die Folgen der Troubles wirken sich auch 24 Jahre nach dem offiziellen Beginn des Friedensprozesses gesamtgesellschaftlich aus. Aktuelle Gewaltkriminalität, horrende Suizidraten oder aber die Bemühungen von Opfern und Überlebenden bzw. deren Angehörigen, Anerkennung und Wiedergutmachung für erlittene Verluste und Misshandlungen einzuklagen. Das Panorama an Problematiken, die in Post-Konflikt-Gesellschaften klassisch sind, beschäftigt Nordirland noch immer.

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