Nordsyrien: Türkische Regierung bereitet Annexion der Sheba-Region vor

Türkische Nationalisten an der Grenze zu Syrien. Screenshot Video al-Jazeera/YouTube

Erdogans Traum vom Neo-Osmanischen Reich rückt näher. Der türkische Innenminister teilte erstmals konkrete Fakten zur Vorbereitung der Annexion mit. Ein Kommentar

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Nicht dass die Bundesregierung nach der Annexion Nordsyriens behauptet, sie habe von nichts gewusst. Schon vor Monaten wies Telepolis auf die Annexionspläne der türkischen Regierung in Afrin und der östlich angrenzenden Sheba-Region hin (siehe Türkei ernennt Provinzgouverneur für Teile Nordsyriens).

Nun bestätigte der türkische Innenminister Süleyman Soylu die Annexionspläne. Auf einem Kongress der AKP in Denizli berichtete er: "Wir sind eine große Nation des Friedens, den wir in Cerablus, Mare, Azaz, al-Bab und entlang einer Grenze von 2.000 Kilometern geschaffen haben. Ich sage das als Innenminister. Wir haben unsere Landräte, Polizeidirektoren und Gendarmeriekommandanten in Azaz, Cerablus und Mare."

"Sandschak Alexandrette", Teil des Osmanischen Reiches

Die Städte Jarabulus, Mare, Azaz und Al-Bab liegen allerdings nicht in der Türkei, sondern in der Sheba-Region in Nordsyrien. Die nun geplante Annexion erinnert an die Annexion der Provinz Hatay nach dem ersten Weltkrieg. Die Provinz Hatay gehörte bis zu Beginn des 20. Jahrhundert als "Sancak von Alexandrette" (auch: Sandschak Alexandrette, bzw. Sanjak oder Sandjak geschrieben) zum Osmanischen Reich.

Nach dessen Zerfall wurde der Sancak 1918 von Frankreich besetzt und im Rahmen eines Völkerbundmandates als Teil Syriens von Frankreich verwaltet. 1923 erhielt der Sancak Alexandrette einen Autonomiestatus. Dort sollten armenische Flüchtlinge, Überlebende des Genozids, zusammen mit den alawitischen Arabern, die die Bevölkerungsmehrheit stellten, eine neue Heimat erhalten. 1936 lief das französische Völkerbundsmandat über Syrien ab. Die Türkei meldete Ansprüche auf den Sancak Alexandrette an.

Um die Türkei davon abzuhalten, auf Seiten des Deutschen Reiches in den 2. Weltkrieg einzutreten, schloss Frankreich im Juni 1939 einen Vertrag mit der Türkei, der dieses Gebiet als neue Provinz der Türkei zuschlug. Es folgten dann die bekannten demographischen Eingriffe, um die Mehrheitsverhältnisse der Bevölkerung in der Region zu verändern. Die Armenier hatten das Nachsehen.

Unter militärischer Kontrolle von Islamisten

Genau dies wird mit Afrin und der Sheba-Region geschehen, wenn niemand Erdogan Einhalt gebietet. Er wird dafür sorgen, dass ihm getreue Flüchtlinge aus Syrien in den Häusern der vertriebenen oder massakrierten Bevölkerung von Afrin und Sheba angesiedelt werden. Die militärische Kontrolle werden dann die von der Türkei finanzierten Islamisten-Milizen, die unter anderem mit dem IS kooperieren, unterstützt vom türkischen Geheimdienst, bekommen.

Erdogan wird dafür sorgen, dass es neue Schulen gibt - in denen selbstverständlich türkisch gesprochen wird. Gut ausgestattete Krankenhäuser werden für eine gute Gesundheitsversorgung sorgen - von der die türkische Bevölkerung im Südosten der Türkei nur träumen kann. Es wird gute Straßen geben und türkische Läden werden die Bevölkerung gut versorgen.

Die türkische Wirtschaft wird von dem neuen Absatzmarkt profitieren. Deutsche Konzerne werden sich freuen, denn sie haben auch einen neuen Markt für ihre Güter - ohne gegen das Wirtschaftsembargo gegen Syrien zu verstoßen, decken sie doch nur den erhöhten Bedarf der Türkei ab. Den Transport übernehmen türkische Transportunternehmen gerne.

Selbstverständlich werden die Menschen in den neu-türkischen Gebieten Zugang zu den "freien, objektiven Medien der Türkei" haben. Die Religionsbehörde Diyanet wird die neu gebauten, prächtigen Moscheen mit Imamen ausstatten, die die reine Lehre der Behörde, bzw. der Muslimbrüder den Menschen in der Region nahebringen.

Erdogan wird dann die angesiedelten, am besten noch mit Doppelpass ausgestatteten Bürger zur Wahl bitten, ihn den Sultan, der Frieden und Wohlstand in die Region gebracht hat, zu wählen und für den Anschluss an die Türkei zu stimmen. Alles klar?

Erst Afrin, dann Manbic, dann Idlib und übermorgen …?

Aber vieles spricht dafür, dass sich Erdogan nicht mit Afrin und der Sheba-Region zufrieden geben wird. Nach Afrin und Manbic ist Idlib dran. "Mein kleiner Mehmet marschiert nach Afrin. Wenn Gott es will, wird er nach Idlib marschieren", sagte Erdogan auf einer Kundgebung seiner islamisch-konservativen Partei AKP in Kocaeli bei Istanbul. Mehmet ist der Kosename für türkische Soldaten.

Wie eine Dampfwalze würde seine Regierung alles zermalmen, was eine Bedrohung für die Türkei darstellen könnte, sagte Erdogan. In Idlib warten schon die islamistischen Milizen von Al Qaida, um den neuen Sultan zu empfangen. Aber zunächst geht es nach Manbic und dann weiter bis zur irakischen Grenze, sollte es nach Erdogans Vorstellung gehen. Die türkische Armee werde alles säubern und auch den letzten "Terroristen" eliminieren.

Gemeint sind die Bewohner der Region, die sich dem basisdemokratischen Modell der "demokratischen Föderation Nordsyrien", auch "Rojava" (kurd.: der Westen) genannt, verschrieben haben. Selbstverständlich sind das auch Babys, Kinder, Frauen und alte Leute, die aus den inkriminierten Familien stammen.

Das wird mittlerweile auch im türkischen Staatsfernsehen TRT offen zugegeben. Wiederholt sagte die Nachrichtenmoderatorin Tuğba Dalkılıç: "Insbesondere von dort [Berg Burseya] aus haben die türkischen Streitkräfte Angriffe und Bombardements auf die Zivilbevölkerung durchgeführt."

Der Berg Buseyra sei ein strategisch wichtiger Punkt, von dem aus die türkischen Streitkräfte die Zivilbevölkerung bombardiert und Angriffe durchgeführt hätten, berichtete ein türkischer Reporter aus der Region auf TRT in der Sendung.

Das Pressezentrum der SDF berichtete von weiteren getöteten Zivilisten in den Bezirken Raco und Bilbile. Mindestens 50 Zivilisten seien seit dem Angriff getötet und 137 verletzt worden, berichtet ANF. Die Zahlen der getöteten Zivilisten steigen stündlich.

Das Kinderhilfswerk Unicef berichtete von mindestens elf getöteten Kindern, auch die Tagesthemen vom Sonntag berichteten aus einer Klinik aus Afrin und zeigten Filmaufnahmen von verletzten Kindern. Doch der Westen schweigt, denn er ist erpressbar.

"Ich kann Euch noch eine Million Flüchtlinge schicken, wenn Ihr nicht spurt", mag Erdogan Merkel und Gabriel durch die Blume vermittelt haben. Das können diese angesichts der Groko-Gespräche nun gar nicht gebrauchen. Man braucht die Türkei in der Nato - militärisch wie wirtschaftlich, man will sie nicht den Russen überlassen. Also macht man den Affen: Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen.

Erdogan: Was kümmern uns die Amerikaner?

Diese Verhaltenheit der europäischen Regierungen und der USA beflügeln die Türkei in ihren Expansionsplänen. Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu machte eine klare Ansage an die USA: "Sie müssen sich unverzüglich aus Manbidsch zurückziehen", sagte der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu laut der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu.

Da auch die US-Armee in Manbidsch (auch: Manbic oder Manbij) mit Spezialkräften präsent ist, könnte es zu Zusammenstößen zwischen den NATO-Partnern USA und Türkei kommen. Es sei denn, die USA kneifen wie die Russen und ziehen ihre Truppen ab. Laut türkischen Medien soll der Nationale Sicherheitsberater von Trump, H.R. Mc Master, dem türkischen Präsidentensprecher Ibrahim Kalin zugesagt haben, die Waffenlieferungen an die YPG einzustellen.

Angesichts der Verpflichtung der türkischen Medien, Kriegspropaganda zu betreiben, ist diese Meldung mit Vorsicht zu genießen, denn schließlich haben die USA in Syrien ihre eigenen geopolitischen Interessen.

Aber auch die USA sind erpressbar. Schließlich haben sie Atomwaffen in Incirlik gelagert. Angeblich sollen diese mit Codes gegen feindliche Übernahme gesichert sein. Aber dieses Sicherungssystem ist total veraltet, deshalb will ja die USA ihre Atomwaffen in Deutschland aufwändig modernisieren.

Was kümmern uns vorislamische, historische Stätten von Christen und Êzîden?

Die Zerstörung von historischen Kulturgütern, die nicht der islamischen Kultur entstammen, hat in der Türkei eine lange Tradition. Die systematische Zerstörung, Enteignung oder dem Verfall überlassener christlicher oder êzîdischer (jesidischer) Kulturgüter soll die Spuren dieser Kulturen auf türkischem Territorium auslöschen.

Dies setzt sich gerade in diesen Tagen in Nordsyrien fort. Bilder der Zerstörung von Palmyra durch den IS drängen sich unwillkürlich auf. Die archäologische Stätte Ayn Dara, in der sich Monumentalarchitektur aus verschiedenen Jahrtausenden, unter anderem Schätze aramäischer Baukunst befinden, wurde von der türkischen Armee bombardiert. Auch der Hetiter-Tempel Ain Dara im Süden Afrins wurde zerstört - eine jahrtausendealte archäologische Ausgrabungsstätte.

Fotos von Turkey Untold zeigen das Ausmaß der Zerstörung. Die jahrtausendealte seleukidische Ausgrabungsstätte Nebi Huri (Cyrrhus) im Süden Afrins wurde ebenfalls zerstört. Christen und Êzîden fürchten nicht nur um ihre Heiligtümer und historischen Stätten, sondern um ihr Leben.

Telepolis berichtete bereits vor Tagen von Bombardierungen der Dörfer dieser Minderheiten durch türkische Kampfjets. Nun berichtet auch Die Welt:

"Im Moment werden wir von den Türken aus der Luft bombardiert und mit Artillerie beschossen", klagt der jesidische Scheich Sileman Cafer aus Afrin. "Aber die dschihadistischen Gruppen machen uns am meisten Sorge." Der jesidische Politiker fordert deshalb ein Eingreifen der internationalen Gemeinschaft - bevor es zu spät sei. "Wir kennen diese Islamisten, sie haben uns im Laufe des Bürgerkriegs schon oft angegriffen und immer dort, wo es am meisten Jesiden gab….Vor den Bomben der türkischen Flugzeuge gibt es kein Versteck", klagt der Scheich. "Wir haben keine Bunker." Über hundert Tote habe es durch die Angriffe bisher gegeben, darunter viele Kinder, berichtet Cafer. Mitglieder der êzîdischen Gemeinde hätten ihr Leben verloren. "Einige unserer Dörfer im Grenzgebiet sind von der Freien Syrischen Armee und den Türken besetzt", erzählt Cafer.

Alfred Hackensberger, Die Welt

Êzîdische Dörfer in Afrin haben insgesamt ca. 20.000 Einwohner. Auch der christliche Pastor Ali Hakim aus Afrin-Stadt appelliert an die internationale Gemeinschaft. 250 christliche Familien seien in der Stadt in akuter Gefahr, wenn die Türkei mit ihrer dschihadistischen Allianz einfalle.

Mittlerweile meldet sich auch der Papst zu Wort und warnt vor neuen Massakern an den Êzîden. Ob er wohl Gehör findet bei unserer Bundeskanzlerin Angela Merkel, die bekanntlich der Partei mit dem "C" für christlich angehört?

Was kümmern weltweite Proteste?

Die weltweiten Proteste und Sympathiekundgebungen für die Kurden in Nordsyrien sind enorm und müssten eigentlich unsere Regierungen nachdenklich stimmen. Tun sie auch. Aber wahrscheinlich in eine ganz andere Richtung. Was wäre, wenn dieses Modell hier Schule machen würde? Das würde doch auch unseren Turbokapitalismus gefährden. Also muss die Gefahr an der Wurzel bekämpft werden. Sultan Erdogan wird’s richten.