Notruf für den Kapitalismus
Mit einer Abschreckungs-Kampagne mobilisieren Polizei und Presse gegen Demonstrationen unter dem Titel "May Day Monopoly" am 1.Mai in London
In Vorbereitung auf die angekündigten anti-kapitalistischen Demonstrationen zum 1.Mai in London verfolgt die Polizei mit Unterstützung der Presse eine beispiellose Politik der Abschreckung. Die Polizei versucht alle Teilnehmer von vorneherein als "gewaltbereite Anarchisten" zu denunzieren und kündigt eine "Null-Toleranz"-Politik an. Mit einer Kampagne der Dämonisierung und der geharnischten Warnungen sollen Normalbürger von der Teilnahme an Demonstrationen unter dem Motto "May Day Monopoly" abgeschreckt werden. Ähnliche Demonstrationen hatten in den beiden Vorjahren 1999 und 2000 jeweils bis zu 15.000 Menschen in weitgehend friedlicher und karnevalesker Stimmung vereint, waren vom politischen und wirtschaftlichen Establishment aber dennoch als das Werk "hirnloser Schlägertypen" bezeichnet worden. Der Schutz des Eigentums und die Angst vor dem Verlust von Wählerstimmen unterminieren das Recht auf Demonstrationsfreiheit in der ältesten Demokratie der Welt.
Das Abhören von Emails, die erkennungsdienstliche Behandlung von Teilnehmern an Vorbereitungstreffen und die Infiltration von Bewegungen wie Reclaim The Streets durch Polizeispitzel des "Special Branch" von Scotland Yard und des Geheimdienstes MI5 zählen zu den Methoden, mit denen die Polizeikräfte schon im Vorfeld einen Informationsvorsprung herauszuarbeiten versuchen. Wie paranoid diese Maßnahmen auch erscheinen mögen, so werden sie noch übertroffen durch das Verhalten der Presse. In lückenlosem Schulterschluss mit der Polizei singt die gesamte britische Presse, einschließlich der als linksliberal angesehenen Blätter Guardian, Independent und Observer unisono das Lied von den gewaltbereiten Geheimverschwörern aus dem Untergrund, die Chaos und Gewalt auf die City of London herunterregnen lassen wollen.
Die älteste Demokratie der Welt ist stolz auf ihre liberalen Traditionen, die einen in wirtschaftspolitischer Hinsicht straffen Kapitalismus bisher mit dem Recht auf Versammlungs-, Rede- und Demonstrationsfreiheit zu verbinden verstand. Doch die Medienkampagne der letzten Wochen könnte einem tatsächlich von Schlagzeile zu Schlagzeile mehr Angstschweiß auf die Stirn treten lassen. Die Ankündigung von "Null Toleranz" durch die Polizei ist da noch das mindeste. Ein harter Kern von "1000 Anarchisten" würde Unruhen, Ausschreitungen und Plünderungen in Londons feinsten Geschäftsstraßen bezwecken, sagen Polizei und Presse.
Als Beleg für diese These dienen im Internet und als Broschüre verbreitete Aufrufe zu einem "May Day Monopoly". Eine Version des Brettspiels Monopoly, in Deutschland auch bekannt als DKT, dient als "Karte" für mögliche Angriffsziele in der Londoner Innenstadt. Die am Morgen mit einer Fahrraddemo beginnenden Proteste sollen um 4 Uhr nachmittags in den "Ausverkauf des Jahrhunderts" (sale of the century) am Oxford Circus münden. Dort befinden sich die Geschäfte Nike Town, H&M, GAP, HMV und viele weitere multinationale Ketten in nächster Nähe. Die Formulierung "Ausverkauf des Jahrhunderts" dient der Polizei als Hinweis, dass Plünderungen in diesen Geschäften geplant seien.
Den Medien werden von den Behörden die furchterregendsten Geschichten suffliert. Die "Hintermänner" und "Rädelsführer" des Aufrufes seien öffentlichkeitsscheue Verschwörer, die das "Internet" zur Vorbereitung nutzten und mittels "verschlüsselter E-Mail kommunizieren", schrieb der "Evening Standard". Tatsächlich haben bisher eine Reihe von Vorbereitungstreffen in Londoner Pubs durchaus öffentlich stattgefunden. Foto- und Videoteams der Polizei waren dabei vor den Eingängen so massiv präsent, dass allein dadurch bereits weniger hartgesottene Teilnehmer abgeschreckt wurden. Es ist anzunehmen, dass die Hälfte der Teilnehmer aus Polizeispitzeln bestand und dass diese sich ebenso auf der unmoderierten Mailingliste zum May Day Monopoly eingeschrieben haben.
In einem weiteren Bericht stand zu lesen, dass "Londoner Anarchisten" in "Trainingslagern in den USA" in Direct-Action-Methoden ausgebildet werden würden. Es wird noch soviel verraten, dass diese Camps von der Ruckus Society organisiert und unter anderem von der Body-Shop-Besitzerin Anita Roddick finanziell unterstützt würden. Die martialische Sprache von "Trainingslagern in den USA" evoziert passenderweise Bilder von Ausbildungslagern für Söldnerkrieger. Dieses Bild wird noch verstärkt durch die Internationalisierung der Verschwörung, indem es heißt, dass "ausländische Anarchisten", die bereits in Seattle, Prag, Washington und zuletzt Quebec für Unruhe gesorgt haben, zum 1.Mai nach London kommen würden.
Fakten und Fiktionen vermischend, wird die May-Day-Aktion sogar in die Nähe der Real IRA gerückt, der dissidenten irisch-republikanischen Terrorgruppe, die zuletzt London mit zwei Bombenanschlägen erschüttert hatte. Wiederum will die Polizei durch abgefangene Emails Informationen vorliegen haben, dass es die Strategie der Organisatoren des Protestes sei, durch gefälschte Bombendrohungen und Feueralarme Polizeikräfte zu binden, um dann an anderen Orten zuzuschlagen. Möglicherweise lässt aber, so befürchtet die Polizei, zugleich die Real IRA echte Bomben hochgehen. Unbefangen bezüglich jeglicher Angabe von Quellen mischen sich in diesen Bericht anekdotische Hinweise auf Demonstranten, die angeblich planten, mit Macheten und Samurai-Schwertern aufzutauchen. Deshalb will die Polizei zusätzlich zu 5000 Einsatzkräften auch bewaffnete Einheiten bereit halten. Dies ist für englische Verhältnisse eine unglaubliche Eskalation, da man eigentlich stolz auf die zivilistische Tradition einer keine Schusswaffen tragenden Polizei ist. Der Observer schmückte diesen Bericht mit Fotos von Maschinenpistolen tragenden Supercops.
Spätestens an dieser Stelle wird sich jeder "normale Mensch" fragen, ob es das Risiko wirklich wert ist, am 1.Mai in die Londoner Innenstadt zu gehen. Mit der Eskalation im Vorfeld soll die Spreu vom Weizen getrennt werden. Wer, der nicht zum "harten Kern" der "1000 gewaltbereiten Anarchisten" gehört, will es schon riskieren, von Schusswaffen bedroht, mit Tränengas besprüht, fotografiert und gefilmt zu werden und im Falle einer Verhaftung vielleicht auch noch eine DNA-Probe abgeben zu müssen? Wer dann also trotzdem hingeht, ist in den Augen von Polizei und Presse schon als Verbrecher vorverurteilt, womit wiederum exzessive Polzeigewalt von vorneherein legitimiert ist.
Der Schutz des Eigentums und das Recht auf Demonstrationsfreiheit
Diese Eskalation des Medienterrors ist im Kontext der beiden letzten großen Demonstrationen zu sehen, an denen bis zu 15.000 Menschen teilnahmen und die sich medienwirksam in Szene setzten. Am 18. Juni 1999 improvisierten die Demonstranten unter dem Motto "Carneval against Capitalism" eine "Love Parade unplugged" und tanzten zu mehr als Zehntausenden zu den Samba-Rhythmen einer Trommel-Gruppe durch die Straßen des Finanzdistrikts, öffneten, an diesem heißen Tag, Hydranten, um darunter zu duschen und besetzten für zwei Stunden die Eingangshallen des Lloyd-Gebäudes und des LIFFE (London International Financial Futures Exchange). Am 1.Mai 2000 wurde unter dem Motto "Guerrilla Gardening" der Platz vor dem Parlament in Westminster besetzt, aufgegraben und in ein großes Freigärtner-Areal verwandelt. Was dem guten Briten dabei keineswegs schmeckte, war nicht etwa, dass die Schaufenster einer McDonalds-Filiale rituell zu Bruch geschlagen wurden, sondern die gekonnte Verschandelung von zwei Denkmälern. Der Cenotaph in Whitehall, das Denkmal für die Opfer des Ersten Weltkriegs wurde mit Sprüchen wie "imperialistisches Kanonenfutter" verziert und eine Statue von Winston Churchill wurde mit einem Irokesenhaarschnitt aus grünem Gras in einen Punk verwandelt. Pressefotos insbesondere des modisch verjüngten Churchill gingen um die Welt.
"Hirnlose Schlägertypen" donnerte daraufhin Tony Blair und schwor öffentlich, dass so etwas nie mehr geschehen würde. Die Nachwirkungen von Blairs Theaterdonner sieht man heute. Die Zeitung The Guardian schrieb, dass die höchstrangigen Polizeibeamten der City-Force (der Finanzdistrikt hat seine eigene Polizei) ihren Job verlieren würden, wenn die Demonstrationen ähnlich wie in den Vorjahren außer Kontrolle geraten sollten. Die Abschreckungskampagne in den Medien soll verhindern, dass eine ähnlich große Zahl von Menschen teilnimmt, die es der Polizei erschweren, die tatsächlichen Randalierer zu isolieren.
Dazu muss man wissen, dass der 1.Mai in Großbritannien keine Tradition als "Tag der Arbeit" besitzt. Der 1.Mai ist kein Feiertag. Gewerkschaftlich organisierte Demonstrationen wird es nur von einigen linken Splittergruppen geben, von hauptsächlich zugewanderten Arbeitnehmern wie etwa kurdischen Linksparteien. Ihre organisierten Märsche werden sich traditionsgemäß auf den Trafalgar Square beschränken und sind leicht zu kontrollieren. Eine Anarcho-Tradition des 1.Mai wie z.B. in Berlin, wo tatsächlich schon seit langer Zeit hirnlose Idioten die Ereignisse bestimmen, gibt es ebensowenig.
Die so schwer unter einem Etikett zu vereinigende Protestbewegung, die sich entgegen aller Drohungen zum 1.Mai in der Londoner Innenstadt einfinden wird, hat hingegen ganz andere Wurzeln. Sie rekrutiert sich im Kern aus zahlreichen Direct-Action-Gruppen, die in der Thatcher-Zeit entstanden sind: die Anti-Straßenbaubewegung, die das Zubetonieren der Landschaft durch das Graben von Tunnels und das Leben in Baumhäusern zu verhindern suchten; Reclaim The Streets, die vielfach als ein Dach oder als eine Losung für eine breitere, noch diffusere Bewegung dienten und durch Parties in Durchzugs-Straßen öffentliche Räume als verkehrsfreie Zonen zurückzugewinnen versuchten; daneben Tierschützer, Pazifisten, Feministinnen, linke Kleingruppen, Travellers, Hausbesetzer, Raver und Null-Bock-Anarchisten aber auch enttäuschte Lehrer, städtische Bedienstete, Alt-68er, Studenten und überhaupt alle, die unter dem bedrückenden Gefühl leben, dass der Kapitalismus zuviele ihrer Lebensbereiche dominiert, dass das herrschende System jede Lebendigkeit erstickt und keiner der gewählten Politiker ihre Interessen vertritt. Ihre Protestformen, vergleicht man sie mit Ausschreitungen in anderen Ländern, kultivierten einen spaß- und fantasievollen Protest, der nicht mit der Brechstange gegen die Polizeikräfte losging, sondern sich vielmehr darauf konzentrierte, mit Einfallsreichtum den Ordnungskräften ein Schnippchen zu schlagen und für einen Zeitraum die gewohnte Ordnung auf den Kopf zu stellen.
Diese Bewegung, die alles andere als eine einheitliche Bewegung ist, durch alle Altersgruppen und politischen Coleurs geht und bisweilen regelrecht konservative Ambitionen an den Tag legen kann, wird nun mit den Worten der Polizeistatements und Presseberichte im Vorfeld des 1.Mai 2001 in die Nähe einer paramilitärischen Untergrundorganisation gerückt. Die wahren Motive dieser beispiellosen Medienkampagne kommen noch am deutlichsten in einem Artikel zum Ausdruck, den der vor einem Jahr gewählte Bürgermeister von London, Ken Livingstone, in der Zeitung The Independent veröffentlicht hat. Hier zeigt sich der bis vor seiner Wahl als sozialistisches Schreckgespenst "Red Ken" titulierte Livingstone als obrigkeitshöriges Lämmchen. Er behauptet, Gewalt werde am 1.Mai kein Zufall sein, sondern sei durchaus in der Absicht der Organisatoren. Diesen ginge es nicht um die öffentlich deklarierten Ziele wie die Verminderung der Dritte-Welt-Schulden und die Bekämpfung von Armut, Ausbeutung und Rassismus, sondern allein um die Einschüchterung von Mitmenschen und das Ausleben egoistischer Machtfantasien von elitären Verschwörergruppen. Er selbst sei für die oben genannten Ziele, doch jeder, der auch dafür ist, solle keinesfalls zu der Demonstration gehen, weil diese für genau ebendiese Ziele kontraproduktiv seien. An den Organisatoren der Proteste kritisiert er obendrein, dass es keine klaren Ansprechpersonen gebe, keine Strukturen, keine Organisation im eigentlichen Sinn.
Damit verweist Livingstone auf den Kern des Problems, welches das Establishment mit dieser - nennen wir es eine - Protestbewegung hat. Diese deklariert sich nämlich explizit als eine Bewegung "ohne Ideologie, ohne Führer, ohne Zentrum". Das genau macht sie für Polizei, Politik, Presse so schwer fassbar, es gibt nichts, woran sie sich festhalten, worauf sie rhetorisch-ideologisch einschlagen könnten. Und dennoch ist dieses diffuse Etwas ganz erkennbar nicht machtlos, hat bewiesen, große Menschenmassen mobilisieren zu können, hat das Treffen der Welthandelsorganisation in Seattle zu Fall gebracht und sich in Washington, Davos, Prag und zuletzt Quebec ins Rampenlicht der Medien geschoben; die "Bewegung" hat aufgezeigt, dass etwas nicht stimmt mit der Art, wie unsere Welt regiert und gemanaget wird. Eine Massenbewegung ohne Ideologie und Zentrum ist, wie sich in diesen Wochen in den britischen Medien zeigt, scheinbar das schlimmste Schreckgespenst der Medien und muss für die haltlosesten Vorverurteilungen und medialen Terrorkampagnen herhalten. Der Gedanke, dass die Menschen - nicht einfach irgendwelche einordenbaren Links-Anarchos, Post-Trotzkyisten und RAF-Sympathisanten, sondern ganz gewöhnliche Menschen, die im Bus neben einem sitzen, die einem das Essen servieren und die Kinder in der Vorschule betreuen - genug von den Zuständen haben, nicht mehr bereit sind zu warten, bis die Politiker endlich liefern, was sie versprachen, eine bessere und gerechtere Welt zu schaffen, dieser Gedanke also, dass die Leute wieder bereit sind, auf die Straße zu gehen und nicht etwa für Konsensziele wie Anti-Nuklearbewaffnung und Anti-Apartheid in den achtzigern, verunsichert die Machthabenden zutiefst.
Dabei wäre es falsch, unter den "Machthabenden" vor allem die Politiker und ihre Polizeibüttel zu sehen. Die Paranoia, die zur Zeit von Polizei und Presse geschürt wird, sitzt vor allem in den Konzernzentralen. Dort hat man gespürt, wie diese Bewegung der Namenlosen das Meinungspendel hat umschwingen lassen, Konzerne wie Shell, Nike, Nestle und McDonalds zu Buhmännern machte und damit deren Profite und Bewegungsfreiheit zumindest teilweise einzuschränken wusste. Ken Livingstone, der finanzpolitisch nahezu machtlose Bürgermeister Londons, dessen Rolle vor allem in einer erweiterten Rolle als oberster Public-Relations-Manager für London besteht, sagt es in seinem vor allem ihn selbst denunzierendem Artikel ganz klar: die Demonstrationen zum ersten Mai drohen den ohnehin angeschlagenen Tourismus weiter zu schädigen. Sollte sich durch den May Day ein Bild Londons als Stadt wildgewordener Anarchos in den Gehirnen wohlhabender Amis, Japaner und Westdeutscher festsetzen, dann droht ein weiterer Rückgang bei den drei wichtigsten Tourismusnationen. Nach einem Rückgang des Ostertourismus um 30% kann sich London derzeit weitere Einbußen nicht leisten. Polizei, Presse und Politiker sind sich darin einig, dass die wirtschaftlichen Interessen des Landes um jeden Preis geschützt werden müssen, auch wenn dabei die Demonstrationsfreiheit hopsgehen sollte.