Nukleare Jahrtausendwende?
Ein Bericht warnt vor möglichen Folgen des Jahr-2000-Problems bei den Nuklearwaffensystemen
Hierzulande ist die Aufregung über die möglichen Folgen des Jahr-2000-Problems nicht allzugroß. In den USA hingegen breitet sich bereits Panik aus und vermischt sich der Computerbug mit apokalyptischen Ängsten vor dem Weltende. Das Problem rührt bekanntlich daher, daß früher für die interne Uhr von Computern und Chips nur zwei Ziffern verwendet wurden, um das Datum darzustellen, was beim Übergang in das Jahr 2000 zu Fehlinterpretationen und dadurch zu Störungen von Programmen führen kann, die Daten benutzen.
Pessimisten glauben, daß möglicherweise die ganze Infrastruktur eines Landes, basierend auf Computersystemen, lahmgelegt werden könnte: Flugzeuge fallen vom Himmel, Wasser- und Stromversorgung werden unterbrochen, elektronische Banksysteme setzen aus und viele Maschinen und Geräte mit eingebetteten Chips funktionieren nicht mehr. Und dann könnten natürlich auch versehentlich Atombomben abgeschossen werden, die die Welt verwüsten. Nuklearwaffen beruhen auf vielen Computersystemen und Millionen von eingebetteten Chips, die genau arbeiten müssen. Besonders weil sie sich stets in Alarmbereitschaft befinden und eine Routine beginnt, wenn der Abschuß einer feindlichen Atombombe registriert wird, die vor dem Einschlag einen Gegenschlag startet, sind Nuklearwaffensysteme besonders gefährdet.
Bis zum Jahr 2000 wird niemand wissen, was wirklich geschehen könnte, wenn nicht alle Systeme überarbeitet wurden. Der Bericht des British American Security Information Council (BASIC), einer Organisation, die sich für Abrüstung und Verbot von Nuklearwaffen einsetzt, nutzt die Gunst der Stunde und warnt besonders vor den Folgen des Jahrtausendproblems für die US-amerikanischen und russischen Nuklearwaffensysteme. Während das Szenario der Optimisten lautet, daß das Jahrtausendproblem höchstens zu einer Verlangsamung der Computersysteme führen werde, geht das Szenario der Pessimisten davon aus, daß eine Nuklearmacht Atombomben aufgrund einer fehlerhaften Warnung abschießen könnte oder daß Atomwaffen aufgrund eines Fehlers explodieren oder gestartet werden, was wiederum zu einem Rückschlag einer anderen Nuklearmacht führen könnte.
Angesichts der komplexen und kaum überschaubaren Vernetzung einer Vielzahl von überdies oft relativ autonomen Systemen könne, so BASIC, niemand mit letzter Sicherheit garantieren, daß alle einzelnen Subsysteme tatsächlich überprüft wurden. Schließlich müsse man dazu bei Computerprogrammen Zeile für Zeile einzeln und alle eingebetteten Mikroprozessoren und Chips überprüfen. Um zu sehen, ob die Probleme wirklich auf allen Ebenen beseitigt wurden, wären Tests bei allen Systemen dringend notwendig, wenn diese weiterhin in Alarmbereitschaft stehen und innerhalb kürzester Zeit - mit einem Zeitfenster zwischen 15 und 30 Minuten nach dem entdeckten Abschuß einer feindlichen Rakete - abschußbereit sein sollen. Es gebe erhebliche Bedenken auch bei den Spezialisten des Verteidigungsministeriums, daß das Programm zur Bereinigung des Jahr-2000-Problems hinreichend gut ausgeführt werde. Das Pentagon habe bereits die Existenz von hochgefährdeten Systemen eingeräumt, die nicht rechtzeitig oder überhaupt nicht repariert werden können. Ein vom Kongreß beauftragter Spezialist habe gar von einem "katastrophalen Mismanagement" gesprochen.
Nicht nur der Übergang vom 31. 12. 99 zum 01. 01. 2000 könne unvorhersehbare Probleme schaffen, sondern auch frühere oder spätere Daten. Selbst wenn ein Subsystem zu hundert Prozent vom Jahr-2000-Fehler bereinigt sei, wäre dies noch keine Gewähr, daß durch die Verbindung mit "infizierten" Systemen nicht wieder fehlerhafte Daten in das System eingeführt werden: "Wegen dieser subtilen, aber heimtückischen internen Systemeffekte hatte Verteidigungsminister John Hamre eingeräumt, daß 'alles so eng miteinander zusammenhängt, daß es sehr schwer ist, genau zu wissen, ob wir es gelöst haben.'"
Computerexperten gehen davon aus, daß zwei bis fünf Prozent aller vorhandenen Chips zu Problemen beim Datumswechsel führen. Das scheint zwar für geringe Sicherheitsrisiken zu sprechen, aber BASIC meint, daß mangelhaftes Funktionieren von eingebetteten Chips auch zu einem teilweisen oder vollständigen Ausfall des Subsystems führen könnte, was wiederum eine teilweise oder vollständige Störung des größeren Systems und dann Störungen aller damit verbundenen externen Systeme produzieren könnte. Überdies wisse man nicht, welche Chips davon betroffen sind, die zudem oft alt sind und über die keine Informationen seitens des Herstellers mehr vorliegen.
Wisse man schon wenig genug über den Zustand der US-amerikanischen Nuklearsysteme, so sei die Lage der russischen noch weit unbekannter, die zudem noch oft mit älteren Computersystemen arbeiten, wobei der schlechte allgemeine Zustand der russischen Waffensysteme und der Zerfall der Armee erschwerend hinzukomme. Ein Bericht des russischen Außenministeriums habe vor kurzem eingeräumt, daß bei den Computersystemen der russischen Armee Störungen möglich seien und daß bei etwa 50000 der insgesamt über 90000 Computer in Rußland sowie bei der Hälfte der 50 Betriebssysteme und 100 Programme, die von der russischen Regierung benutzt werden, zur Jahrtausendwende Probleme auftreten können. Und natürlich könne das Jahr-2000-Problem nicht nur die russischen und US-amerikanischen Waffensysteme betreffen, sondern auch die Atomwaffensysteme von Frankreich, Großbritannien, Indien, Pakistan, Israel oder China.
BASIC schlägt vor, um etwaigen Katastrophen vorzubeugen, zumindest die nuklearen Sprengköpfe von den Geschossen zu entfernen, die Strategie "launch at warning" umzustellen und über die russisch-amerikanische Initiative hinaus, weitere Abrüstungen vorzunehmen und die Ausrichtung der Atomwaffen auf Ziele des jeweils anderen Staates zu verändern, alle Nuklearstaaten in die Sicherheitsvorkehrungen einzubeziehen. Sowohl das amerikanische als auch das russische Verteidigungsministerium haben allerdings bestritten, daß das Jahr-2000-Problem zu Gefährdungen führen könne. Im September hieß es vom US-amerikanischen Veretidigungsministerium, daß bereits (oder erst?) 42 Prozent der wichtigsten Computersysteme fehlerfrei gemacht worden seien ...
Aaron Lynch: Die Millenium-Epidemie.