Nukleare Zeitenwende mit "Zaungästen" aus dem Süden

Dass der Globale Süden einfach in keine Eskalationsspirale hineingezogen will, findet MSC-Chef Chrstoph Heusgen bedauerlich. Symbolbild: WikiImages auf Pixabay (Public Domain)

Der Globale Süden steht in der Konfrontation mit Russland zu weit abseits, wird im Munich Security Report beklagt. Gelobt wird der ukrainische Siegeswille. Nukleare Teilhabe erscheint als Bedingung für Nato-Beitritte.

Der Munich Security Report 2023 ist am Montag auf Englisch erschienen – mehrfach findet sich darin aber das deutsche Wort "Zeitenwende". Schon im Vorwort von Christoph Heusgen, dem Leiter der bevorstehenden Münchner Sicherheitskonferenz (MSC), taucht es dreimal kursiv hervorgehoben auf.

Stolz verweist Heusgen darauf, dass "Zeitenwende" auch schon der Titel einer Sonderausgabe des Sicherheitsreports im Oktober 2020 gewesen sei – lange bevor Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) Ende Februar 2022 wenige Tage nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine eine Zeitenwende verkündete, hatten hier die Veranstalter der Münchner Sicherheitskonferenz ein robusteres Vorgehen in der deutschen Außenpolitik gefordert.

In der aktuellen Ausgabe zeigt sich Heusgen enttäuscht über das Desinteresse im Globalen Südens an Sanktionen gegen Russland und Waffenhilfe für die Ukraine. Er spricht von "Ressentiments" in Ländern Afrikas, Lateinamerikas und Asiens "gegenüber der internationalen Ordnung", die – wie er zugibt – "ihren Interessen nicht immer gedient" habe.

"Wir" – damit dürfte der ehemalige Spitzendiplomat vor allem westliche Nato-Staaten und deren Verbündete meinen – müssten darum kämpfen, "die Zaungäste als Verbündete bei der Verteidigung wichtiger Regeln und Prinzipien zu gewinnen".

Die Türkei als "das 'nicht freie' Land in der Gruppe 'Westeuropa und andere'"

An anderer Stelle wird aber zumindest indirekt eingeräumt, dass die Nato eben doch keine Wertegemeinschaft im demokratischen Sinn ist. Der Nato-Mitgliedsstaat Türkei wird auf Seite 159 im Kapitel über Menschenrechte als "das 'nicht freie' Land in der Gruppe 'Westeuropa und andere'" bezeichnet.

Dass nun ausgerechnet die Türkei mit ihrem Veto die Nato-Beitritte von Schweden und Finnland blockiert, dürfte auch auf der Sicherheitskonferenz mit rund 40 Staats- und Regierungschefs am kommenden Wochenende in München zur Sprache kommen.

Aus der Sicht der islamisch-nationalistischen Regierung in Ankara besteht das Haupthindernis in der aus ihrer Sicht zu liberalen Politik der skandinavischen Länder gegenüber kurdischen Linken im Exil. Zugeständnisse haben sie schon gemacht – etwa durch Auslieferung kurdischer Aktivisten aus Schweden an die Türkei.

Nato-Norderweiterung nur mit nuklearer Teilhabe?

Möglicherweise werden sich Schweden und Finnland auch in anderer Hinsicht noch weiter verbiegen müssen: Im Munich Security Report wird nahegelegt, dass ein Nato-Beitritt den Beitritt zum Atomwaffenverbotsvertrag (TPNW) der Vereinten Nationen ausschließt. Schweden und Finnland haben zur Zeit einen Beobachterstatus im Kreis der Vertragsstaaten.

"Die Anträge Finnlands und Schwedens auf Nato-Beitritt haben wahrscheinlich alle Hoffnungen auf einen tatsächlichen Beitritt dieser Staaten, beide TPNW-Beobachter, zunichtegemacht", heißt es in dem Report auf Seite 123. Ganz so selbstverständlich ist das nicht, denn bisher gibt es keine allgemeine Regel für die Mitgliedstaaten, die nukleare Teilhabe zur zwingenden Voraussetzung für den Nato-Beitritt macht.

Diesbezüglich Druck auf Schweden und Finnland zu machen, haben westliche Staaten bisher zumindest öffentlich vermieden. Vielmehr scheint ihr Interesse an einem möglichst schnellen Beitritt beider Länder groß zu sein.

Denkwürdige Umfrage in der Ukraine

Die Angst vor einem Atomkrieg oder dem Einsatz taktischer Atomwaffen scheint – wenn man den Erhebungen der MSC glaubt – in der Ukraine selbst nicht übermäßig groß zu sein.

Bereits vor der Veröffentlichung des Reports hatte der Tagesspiegel über eine Umfrage in der Ukraine berichtet, die von den Veranstaltern der Münchner Sicherheitskonferenz bei der Kommunikationsagentur Kekst CNC in Auftrag gegeben worden war. Durchgeführt wurde sie demnach "mit lokalen Partnern" über mehrere Wochen im November 2022.

Die Befragten wurden dabei mit mehreren hypothetischen Szenarien konfrontiert. Laut Umfrageergebnis wäre ein russischer Einsatz taktischer Atomwaffen für die überwältigende Mehrheit kein Grund, den Kampf gegen die Invasionstruppen einzustellen.

89 Prozent der Befragten gaben an, selbst im Fall eines nuklearen Angriffs auf eine ukrainische Stadt weiterkämpfen zu wollen. Heusgen lobt im Vorwort des Reports überschwänglich die Haltung der Ukrainer.

Die "Doomsday Clock", eine von Atomwissenschaftlern erstellte symbolische Weltuntergangsuhr" wurde im Januar dieses Jahres auf 90 Sekunden vor Mitternacht gestellt. Demnach ist die Lage so gefährlich wie nie zuvor.