Odyssee im Wildraum

Seite 2: Ein Film, der sich festsetzt wie eine Zecke

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Aber wie! Schon vorher war alles ungemein dreckig, schlammig, schmierig, nass, kalt. Jetzt ist es zum Erbarmen. Wenn Hugh nicht zufällig ein Stück Holz umkrallt, mit dem er sich in einem eisigen Fluss treiben lässt, Wasserfälle hinunter stürzt, an Felsen entlang kratzt, abends versucht Feuer zu machen und zu trocknen, dann frisst er Rinde und Gras, Beeren und kaut auf Holz.

Vielleicht hat er Glück, fängt einen rohen Fisch. Er frisst und kotzt. Einmal isst er das Aas eines toten Bisons, einmal weidet er ein totes Pferd aus, hüllt seinen nackten Körper in dessen wärmendem, noch dampfenden Kadaver. Einmal trifft er gute Indianer, einmal böse. Ein bisschen denkt man, das hier auch alles thematisch so abgehakt wird. Dazwischen ein paar Terrence-Malick-hafte Bilder von Ameisen und anderem Geziefer in Großaufnahmen.

Bild: Twentieth Century Fox

"Ist" so der Mensch? Ja, klar. Nein, natürlich nicht. Aber er will sich heute gern so sehen. Warum? "On est tous des sauvages", sagt hier ein Indianer - die Indianer reden in Ex-Louisiana natürlich gutes Schulfranzösisch - der Mensch als Tier. Das gefällt dem Mensch im 21.Jahrhundert, denn es erleichtert von den Bürden im Angesicht von ISIS und Konsorten.

"The Revenant" ist ein monologischer Film. Vor allem ist er ein oft visuell schwer erträglicher, unangenehm anzusehender, ekeliger Film, ist ein beklemmender Film, ein Film, den man nicht gern sieht, und egal, was jetzt alle wieder schreiben werden, dass man es vor Anspannung in den Sitzen kaum noch aushalte, und wie toll Di Caprio spiele und so weiter, das stimmt alles noch nicht mal halb. Aber es ist ein Film, den man nicht vergisst. Es ist ein Film, der sich in einem festsetzt wie eine Zecke.

Monologisch bleibt "The Revenant" auch weiterhin schon deshalb, weil der Film über weite Strecken nur von einem einzigen Menschen, seiner Hauptfigur Hugh eben, handelt, einem schwerverwundeten, auch sonst mehrfach schwerst traumatisierten Mann, der einsam hunderte von Meilen durchs winterliche Gehölz stapft oder sich auf behelfsmäßigen Flößen über eisige Flüsse treiben lässt, auf der Flucht vor einer Indianerhorde, die ihn töten will, selbst auf der Fährte eines Mannes, der seinen Sohn ermordet hat und den er töten will:

All I had was my boy, and he took him from me, you understand. He is afraid. He knows how far I came to find him. I am not afraid of dying any more. I have done it already.

Dialogauszug

Dies ist also eine Rache-Geschichte. Einmal mehr erzählt der Mexikaner Alejandro González Iñárritu aber vor allem eine Blutsudelgeschichte. Wie "Amores Perros", wie "21 Gramms" eine Story von Blut, Schweiß und Tränen, bei der diese Körperflüssigkeiten auch gehörig ausgestellt werden. Einmal mehr nimmt sich Iñárritu auch viel zu wichtig, hält sich für Gott oder nimmt jedenfalls dessen Posen ein. Nichts von der Leichtigkeit und dem Charme, den "Birdman" hatte.

Bild: Twentieth Century Fox

Einmal mehr ist dies auch ein schwer erträglicher, zugleich fesselnder Iñárritu-Film. Dies ist ein unangenehmer Film, den man nicht gern sieht, dem man sich aber zugleich nicht entziehen kann. Eine Hässlichkeitsfeier und in der Echtheitsbehauptung die aller Kinohässlichkeit zugrunde liegt, auch einfach Blufferkino, wie es Iñárritu leider öfters macht.

Iñárritu gelingt ein symphonisches, dabei aber visuell reduziertes Werk. Die Enge des winterlichen Waldes, die vielen hässlichen Dinge, die man sieht, werden gebrochen und damit zugleich gesteigert, indem es immer wieder grandiose prächtige Naturpanoramen zu bestaunen gibt.

Sehnsucht nach einfachen Wahrheiten

Das tiefere Thema von "The Revenant" ist hintergründig sehr aktuell: Es gibt um einen Überlebenskampf. Es geht darum, warum Menschen zu töten bereit sind, und wofür sie das Sterben riskieren. Es geht um die Frage, was eigentlich bleibt, wenn die Zivilisation auseinanderfällt?

Iñárritus Antwort scheint klar: Rache, Hass, und Gewalt, Furcht und Eigennutz. Der Film zeigt eine sinnlose Welt, eine Welt als barbarisches Inferno aus Dreck und Amoral, menschenfeindlicher Natur und Menschen, die einander selbst zum wilden Tier werden. Warum sieht man sich das an?

Bild: Twentieth Century Fox

Der Film macht sich wichtig damit, die primitiven Wurzeln der Amerikaner zu zeigen und ein "kritischer Western" zu sein. Das kann man so sehen. Es stimmt zwar, dass sich Iñárritu mit seiner Geschichte auf das Terrain großer Klassiker begibt: Irgendwo zwischen John Fords "The Searchers" und "Der Mann den sie Pferd nannten", zwischen "Spiel mir das Lied vom Tod" und "Little Big Man" liegt auch dieser Film. Und Western, das war schon immer und gerade auch in diesen Spätwestern die Sehnsucht nach Vorgestern, nach den Wonnen der Einfachheit, des Barbarischen, der klaren Regeln und einfachen Gefühle. Western ist Reduktion von Komplexität.

Gut möglich also, dass "The Revenant", der von der Rückkehr zu solchen einfachen Wahrheiten handelt, von der Sehnsucht nach dem Archaischem, nach Primitivität, nach der Natur und dem Sieg der Natur über die Zivilisation, vor allem ein Indiz dafür ist, dass unsere Epoche in ihrem Unterbewusstsein diese Sehnsucht teilt.

Gewalt & Sadismus

"The Revenant" ist viel zu lang. "The Revenant" ist trotzdem spannend und sehenswert und immerhin nervig in der Art, wie er sich in uns festsetzt. Aber er ist kein guter Film. Es ist ganz bestimmt gelegentlich arg kitschig, öfter versteckt männerkitschig und sehr oft klischeetriefend. Er ist enervierend wichtigtuerisch.

Bild: Twentieth Century Fox

Der Film bildet sich viel zu viel auf sich, auf seine Wucht, seine manipulative Kraft und die Erhabenheit vieler Bilder und der Geschichte ein. Da hätte Iñárritu, der kein Gott ist, sondern ein talentierter Regisseur, der sich regelmäßig überschätzt, von Malick lernen können, der tatsächlich ein Kinogott ist, also einer, der mit Welles und Kubrick und Godard und Truffaut in einer Liga spielt. Und alle, die Iñárritu jetzt loben, und Malick gern verreißen, sollten mal besser richtig hingucken.

"Revenge is in the creators hands", hören wir. Trotzdem folgt ein Showdown mit Essential Killing: Ächzen, Stöhnen, Röcheln, Beil gegen Messer, das Messer landet dann im Kopf, das Beil im Rücken, gute Taten werden am Ende vergolten, lernen wir, Blut tropft im Schnee.

Man kann das existentiell nennen oder Exploitation. Allemal tobt sich in diesem Film eine gar nicht so heimliche Liebe zur Gewalt aus und ein Sadismus, dessen billigende Zeugen wir werden.