Österreich: Israelitische Kultusgemeinde vor dem Aus

Erstmals im Europa nach 1945 ist die Existenz einer jüdischen Gemeinde bedroht

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Wie Ariel Muzicant, Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG), gestern in Wien mitteilte, beginnt man mit der "Liquidation ihrer Infrastruktur". 35 Mitarbeiter wurden zur Kündigung angemeldet.

Die Jüdische Gemeinde hatte seit geraumer Zeit mit Finanzproblemen zu kämpfen. Muzicant begründet diese u.a. mit erhöhten Sicherheitsausgaben nach Anschlägen auf jüdische Einrichtungen in den Jahren 1979/81 und 1985 (Schwechat). Verhandlungen über zusätzliche Finanzmittel mit der zuständigen Ministerin, Elisabeth Gehrer von der konservativen ÖVP, sind bis jetzt gescheitert. Die Ministerin will lediglich einzelne Projekte finanzieren.

Für Aufregung sorgte eine kolportierte Aussage von Bundeskanzler Wolfgang Schüssel (ÖVP). Dieser soll gegenüber Stuart Eizenstat, der ihn auf die Notwendigkeit einer Lösung der Probleme der IKG hinwies, den Vorschlag , die auf Grund des hohen Sicherheitsbedarfes der IKG entstehenden Kosten zu übernehmen, mit der Äußerung quittiert haben, die Regierung würde nicht bereit sein, "Mossad-Agenten zu suventionieren".

Das derzeitige Jahresbudget der Kultusgemeinde beträgt 11,2 Mio. Euro im Jahr. 20 Prozent davon werden für die nötigen Sicherheitsmaßnahmen benötigt. Von der Regierung will die IKG zusätzliche finanzielle Zuschüsse von 2,7 Mio. Euro.

Sollte bis Ende Juni keine Lösung gefunden werden, so müssen "jüdische Gottesdienste eingeschränkt, der Religionsunterricht eingestellt, jüdische Unterrichtsstätten geschlossen, das kulturelle und soziale jüdische Gemeindeleben reduziert" werden, betont Muzicant. IKG-Generalsekretär Avshalom Hodik erinnerte an die "historische Verantwortung" Österreichs.

Insgesamt bekannten sich 8140 in Österreich lebende Menschen bei der letzten Volkszählung zum Judentum. 7300 Personen sind Mitglieder der fünf österreichischen Kultusgemeinden, davon sind 7000 Personen Mitglieder IKG Wien. Die Kultusgemeinde unterhält mehrere Synagogen, jüdische Schulen und zahlreiche Vereine. Zudem werden 79 jüdische Friedhöfe betreut.

"Vom jüdischen Gemeindevermögen, das von den Nazis zerstört bzw. arisiert wurde, hat die Kultusgemeinde lediglich unbebaute Grundstücke zurückerhalten, sowie Entschädigungszahlungen per insgesamt 53 Mio. ATS. Die Kultusgemeinde bemüht sich seit 1945 vergeblich um eine gerechte Lösung, die die Individualrestitution in keiner Weise schmälert", heißt es in einer Aussendung der Kultusgemeinde. In Österreich wurde erst in den letzten Jahren eine Historikerkommission zur Aufarbeitung der Nazi-Enteignungen eingesetzt. Erst 2001 wurde ein Entschädigungspaket geschnürt, um von den Nationalsozialisten verursachten Vermögensentzug abzugelten.

Wie die Massenproteste gegen den Rechtspopulisten Jörg Haider im Jahr 2000 (Regierungsbildung ÖVP-FPÖ) gezeigt haben, gibt es in der Bevölkerung auch eine starke Bewegung gegen rassistische und neonazistische Tendenzen. Allerdings ist der Antisemitismus offensichtlich nicht gänzlich verschwunden. So musste der österreichische Standard das Forum für Lesermeinungen zu der Muzicant-Mitteilung über die Probleme der IKG schließen. O-Ton der Redaktion : "Aufgrund der großen Anzahl an antisemitischen Postings sieht sich derStandard.at/Politik gezwungen, zu diesem Artikel ausnahmsweise keine Postings zuzulassen."

Wie es mit der IKG weiter geht, ist offen. Terzija Stoisits, Minderheitensprecherin der Grünen, hofft, dass "der Republik Österreich der Fortbestand der jüdischen Gemeinde so wichtig genug sein wird", um benötigte Geldmittel in dem bevorstehenden Budgetabschluss zu berücksichtigen. "Es kann doch nicht sein, dass im Österreich des 21. Jahrhunderts jüdische Einrichtungen geschlossen werden müssen", so Stoists gegenüber Telepolis. "Das ist keine Frage des Geldes sondern eine Frage des politischen Willens."